Das Scheitern des Brüsseler Gipfels vom 13. Dezember, auf dem sich die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union nicht über eine EU-Verfassung einigen konnten, beschwört die Gefahr eines Auseinanderbrechens Europas herauf.
Die Verfassung sollte die EU als einheitliche ökonomische und politische Kraft konsolidieren, ehe sie im Mai von 15 auf 25 Mitgliedstaaten ausgeweitet wird. Doch die Gespräche scheiterten an der Frage des Stimmengewichts, über das die einzelnen Länder verfügen.
Frankreich und Deutschland bestanden auf einem System der "doppelten Mehrheit", das Ländern mit größerer Bevölkerung mehr Einfluss einräumt. Polen und Spanien wollten das heutige System beibehalten, nach dem jedes Land annähernd das selbe Gewicht hat.
Nach dem im Jahr 2000 in Nizza beschlossenen und bis 2009 gültigen Vertrag verfügen Polen und Spanien innerhalb der erweiterten EU bei Abstimmungen, die mit einer qualifizierten Mehrheit entschieden werden, über jeweils 27 Stimmen und damit nur zwei weniger als Deutschland, Frankreich, England und Italien mit jeweils 29 Stimmen. Deutschlands Argument dagegen lautet, es könne so trotz seiner Bevölkerung von 80 Millionen leicht durch die 54 Stimmen von Polen und Spanien überstimmt werden, die zusammengenommen ebenfalls über eine Bevölkerung von 80 Millionen verfügen.
Italiens Silvio Berlusconi präsentierte in seiner Rolle als turnusmäßiger EU-Präsident vier alternative Vorschläge um aus der Sackgasse herauszukommen, aber ohne Erfolg.
Das Argument der Bevölkerungsstärke und des Stimmengewichts ist nicht der eigentliche Grund für die Konflikte, die zum Scheitern der Gespräche führten. Deutschland und Frankreich benutzen die Frage, um eine Verfassungsordnung durchzusetzen, die ihnen in einer erweiterten EU die Vormachtstellung sichert, die ihrer wirtschaftlichen Stärke entspricht.
Außerdem sorgen sie sich, die Aufnahme neuer Mitgliedsländer könnte zur politischen Lähmung der EU führen, wenn es um Fragen wie die Reform der gemeinsamen Agrarpolitik, die Festlegung von Haushaltskürzungen und die gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik geht. Aus diesem Grund hat der Konvent von 105 Delegierten unter dem ehemaligen französischen Präsidenten Valéry Giscard D'Estaing in seinem Verfassungsentwurf das System der "doppelten Mehrheit" vorgeschlagen, dem zufolge eine Abstimmung als angenommen gilt, wenn sie die Unterstützung der Hälfte der EU-Staaten hat, die mindestens 60 Prozent der Bevölkerung repräsentieren.
Der britische Premierminister Tony Blair nahm eine eher zweideutige Haltung ein. Als er im Juni das Parlament über den Verfassungsentwurf informierte, trat er für eine Ausweitung der Abstimmungen mit qualifizierter Mehrheit (QMV) ein und erklärte: "Wenn wir Wirtschaftsreformen durchzusetzen, Märkte liberalisieren und staatliche Subventionen abbauen wollen, dann ist es in einem Europa der 25 für die nationalen britischen Interessen wichtig, einen QMV-Modus zu haben, wenn es um Fragen wie den Handel mit Dienstleistungen und die gegenseitige Anerkennung von Qualifikationen geht."
Aber Blair machte auch klar, dass er entschlossen ist, eine Konsolidierung der deutsch-französischen Hegemonie in der EU zu verhindern, und den Beitritt osteuropäischer Staaten wie Polen insofern begrüßt, als er damit Bundesgenossen für die Durchsetzung seiner eigenen Ziele gewinnt. Er sagte dem Parlament: "Diese neuen Nationen, die der EU beitreten, teilen in vieler Hinsicht die britische Perspektive. Sie sind sehr für die Transatlantische Allianz.... Es ist deshalb keine Überraschung, dass der Konvent einen Europäischen Superbundesstaat so ausdrücklich ausschloss."
