Wie in allen europäischen Ländern steht auch in Deutschland die Rentenversorgung unter Beschuss. Es vergeht kaum eine Woche, in der nicht neue Kürzungsvorschläge präsentiert werden. Die rot-grüne Bundesregierung hat jetzt erneut drastische Einsparmaßnahmen bei den Renten angekündigt.
Dabei hat die Regierung vor allem ihr Versprechen gegenüber der Wirtschaft im Auge, den Rentenbeitragssatz 2004 bei 19,5 Prozent zu stabilisieren und so die Lohnnebenkosten zu senken. Nach Regierungsangaben werden die geplanten Maßnahmen nur eine "kurzfristige Stabilisierung" ermöglichen, was letztlich bedeutet, dass weitere drastische Kürzungen folgen werden.
Zur Unterstützung der Regierungspläne wurde in den vergangenen Monaten eine Medienkampagne inszeniert, die gezielt junge Menschen gegen alte ausspielt ("Die Alten leben auf Kosten der Jungen." usw.). Es wird bewusst ein Bild von Rentnern und Rentnerinnen gezeichnet, die reich und topfit sind - und auf Staatskosten in Saus und Braus leben. Statistische Erhebungen zeigen ein ganz anderes Bild.
Betrachtet man die Rentner, die eine relativ hohe Rente erhalten, so ist deren Anteil verschwindend gering. 2002 erhielten nur 0,6 Prozent der westdeutschen Rentner über 2.000 Euro Rente, bei den ostdeutschen Rentnern waren es sogar nur 0,2 Prozent. Frauen mit einer Rente über 2.000 Euro gibt es nicht. Nur 0,1 Prozent der westdeutschen Rentnerinnen erhielten zwischen 1.800 und 2.000 Euro. In Ostdeutschland gibt es keine einzige Rentnerin mit einer solchen Rente.
Der größte Teil der Rentner lebt unter der Armutsgrenze. Die durchschnittliche Rente in Deutschland beträgt nur 1015 Euro für Männer und 508 Euro für Frauen. Der Geschäftsführer des Zentralverbandes der Sozialversicherten, Rentner und deren Hinterbliebenen, Hans Joachim Friedrich, sagte weitere Rentenkürzungen seien nicht zumutbar, denn "60 Prozent der Rentner bekommen sowieso nur eine Minimalrente".
Die statistischen Angaben verdeutlichen dies: Der größte Teil der Rentner erhielt 2002 nur zwischen 900 und 1.200 Euro an monatlicher Rente. Bei den Rentnerinnen ist das Bild zwischen Ost und West anders als bei den Männern. Da die Beschäftigung von Frauen in der DDR bedeutend höher lag als in der BRD, liegt die durchschnittliche Rente für Frauen dort höher. 48 Prozent der Rentnerinnen erhalten dort 600 bis 900 Euro. Im Westen hingegen beziehen 40 Prozent der Frauen eine Rente, die unter 300 Euro liegt. Von reichen Rentnern kann bei diesen Zahlen keine Rede sein.
Die Krise der Finanzhaushalte im Allgemeinen und der Rentenversicherung im Besonderen hat mehrere soziale und politische Ursachen, die miteinander im Zusammenhang stehen. Die "Ursachen-Analyse" von Seiten der offiziellen Politik und Wissenschaft macht fast ausschließlich die zunehmende Überalterung der Gesellschaft für die Probleme der Rentenversicherung verantwortlich. Sie zielt darauf ab, die Verantwortung der Regierung für die Krise zu verschleiern und die Kosten auf die arbeitende Bevölkerung abzuwälzen.
In Wirklichkeit sind die niedrigen Renten und leeren Rentenkassen die Folgen einer Umverteilungspolitik von unten nach oben, die in den letzten drei Jahrzehnten von konservativen und sozialdemokratischen Regierungen gleichermaßen betrieben wurde. Durch die geringen Reallohnsteigerungen, die einseitige Aneignung des Produktivitätsfortschritts durch die Unternehmen, die anhaltende und ansteigende Massenarbeitslosigkeit und die Zunahme von Niedriglohnjobs wurden die Einnahmen der Rentenkassen stark geschmälert. Mehr noch als die gegenwärtige Wirtschaftskrise haben die umfangreichen Steuergeschenke der rot-grünen Regierung für Unternehmen und vermögende Privatpersonen die Staatseinnahmen gesenkt und die Sozialkassen belastet.
