Nach dem Zweiten Weltkrieg herrschte in der deutschen Öffentlichkeit weitgehende Übereinstimmung, dass das Land nie wieder eine aggressive Außenpolitik mit militärischen Mitteln betreiben dürfe. Das änderte sich nach der Wiedervereinigung. Bereits die 1992 verabschiedeten Verteidigungspolitischen Richtlinien zählten die "Förderung und Absicherung weltweiter politischer, wirtschaftlicher, militärischer und ökologischer Stabilität" sowie die "Aufrechterhaltung des freien Welthandels und des Zugangs zu strategischen Rohstoffen" zu den offiziellen Aufgaben der Bundeswehr. Eine öffentliche Schamgrenze blieb aber bestehen. Ein militärisches Vorgehen im Sinne einer reinen Macht- und Interessenpolitik blieb weiterhin verpönt.
Um den Abbau dieser Schamgrenze bemühten sich auf politischer Ebene fortan die Grünen. In unzähligen, ebenso leidenschaftlichen wie moraltriefenden Debatten stritten sie über bewaffnete und unbewaffnete, friedenschaffende und friedenerzwingende, Blauhelm- und Grünhelm-Einsätze - mit dem absehbaren Ergebnis, dass die Hürde für militärische Interventionen nach jeder Auseinandersetzung eine Stufe tiefer sank. Auf publizistischer Ebene erfüllten die als liberal geltenden Medien dieselbe Aufgabe. Sie taten ihr Bestes, um alle Auslandseinsätze der Bundeswehr - einschließlich der Teilnahme am Jugoslawienkrieg - mit einer humanitären Aura zu versehen: Es gehe nicht um deutsche Interessen, sondern um die Unterbindung von Völkermord, um Frieden und um Demokratie.
Damit scheint nun Schluss zu sein. Der Leitartikel der jüngsten Ausgabe der Zeit (vom 17. Juli) plädiert ganz ungeniert für eine deutsche Interessenpolitik im Irak: "Da geht es um wirtschaftliche Interessen, auch um Öl, und um entwicklungspolitische Perspektiven. Dabei kann Deutschland - ein Mandat der UN vorausgesetzt - nur fehlen, wenn wir nicht genügend Soldaten haben, um sie dorthin zu schicken", schreibt der stellvertretenden Chefredakteur des Blattes, Bernd Ulrich.
Der Artikel befasst sich mit der Frage, ob die Bundesregierung auf die wachsenden Probleme der Besatzungstruppen im Irak und die innenpolitischen Schwierigkeiten von Präsident Bush und Premier Blair, die den Krieg mit gefälschten Geheimdienstdokumenten gerechtfertigt haben, mit der Entsendung deutscher Truppen reagieren solle. Er trägt den bezeichnenden Untertitel "Berlin sollte seine Chance im Irak nutzen".
Schadenfreude wäre fehl am Platz, meint die Zeit. Es wäre zwar legitim, sich dem amerikanischen Wunsch nach einer deutschen Beteiligung im Irak zu widersetzen: "Immerhin haben die Amerikaner gegen den Willen der Deutschen diesen Feldzug unternommen." Aber mit einer solchen Reaktion könne nichts erreicht werden. Also müsse "nach anderen Kriterien entschieden werden, ob deutsche Soldaten nun auch noch im Irak ihr Leben aufs Spiel setzen sollen". Die erste Frage müsse lauten, "ob ein solcher Einsatz auch im deutschen Interesse liegt". Es folgt der bereits zitierte Hinweis auf wirtschaftliche Interessen und Öl.
Blut für Öl also! Deutlicher als Die Zeit kann man es kaum formulieren.
Die Wochenzeitung hatte ursprünglich, wie viele andere deutsche Publikationen auch, die amerikanischen Kriegspläne kritisiert und abgelehnt. Kaum war der erste Schuss gefallen, änderte sie ihre Haltung, um sich dann nach dem Fall von Bagdad endgültig auf die Seite der Sieger zu stellen.