Folgerichtig spielte Blair in Brüssel ein Doppelspiel, als er sich mit Polen und Spanien zwar nicht offen verbündete, aber darauf bestand, ihre Ansichten zu respektieren. Er und Außenminister Jack Straw vertraten die Position, die Entscheidung entweder auf 2009 zu verschieben, oder keine Entscheidung zu treffen; das sei jedenfalls besser als eine falsche.
Die Pläne zur Verabschiedung des Verfassungsentwurfs scheiterten, weil die nationalen Interessen der europäischen Mächte, die durch das Dokument eigentlich zu einem wirtschaftlichen und politischen Ganzen zusammengeschweißt werden sollten, sich so stark widersprechen. Es gibt historische Gründe für das offene Ausbrechen solcher nationaler Antagonismen in Europa. Die EU wurde von Anfang an von Deutschland als der unangefochtenen Wirtschaftsmacht auf dem Kontinent angeführt, dessen wichtigster politischer Partner Frankreich ist. So kommt Berlin zum Beispiel für ein Viertel des EU-Gesamtbudgets auf.
Unter den schwächeren europäischen Staaten wie Polen gab es immer Ängste vor einer deutschen Vorherrschaft in der EU. Die gleichen Befürchtungen haben auch die Haltung der britischen Bourgeoisie zum EU-Projekt bestimmt. Seit ihrem Eintritt in den Gemeinsamen Markt in den 1970er Jahren ist die Politik Londons, das mit Washington verbündet ist, von Opposition gegen die "deutsch-französische Achse" geprägt. Schließlich hat die Bush-Administration die Dinge auf die Spitze getrieben, als sie die globalen Interessen des US-Imperialismus immer aggressiver vertrat und dem Projekt einer europäischen Einigung, das sie früher unterstützt hatte, mit wachsender Feindschaft begegnete.
Ziel und Bestimmung der Verfassung
Der 250 Seiten starke EU-Verfassungsentwurf mit seinen 465 Paragraphen und schon 70 Seiten Änderungsanträgen enthält eine Menge Phrasen über demokratische und Menschenrechte. Aber sein wahrer Inhalt ist durch das Interesse der europäischen Großmächte bestimmt, sich als wirtschaftlicher, politischer und militärischer Rivale gegenüber Washington zu profilieren. Deshalb richten sich seine Bestimmungen gegen die sozialen und politischen Interessen der europäischen Arbeiterklasse, die für die räuberischen globalen Ambitionen der europäischen Staaten mit der Zerstörung ihres Lebensstandards und der Eskalation des Militarismus bezahlen müssen.
Der Verfassungsentwurf zielt darauf ab, die Politik der Mitgliedstaaten zu koordinieren und ihre Beziehungen untereinander zu definieren. Die Aufzählung bescheidener Bürgerrechte kommt erst nach einer ausgedehnten Darstellung der Rechte der Staaten, darunter auch die Respektierung "wesentlicher Staatsfunktionen" - d.h. des militärischen und polizeilichen Unterdrückungsapparats, der als Mittel für die "Sicherung der territorialen Integrität des Staates und für die Aufrechterhaltung von Recht und Ordnung und die Wahrung der inneren Sicherheit" definiert wird.
Die Verfassung ist darauf ausgerichtet, die EU im Innern als Freihandelszone zu konsolidieren, in der die Interessen der großen Konzerne sämtliche Aspekte der ökonomischen und sozialen Politik bestimmen. Ihre Grundsatzerklärung verbindet die Begriffe "Freiheit, Sicherheit und Gerechtigkeit" mit der Verpflichtung, "einen Binnenmarkt mit freier und unverzerrter Konkurrenz " zu wahren. Artikel vier führt als "grundlegende Freiheit" den freien Verkehr von "Gütern, Dienstleistungen und Kapital" auf.