Die nun geplanten kurzfristigen Maßnahmen der rot-grünen Bundesregierung werden die soziale Absicherung weiter aushöhlen und die Verarmung sowohl der Jüngeren als auch der Älteren weiter erhöhen. Im Einzelnen ist Folgendes vorgesehen:
Mitte Oktober will die Regierung beschließen, dass die (jährliche) Rentenerhöhung zum 1. Juli 2004 um ein halbes Jahr verschoben wird. Außerdem soll die sogenannte Schwankungsreserve der Rentenkassen erneut gesenkt werden. Die bereits Anfang dieses Jahres reduzierte Reserve soll von 50 auf nun 30 Prozent einer Monatsausgabe verringert werden - um drei Milliarden Euro. Die Reserve diente dazu, Defizite (z.B. in beitragsschwachen Monaten) auszugleichen und so eine pünktliche Zahlung der Renten zu gewährleisten.
Außerdem kündigte Bundessozialministerin Ulla Schmidt (SPD) an, dass die neuen Rentner ihre Rentenleistungen erst einen Monat später erhalten werden, also am Monatsende anstatt wie bisher am Monatsanfang. Dies kommt einer faktischen Anhebung des Renteneintrittsalters um einen Monat gleich.
Der von der Rürup-Kommission entwickelte Nachhaltigkeitsfaktor, der eine weitere Senkung der Renten zur Folge haben wird, soll nach dem Willen der Ministerin ebenso wie die Anhebung des Renteneintrittalters im nächsten Jahr im Bundestag verabschiedet werden. Letzteres soll von 2011 bis 2035 jährlich um einen Monat von 65 auf 67 Jahre erhöht werden.
Die Kürzungen werden damit jedoch nicht ihr Ende erreicht haben. Bundesfinanzminister Hans Eichel (SPD) will weitere zwei Milliarden Euro bei den Rentenzahlungen zur Senkung der Haushaltsschulden einsparen. In der Diskussion ist eine Erhöhung des 50-prozentigen Anteils der Pflege- und Krankenkassenbeiträge. Bereits mit der Gesundheitsreform wurden die Kassenbeiträge der Rentner erhöht.
Die Arbeitgeberverbände treiben derweil die rot-grüne Regierung weiter vor sich her und fordern immer weitere Kürzungen. Es ist nicht auszuschließen, dass die Vorschläge der Bundesregierung bis zur Verabschiedung im Bundestag noch mehrmals verschärft werden. Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt erklärte die jetzt vorgelegten "hervorragenden Vorschläge" der Bundesregierung für "unverzichtbar", sie gehen ihm aber nicht weit genug.
Da sich auch die Gewerkschaften auf rein verbale Proteste beschränken, fühlen sich die Wirtschaftverbände ermutigt, jetzt alle noch verbliebenen sozialen Errungenschaften der Arbeiterklasse über Bord zu werfen. "Das ist nur die halbe Miete", sagte Hundt und legte gleich Vorschläge für weitere Kürzungen vor.
Umfassende Einsparungen fordert der Arbeitgeberpräsident vor allem bei der Hinterbliebenenversorgung. So sollen Einkünfte, die über einem Freibetrag von 690 Euro im Monat liegen, Hinterbliebenen zu 50 statt wie bisher zu 40 Prozent auf die Rente angerechnet werden.
