Seit dem Ende der Sowjetunion vor über zehn Jahren wurde kaum so oft von einer "Zeitenwende", einem "historischen Ereignis" oder der "Beerdigung des Kalten Krieges" gesprochen wie in den vergangenen Tagen.
Während seiner jüngsten Europareise unterzeichnete US-Präsident George W. Bush bei seinem dreitägigen Besuch in Moskau mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin Verträge zur Abrüstung von nuklearen Sprengköpfen und zu einer "strategischen Partnerschaft". Vier Tage später, am 28. Mai, wurde Russland in Rom mit großem Zeremoniell unter Anwesenheit der Regierungschefs aller 19 Nato-Länder im Rahmen eines zu bildenden Nato-Russland-Rates in die Strukturen der Nato aufgenommen.
Bei der Vertragsunterzeichnung in Moskau erklärte Bush feierlich, dass "eine neue amerikanisch-russische Partnerschaft geschnitzt wird". "Wir sind Freunde und keine Feinde mehr". Es herrsche nun ein "Klima des Vertrauens". Putin ergänzte: "Es herrscht ein Geist des gegenseitigen Verstehens wie zu Zeiten des Nazismus", als USA und Sowjetunion gemeinsam gegen Nazi-Deutschland kämpften. "Wir sprechen heute eine Sprache".
Doch bei all diesen Vereinbarungen steht hinter der feierlichen Betonung von "Freundschaft", "gleichberechtigter Zusammenarbeit" oder gar einer "Verringerung der atomaren Bedrohung" die nahezu vollständige und bedingungslose Unterordnung des Kremls unter die machtpolitische Dominanz Washingtons. Es ging nur noch darum, dass Moskau wenigstens dem Schein nach sein Gesicht wahren kann.
Im Ergebnis des jüngsten Treffens bleibt das militärische Potenzial der USA unangetastet, und deren Vorbereitungen auf einen Krieg gegen den Irak werden stillschweigend toleriert, wenn nicht sogar tatkräftig unterstützt.
Schon die Gestaltung des Abrüstungsvertrages spricht Bände. Die innerhalb weniger Monate hektisch zusammengezimmerte und nur drei Seiten umfassende Vereinbarung sieht den Abbau von zwei Dritteln der jeweils rund 6000 Sprengköpfe umfassenden Arsenale strategischer Atomwaffen vor. In ihm sind abgesehen von der zehnjährigen Laufzeit keinerlei bindende Abrüstungsschritte festgelegt, und die Prozeduren der Vertragsüberwachung sollen erst nach der Unterzeichnung ausgehandelt werden. Darüber hinaus kann der Vertrag jederzeit mit einer Vorankündigungsfrist von drei Monaten einseitig aufgehoben werden.
Russland konnte sich ohnehin Unterhalt und Wartung der Sprengköpfe im bisherigen Umfang nicht mehr leisten und ließ schon vor einiger Zeit durchsickern, dass der Bestand bis 2012 auf 1500 reduziert werden solle. Auf US-Seite ist dagegen vorgesehen, die Sprengköpfe lediglich von den Trägersystemen zu trennen. Nur ein kleiner Teil der Sprengköpfe wird zerstört, der Rest zu einem Teil unterirdisch eingelagert und zu einem anderen Teil "in operationeller Reserve" gehalten. Die Trägersysteme werden dabei überhaupt nicht verringert bzw. vernichtet, was immer indiskutable Bedingung aller früheren Abrüstungsverträge war.
Dieser Scheinvertrag ist Ergebnis eines außenpolitischen Schwenks, den der Kreml spätestens seit Beginn des Afghanistankrieges vollzogen hat. Ihm liegt das Eingeständnis zugrunde, dass es dem Kreml militärisch und wirtschaftlich nicht möglich ist, sich der immer aggressiveren außenpolitischen Linie der USA zu widersetzen, ohne Gefahr zu laufen, in einer ernsthaften Konfrontation mit den USA vollständig in eine Krise getrieben zu werden. Auch in Anbetracht seiner innenpolitischen Schwäche und der wachsenden sozialen Spannungen im Innern flüchtet das russische Establishment in die Arme Washingtons.
Bis zum Beginn des Afghanistankrieges demonstrierte der Kreml von Zeit zu Zeit seine Opposition gegenüber den Ansprüchen der USA. Als Reaktion auf die Bombardierung Belgrads ließ der damalige Ministerpräsident Jewgeni Primakow am 24. April 1999 auf dem Weg zu einem Treffen mit Präsident Clinton und den Oberhäuptern der Nato-Staaten sein Flugzeug über dem Atlantik wenden. Wenige Wochen später besetzten russische Soldaten in einem Überraschungscoup den Flughafen von Priština, der Hauptstadt des Kosovo. Ein halbes Jahr darauf begann unter Putin der zweite Krieg in Tschetschenien, das Moskau als wichtiges Pfand im Kampf um die Öl-Ressourcen des Kaspischen Raumes betrachtete.