Der Entwurf sieht vor, dass die EU "die ausschließliche Kompetenz" über die Geldpolitik in der Eurozone erhält und die Wirtschafts-, Beschäftigungs- und Sozialpolitik koordiniert. Dies wäre ein Freibrief für umfassende Angriffe auf Sozialleistungen, um so die Steuersenkungen und andere Wirtschafsanreize finanzieren zu können.
Außenpolitisch geht der Verfassungsentwurf davon aus, der EU Vollmachten zu garantieren, die "alle Bereiche der Außenpolitik und alle Fragen der Sicherheit der Union betreffen, darunter auch immer mehr den Rahmen einer gemeinsamen Verteidigungspolitik, die zu einer gemeinsamen Verteidigung führen könnte."
Allem Bemühen zum Trotz, die Opposition Blairs und selbst Washingtons zu beschwichtigen, ist dies ein klarer Versuch, Europa als eine von den USA und der NATO unabhängige militärische Kraft aufzubauen, die über ihre eigene Kommandostruktur und einen eigenen Außenminister verfügt.
USA mischen sich beim Gipfel ein
Die Bush-Regierung kann eine solche direkte Herausforderung ihrer globalen Vorherrschaft nicht hinnehmen und setzt alles daran, den Bestrebungen Deutschlands und Frankreichs einen Riegel vorzuschieben.
Direkt vor dem Gipfel verkündete die Bush-Regierung provokativ, dass das Pentagon jedem Land, das den illegalen Krieg der USA im Irak nicht mitgetragen hatte, die Beteiligung an den Aufträgen für den Wiederaufbau im Wert von 18,6 Mrd. Dollar verweigern werde. Präsident Bush selbst übernahm es, die Maßnahme zu rechtfertigen, die explizit Bewerber aus Frankreich und Deutschland ausschließt. Der stellvertretende Verteidigungsminister Paul Wolfowitz ging noch weiter und erklärte, die Maßnahme sei notwendig, um "wesentliche Sicherheitsinteressen der Vereinigten Staaten" zu schützen. Damit gab er zu verstehen, dass deutsche oder französische Bewerber die Vertreter feindlicher Mächte seien.
Bush signalisierte seinen Verbündeten in Europa, wie Großbritannien und Polen, dass sie nicht auf beiden Seiten gleichzeitig stehen können - Loyalität zu Washington würde belohnt und Versuche, eine allzu enge Allianz mit den europäischen Mächten einzugehen, würden bestraft werden.
Die anderen Regierungen der EU verstanden die Botschaft. Und die Frage der Aufträge drohte sogar die Diskussionen kurz vor dem Kollaps des Gipfels am 13. Dezember zu beherrschen - einen Tag vor seinem geplanten Ende. Blair machte seinen Standpunkt klar, als er betonte, es sei "Sache der Amerikaner, wie sie ihr eigenes Geld ausgeben".
Selbst die vielgepriesenen Fortschritte der EU - das am 11. Dezember zwischen Großbritannien, Frankreich und Deutschland geschlossene Europäische Verteidigungsabkommen und die Annahme einer "Sicherheitsstrategie" mit einer neuen Klausel zur gegenseitigen Verteidigung - wurden durch das aggressive politische Eingreifen der USA verwässert.
Das Abkommen erlaubt lediglich die Schaffung einer "Planungszelle" im militärischen Hauptquartier in Brüssel, also weitaus weniger als die von Paris und Berlin angestrebte unabhängige Kommandostruktur. Die Zelle soll nur als letzte Möglichkeit genutzt werden, und die EU muss sich zuerst stets um Nutzung der NATO-Einrichtungen bemühen. Als weiteres Zugeständnis an Washington sah sich die EU auch gezwungen, in ihrem militärischen Hauptquartier in Brüssel einen ständigen Verbindungsoffizier der NATO zu akzeptieren. Im Gegenzug wird die EU eine permanente Vertretung im militärischen Hauptquartier der NATO in Mons, Belgien, bekommen.