Auch der Anspruch auf die so genannte "große Witwenrente", deren Höhe 55 Prozent der normalen Altersrente beträgt, soll nach Hundts Vorstellungen eingeschränkt werden. Die "große Witwenrente" wird Hinterbliebenen gewährt, wenn sie älter als 45 Jahre sind oder ein minderjähriges Kind erziehen. In Zukunft soll sie nur noch dann gezahlt werden, wenn der oder die Hinterbliebene "aus sozialpolitisch anzuerkennenden Gründen nicht aus eigener Kraft [ihren] Lebensunterhalt bestreiten" [kann]". Gleichzeitig soll die Altersbezugsgrenze von 45 auf 52 Jahre erhöht und die Kindererziehung nur noch bei unter Zwölfjährigen als Erwerbshindernis gebilligt werden.
Die so genannte "kleine Witwenrente" soll ganz gestrichen werden. Diese wird bisher nach dem Tod des Ehegatten zwei Jahre lang gewährt und beträgt 25 Prozent der normalen Altersrente. Hundt erklärt seinen Vorschlag damit, dass für diese Rente "keine soziale Indikation" vorliege. Als Ersatz schlägt er vor, die Hinterbliebenen könnten "auf den Arbeitsmarkt oder gegebenenfalls auf die Sozialhilfe" verwiesen werden.
Die Kürzungen bei den "Witwenrenten" würden überwiegend Frauen treffen, die keinen eigenen oder nur einen geringen Rentenanspruch haben. Die Folge wäre ein weiteres Anwachsen der Altersarmut.
Hundt fordert außerdem, einen größeren Abschlag für Rentner, die vorzeitig in den Ruhestand treten. Derzeit beträgt dieser 0,3 Prozent pro Monat bei höchstens 60-monatigem bzw. fünfjährigem Vorruhestand. Hundt will ihn auf 0,5 Prozent erhöhen. Im Zusammenhang mit der Erhöhung des Renteneintrittsalters bedeutet dies bei einem vorzeitigen Renteneintritt eine enorme Kürzung der Rente.
Auch die Anrechung von schulischen Ausbildungszeiten, die schon durch frühere Regierungen gekürzt wurden, hat Hundt im Visier: Sie sollen bei der Berechnung der Rentenhöhe gar nicht mehr anerkannt werden. Bisher wurden maximal drei Jahre berücksichtigt.
Die von der CDU eingesetzte Kommission unter Leitung von Altbundespräsident Roman Herzog blies ins gleiche Horn. Ihre vergangene Woche präsentierten Vorschläge sehen ebenfalls vor, das Rentenalter von 65 auf 67 Jahre anzuheben und die Renten drastisch zu kürzen. Neu bei Herzog ist der Vorschlag einer "abschlagsfreien Rente" mit 63. Selbstverständlich hat die Sache einen Haken: die Rente mit 63 ist nur möglich, wenn 45 Beitragsjahre vorgewiesen werden können. Damit erweist sie sich als Illusion. Zum einen müsste man vom 18. bis zum 63. Lebensjahr ununterbrochen einen sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplatz besitzen und Rentenbeiträge zahlen. Zum anderen wird damit suggeriert, das heutige Rentenniveau würde erhalten bleiben.
Aber dem ist nicht so. Selbst wenn ein Rentner oder eine Rentnerin nach den Vorschlägen der Herzog-Kommission keine Abschläge in Kauf nehmen muss, weil er oder sie höchstens zwei Jahre früher in Rente geht, so wird durch andere Kürzungsmaßnahmen das Rentenniveau enorm gesenkt. So u. a. durch einen "erweiterten Demografiefaktor". Allein hierdurch würde die sogenannte "abschlagsfreie Rente" bis 2030 auf 37,3 Prozent des Brutto-Durchschnittseinkommens sinken. Nimmt man alle Kürzungsvorschläge zusammen, so ist der Abschlag bei weitem höher.
So ziehen SPD, Grüne, CDU/CSU, FDP und Arbeitgeberverbände in der Renten- wie in allen anderen sozialen Frage an einem Strang. Die CDU-Vorsitzende Angela Merkel brachte deren Kriegserklärung an die arbeitende Bevölkerung bei der Vorstellung der Ergebnisse der Herzog-Kommission auf den Punkt: "Ein Zurück zur guten, alten Zeit ist nicht möglich".