Bisher hatte sie dies vorwiegend damit gerechtfertigt, dass die Beziehungen zu den USA nicht weiter beschädigt werden dürften. Dieses Argument findet sich auch im jüngsten Leitartikel wieder: "Selbstverständlich würde ein Engagement im Irak auch das deutsch-amerikanische Verhältnis verbessern." Es steht aber nur noch an zweiter Stelle. Vorrang haben jetzt die deutschen Interessen im Irak. Die Bundesregierung müsse "gegenüber den USA weder Dankbarkeit beweisen noch Deutschlands Emanzipation vorführen. Realismus, Klugheit und die Wahrung eigener Interessen reichen aus", heißt es abschließend unter der Überschrift "Rückkehr zur Realpolitik".
Der Hinweis auf die "Realpolitik" ist bemerkenswert. Der Begriff wurde in den fünfziger Jahren des 19. Jahrhunderts geprägt und steht für eine Außenpolitik, die frei von ideologischen Skrupeln ausschließlich dem eigenen, nationalen Vorteil verpflichtet ist. Bismarck wurde zum Symbol dieser Politik, die unter einen Nachfolgern in die Katastrophe des Ersten Weltkriegs mündete.
Der Leitartikel der Zeit, die - mitherausgegeben vom früheren SPD-Kanzler Helmut Schmidt - der Bundesregierung nahe steht, wirft auch ein bezeichnendes Licht auf deren anfängliche Ablehnung der amerikanischen Kriegspläne. Viele Kriegsgegner hatten das "Nein zum Krieg", das Kanzler Gerhard Schröder während des Bundestagswahlkampfs lauthals verkündete, gründlich missverstanden. Sie glaubten, die Bundesregierung lehne die koloniale Unterwerfung eines wehrlosen Landes grundsätzlich ab. Tatsächlich ging es ihr, wie die WSWS stets hervorgehoben hat, lediglich um die eigenen Interessen in der Region, die sie durch das einseitige amerikanische Vorgehen gefährdet sah.
Seit der Krieg entschieden ist, hat sie sich der US-Regierung schrittweise wieder angenähert - zuletzt anlässlich der mehrtägigen USA-Reise von Bundesaußenminister Joschka Fischer, die in diesen Tagen zu Ende geht. Fischer enthielt sich jeder Kritik an den Gastgebern, obwohl er dazu allen Grund gehabt hätte. "Kein Wort zu dem Kriegsbegründungsdebakel, in dem sich die US-Regierung zurzeit befindet. Kein Wort zu dem Verdacht, es sei manipuliert, getäuscht, gelogen worden. Kein Wort zu dem Rätsel über die partout nicht auffindbaren irakischen Massenvernichtungswaffen. Kein Wort zu der offenbar stümperhaften Planung der Besatzungsmächte für die Nachkriegszeit", wie der Korrespondent des Berliner Tagesspiegels feststellt.
Stattdessen deutete Fischer die grundsätzliche Bereitschaft der Bundesregierung zu einer Zusammenarbeit mit den USA im Irak an. Es sei "ein gemeinsames Interesse" Europas und der Vereinigten Staaten, "all unsere Kräfte zu bündeln, um den Frieden zu gewinnen", sagte er in einem seiner zahlreichen Fernsehinterviews.
Fischer ging zwar nicht soweit, die Entsendung deutscher Truppen zu versprechen. Er schloss dies aber auch nicht aus. Voraussetzung sei ein ausdrückliches UN-Mandat und die Existenz einer legitimierten irakischen Regierung. Angesichts der Tatsache, dass er das vor kurzem vom US-Zivilverwalter Paul Bremer eingesetzte Marionettenregime in höchsten Tönen lobte, dürften diese Hürden nicht all zu schwer zu überwinden sein.
Fischer teilt offenbar die Auffassung der Zeit, dass es jetzt nicht darum geht, "die Amerikaner Mores zu lehren", sondern - realpolitisch - die wirtschaftlichen Interessen Deutschlands zu wahren. Die Kriegstreiber in Washington dürften ihm dafür dankbar sein. Die Spannungen mit Washington wird dies langfristig allerdings kaum mindern. Auf der anderen Seite des Atlantiks sitzen schließlich auch Realpolitiker.