In allen europäischen Hauptstädten hat die spanische Parlamentswahl, die im Schatten der verheerenden Bombenattentate in Madrid stattfand, heftige Reaktionen ausgelöst. Die Wahlniederlage der konservativen Aznar-Regierung erschütterte nicht nur die Regierungen in London, Rom und Warschau, die einen wichtigen Verbündeten in der Achse der Kriegswilligen verloren. Auch in Paris und Berlin - die dem Irakkrieg kritisch gegenüberstanden - löste das Wahlergebnis einen Schock aus.
Es war etwas passiert, was die offiziellen Parteien aller Couleur zutiefst beunruhigt. Die spanische Bevölkerung hatte den Stimmzettel benutzt, um den Wahlmanipulationen der herrschenden Elite einen Strich durch die Rechnung zu machen. Bisher betrachteten es Politiker und Parteienforscher als selbstverständlich, dass ein massiver Terroranschlag, ähnlich wie ein militärischer Angriff einer feindlichen Macht, die große Mehrheit der Bevölkerung um nationale Symbole vereint, innere Gegensätze zumindest vorübergehend hintanstellt und damit die konservativen, staatstragenden Kräfte stärkt.
Auf dieser Grundlage wurden Terroranschläge bisher von vielen Regierungen genutzt, um Angst und nationalistische Stimmungen zu schüren, während gleichzeitig demokratische Rechte eingeschränkt wurden.
Die Sharon-Regierung in Israel könnte sich keinen Tag lang an der Macht halten, ohne durch ihren Staatsterrorismus immer neue Selbstmordanschläge zu provozieren. Die brutale Ermordung von Scheich Jassin hat das vor wenigen Tagen erneut vor Augen geführt. Die Bush-Administration nutzte die Terroranschläge vom 11. September 2001, um ihren illegalen Krieg gegen den Irak zu legitimieren. Wladimir Putin kam vor vier Jahren an die Macht, nachdem Bombenanschläge auf Moskauer Wohnungen über 300 Tote gefordert und die Bevölkerung in Angst und Schrecken versetzt hatten. Zwei Journalisten, die sich bemühten, die Hintergründe aufzudecken, kamen seitdem auf mysteriöse Weise ums Leben.
Auch die Aznar-Regierung versuchte sofort, die Anschläge in Madrid zu ihren Gunsten auszuschlachten. Der Regierungschef griff persönlich zum Telefon, um Journalisten anzuweisen, die baskische ETA als Verantwortliche anzuprangern. Doch dann machten die Spanier mit dem Stimmzettel deutlich, dass die Bevölkerung nicht endlos manipulierbar ist, wie viele politische Zyniker behaupten. Selbst unter den Bedingungen von Schock und Trauer reagierte die große Mehrheit politisch und machte den Kriegskurs der Regierung für die Terroranschläge verantwortlich.
In der Spanienwahl wurde in Ansätzen etwas sichtbar, was in der kommenden politischen Entwicklung immer wichtiger werden wird: das politisch unabhängige und selbstständige Handeln der Bevölkerung.
Genau das hat alle Regierungen aufgeschreckt.
Und so kam es, dass unmittelbar nach der Wahl eine intensive Medienkampagne begann, um die Ereignisse umzudeuten. Besonders in Deutschland, wo seit jeher jede selbstständige politische Bewegung von unten mit großem Argwohn verfolgt wird, schlugen die Medienwellen hoch. Kommentatoren aller Art, die bisher nicht selten über die amerikanischen Medien und ihre Regierungshörigkeit die Nase rümpften, machten deutlich, dass sie - wenn es darauf ankommt - ihren US-Kollegen in nichts nachstehen.
An die Spitze der Kampagne stellte sich das Blatt, das sich gern als Flaggschiff der deutschen Medien bezeichnet: Die Zeit. Unter der Überschrift: "Die Offensive des Islamo-Faschismus - Appeasement ist keine Antwort. Die Spanier ziehen die falsche Lehre aus den Anschlägen von Madrid" veröffentlicht Josef Joffe einen regelrechten Hetzartikel gegen die spanischen Wähler.
Nun weiß man von Joffe, dass er in allen Fragen sehr einseitig amerikanische und israelische Standpunkte unterstützt, und dass seine Leidenschaft zu provozieren nicht von jedem in der Zeit -Redaktion unterstützt wird. Doch immerhin ist er - neben Altkanzler Helmut Schmidt (SPD) - einer der Herausgeber des Blattes.
Nach dem Motto: "Die größte Lüge in den ersten Satz!" beginnt Joffe mit der Behauptung: "In Spanien hat der Terror zum ersten Mal eine Wahl gewonnen," und macht damit die Mehrheit der spanischen Wähler zu Komplizen der Terroristen. Dann folgt folgende Einschätzung: "Bislang hat sich jede westliche Demokratie im Angesicht des Terrors um ihre Führung geschart - ob in England, Amerika, Italien oder Israel. Nicht aber in Spanien, weshalb sich der internationale Terrorismus doppelt freuen darf: Er hat nicht nur einen Pfeiler der Anti-Terror-Allianz gesprengt, sondern auch einen psychologischen Traumsieg errungen, indem er dem Appeasement eine mächtige Bresche schlug. Dieser Triumph wird den Terror nicht besänftigen, sondern weitere Anschläge geradezu erzwingen."