Ältere und weitaus ehrgeizigere Pläne zur Schaffung einer 25.000 Mann starken Schnellen Eingreiftruppe wurden in Brüssel nicht diskutiert. Stattdessen verkündete der britische Verteidigungsminister Geoff Hoon am selben Tag, an dem Großbritannien das Abkommen mit Deutschland und Frankreich unterzeichnete, britische Pläne zur Aufstellung einer eigenen, hochgerüsteten "Eingreiftruppe". Diese soll sich an der Seite der USA am sogenannten "Krieg gegen den Terror" beteiligen. Die von Hoon erwähnte Technologie kann nur von den USA geliefert werden.
Europa der zwei Geschwindigkeiten
Deutschland und Frankreich haben auf den Schiffbruch ihrer Pläne mit dem Vorschlag einer neuen Strategie reagiert. Schon vor dem Gipfel diskutierten die beiden Mächte die Bildung eines "harten Kerns" oder einer "Pioniergruppe" von Ländern, die die europäische Integration vorantreiben können. Nach dem Gipfel erklärte Kanzler Schröder, dass ein endgültiges Scheitern der Verfassung tatsächlich zu einem "Europa der zwei Geschwindigkeiten" führen könnte, während Frankreichs Präsident Jacques Chirac davon sprach, ein solcher Plan sei "ein Motor, der ein Beispiel setzt.... Das wird Europa erlauben, schneller und besser voranzukommen".
Es ist nicht möglich vorherzusagen, ob ein solches Projekt durchgeführt werden wird oder nicht, oder ob Kompromisse und Drohungen eine derartige förmliche Spaltung verhindern werden. Die Bruchstellen, die in Brüssel zum Vorschein gekommen sind, werden jedoch nicht einfach wieder verschwinden. In gewisser Hinsicht widerspiegeln sie die Teilung zwischen dem, was US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld im Januar "altes" und "neues" Europa genannt hatte. Das "neue" Europa sollte dabei nicht als Sammelbegriff für sämtliche osteuropäischen Staaten verstanden werden, sondern als politischer Begriff, der die Länder definiert, die wie Großbritannien, Spanien und Polen Washington am nächsten stehen.
Deutschland wird zweifellos seine wirtschaftliche Macht einsetzen, um Polen von den anderen Mitgliedern der "Visegrad-Gruppe" wie Ungarn, der Tschechischen Republik und der Slowakei zu isolieren, die signalisiert haben, bei jeder "schnellen" Gruppe mitmachen zu wollen. Und Blair wird sicher nicht wollen, dass sein Bündnis mit Washington zu einem Zusammenbruch der Beziehungen mit Deutschland und Frankreich führt. Unmittelbar nach dem Gipfel unterzeichnete Großbritannien beispielsweise zusammen mit Österreich, Frankreich, Deutschland, den Niederlanden und Schweden einen Brief an Prodi, in dem dazu aufgerufen wird, die durchschnittlichen Ausgaben des nächsten EU-Haushalts auf dem derzeitigen Stand einzufrieren - was neue Mitglieder aus dem Osten besonders hart treffen würde.
Es werden noch die unterschiedlichsten Bündnisse geschlossen werden, um wirtschaftliche Maßnahmen und außenpolitische Initiativen durchzusetzen, mit denen die europäischen Mächte versuchen, ihren Anteil an der militärischen Neuaufteilung der Märkte und Rohstoffe der Welt sicherzustellen. Die strategischen Ziele des deutschen und französischen Imperialismus haben jedoch einen Schlag erlitten. Le Monde beschrieb es als die "zweite Niederlage in weniger als einem Jahr" für ein "isoliertes" Paar, nachdem schon der Versuch, den Irak-Krieg zu verhindern, gescheitert war. Währenddessen mokierte sich Libération über die Unfähigkeit des "französisch-deutschen Motors", irgend eine Initiative in der EU zustande zu bringen. So kündigt sich eine Verschärfung inter-imperialistischer Gegensätze sowohl innerhalb Europas als auch zwischen Europa und Amerika an.