Wie viele Dummheiten passen in einen Satz? Hätten die Spanier mehrheitlich für die konservative Volkspartei von Aznar gestimmt, dann hätte sich laut Joffe "die Demokratie" - soll wohl heißen "die Bevölkerung" - um "ihre Führung geschart". Weshalb? Im vergangenen Jahr haben mehrmals Hunderttausende, teilweise sogar mehrere Millionen Spanier gegen die Kriegspolitik und die Sozialkürzungen diese Regierung demonstriert. Von Führung im Sinne von Interessensvertretung kann überhaupt keine Rede sein. Hätte es eine ernsthafte Alternative zu Aznar und seiner Partido Popular gegeben, wäre diese Regierung schon sehr viel früher abgewählt worden.
Dabei ist die Wahl der PSOE alles andere als ein Vertrauensbeweis für die Sozialisten. Viele Spanier standen bis zuletzt der sozialdemokratischen Partei ablehnend gegenüber. Sie haben die Rolle der Gonzales-Regierung und ihre endlosen Korruptionsaffären, die Aznar schließlich an die Macht verhalfen, nicht vergessen, von der Rolle aller anderen sozialdemokratischen Regierungen in Europa ganz zu schweigen. Im österreichischen Kärnten beschlossen die Sozialdemokraten am selben Tag, mit der rechtsradikalen Partei Jörg Haiders eine Regierungskoalition zu bilden.
Die Spanienwahl war ein Plebiszit gegen eine verhasste Regierung, welches in Ermangelung einer ernsthaften Interessensvertretung der Bevölkerung die Form von Stimmengewinnen für die PSOE angenommen hat.
Die zweite Dummheit von Joffe lautet: "Der internationale Terrorismus" sei durch die Wahlentscheidung gestärkt worden. Er habe nicht nur die "Anti-Terror-Allianz gesprengt", sondern auch "dem Appeasement eine mächtige Bresche" geschlagen. Joffe übernimmt hier Wort für Wort die Demagogie der Bush-Regierung, die den Irakkrieg und die völlig illegale Besetzung und Ausplünderung der Rohstoffe des Landes mit dem "Kampf gegen Terror" rechtfertigt.
Doch die Quelle des Terrors liegt in der reaktionären US-Politik, die sich das Recht herausnimmt, jedes Land zu bombardieren und zu terrorisieren, wenn es ihren geostrategischen oder energiepolitischen Zielen und Interessen entspricht. Selbst in den finstersten Jahren der Herrschaft von Saddam Hussein ging es der irakischen Bevölkerung nicht so schlecht, wie nach einem Jahr Krieg und US-Besatzung.
Die Bedeutung der spanischen Wahlenscheidung besteht gerade darin, dass ein Großteil der Bevölkerung erkannt hat, dass die wahren Verantwortlichen für das brutale Attentat in Madrid im Pentagon und im Weißen Haus sitzen und von den feigen Handlangern in London, Rom, Warschau und Madrid unterstützt werden. Darüber hinaus zeigt das Wahlergebnis, dass die europäische Bevölkerung sehr wohl in der Lage ist, der US-Kriegspolitik entgegenzutreten und der amerikanischen Arbeiterklasse im Kampf gegen die Bush-Regierung die Hand zu reichen.
Joffe merkt, dass seine abgedroschene Kriegspropaganda an Boden verliert, und schiebt noch ein Argument nach. Er behauptet: "Den Europäern fällt es schwer, in den Spiegel des Islamo-Faschismus zu blicken und darin die Fratze der eigenen Geschichte auszumachen." Aber auch dieses Argument steht völlig auf dem Kopf. Gerade weil die europäische Bevölkerung in mehreren Ländern - auch in Spanien - faschistische Diktaturen und Krieg am eigenen Leib erlebt hat, steht sie der Bush-Regierung und ihrer aggressiven Kriegspolitik ablehnend gegenüber.
Ein Präsident der nicht gewählt wurde, sondern die Macht mit Hilfe des Obersten Gerichts an sich riss, der die Anschläge im September 2001 als willkommenen Vorwand für lang vorbereitete Kriegspläne nutzte, der sich rücksichtslos über alle internationalen Gremien und das Völkerrecht hinwegsetzte, um einen illegalen Angriffskrieg zu führen, der Gefangene wie Tiere in Käfige einsperrt und ihnen die elementaren Menschenrechte verweigert, der im eigenen Land grundlegende Bürgerrechte abschafft und autoritäre Herrschaftsstrukturen aufbaut - all das ist in Europa aus der Zeit von Mussolini, Hitler und Franco wohl bekannt.
Dazu kommt, dass mehrere amerikanische Regierungen und insbesondere die Bush-Familie über lange Zeit gute und enge Beziehungen zu Bin Laden unterhielten und seine islamistische Verschwörerorganisation anfangs massiv unterstützten. So lange sich die Terroranschläge gegen die Sowjetunion in Afghanistan und anderswo richteten, wurden sie von den USA ermutigt, vom CIA logistisch unterstützt, mit modernen Waffen ausgerüstet und finanziert.
Im übrigen wäre es ratsam, wenn Josef Joffe bei der Auswahl seiner Verteidiger von Demokratie und Freiheit etwas sorgfältiger vorginge. José-Marie Aznar, dessen Vater Finanzbeamter unter Franco war, vereinigt in seiner Partido Popular nicht wenige ehemalige Mitglieder und Kader des alten faschistischen Regimes. Und Berlusconi, der im benachbarten Italien die Fahne des amerikanischen Präsidenten hochhält, verkörpert das kriminellste Element der europäischen Politik und koaliert mit den gewendeten Faschisten der Nationalen Allianz.