Noch bis zum letzten Sommer bemühte sich Putin um strategische Allianzen mit China und Indien, die als Gegengewicht zur internationalen Dominanz der USA dienen sollten.
Doch spätestens seit den amerikanischen Angriffen auf Afghanistan und der gleichzeitigen Stationierung von US-Truppen in Usbekistan, Kasachstan, Kirgisien und Tadschikistan stand fest, dass Moskau dem nichts mehr entgegenzusetzen hatte. Es nahm das Eindringen des stärksten Konkurrenten in seine traditionelle Einflusssphäre tatenlos hin. Auch die Aufkündigung des ABM-Vertrages durch die USA vor einem halben Jahr akzeptierte Moskau nolens volens.
Trotz aller noch verbliebener Ansprüche, als Großmacht oder gar als eine der beiden Supermächte zu gelten, ist das tatsächliche Gewicht Russlands im Vergleich zu den USA kaum noch relevant. Bei einer Bevölkerungsgröße von etwa 55 Prozent beträgt die Wirtschaftsleistung Russlands weniger als 5 Prozent der amerikanischen, und der gesamte Staatshaushalt liegt nur knapp über 30 Milliarden Dollar. 10 Milliarden davon werden für militärische Zwecke ausgegeben - ein Taschengeld im Vergleich zum Verteidigungshaushalt der USA mit über 340 Milliarden Dollar. Das einzige Pfand von Gewicht bildet die verbliebene atomare Streitkraft.
So wurde dieser Abrüstungsvertrag von vornherein als Formalie ausgehandelt. Er dient zur Wahrung des Gesichts und enthält keinerlei Verpflichtungen für die USA. Die US-Regierung signalisierte von Anbeginn, dass sie sich auf keinerlei kodifizierte atomare Abrüstungsvereinbarung einlassen werde, die ihr irgendetwas vorschreibt.
In den herrschenden Kreisen Russlands besteht über dieses Vorgehen weitgehend Einigkeit, und der Vertragsentwurf konnte unbeschadet die Abstimmung im Parlament, der Duma, überstehen. Alexej Arbatow, stellvertretender Vorsitzender des Verteidigungsausschusses der Duma, erklärte, dass Russland mit diesem Vertrag "die beste Lösung für sich herausgehandelt hat, nachdem das russische Militär Pläne bekannt gegeben hatte, aufgrund von Geldmangel sogar ohne jegliche Vereinbarung mit den USA den Bestand an nuklearen Waffen zu reduzieren". Außenminister Igor Iwanow gab sich noch bescheidener: "Das ist das meiste, was wir erreichen konnten. Die größte Errungenschaft ist, dass wir den Verhandlungsprozess aufrechterhalten konnten."
Lediglich die Kommunistische Partei meldete Opposition gegen diesen Vertrag und Putins Tolerierung von US-Truppen in den ehemaligen Sowjetrepubliken an. Sie sieht sich als Verteidigerin und Sprachrohr einer großrussischen, nationalen Idee und als Interessenvertreterin bestimmter Teile der Armee sowie der Rüstungs- und anderer vom Staat abhängiger Industrien. Ihr Vorsitzender, Gennadi Sjuganow, bezeichnete die Vereinbarung als "nationalen Verrat".
Das russische Erdöl als letzter Trumpf
Die Kremlführung geht über ihren Kotau vor den USA in Sachen Abrüstung hinaus und bietet sich jetzt auch in anderen Fragen direkt als Juniorpartner an. Wesentlichen Raum auf dem jüngsten Gipfel nahmen Diskussionen über Russlands Rolle auf dem Weltölmarkt ein. Russische Ankündigungen, sich nicht an Mengenabsprachen mit der OPEC zu halten, sorgten im unmittelbaren Vorfeld des Bush-Besuches für fallende Preise.
Gegenwärtig setzt Moskau alles auf den Energiesektor, der als letzter ökonomischer Trumpf verblieben ist. Allein in den vergangenen beiden Jahren wurde die Ölproduktion um jeweils über 7 Prozent ausgeweitet, so dass mittlerweile 38 Prozent der Einnahmen des Staatshaushaltes und 54 Prozent der russischen Devisenreserven von Energieerlösen abhängen. Russland ist nach Saudi-Arabien der weltweit zweitgrößte Erdölexporteur und schickt sich an, zur Nummer Eins aufzusteigen. Bereits im Februar wurden die Exporte Saudi-Arabiens erstmalig überboten. Experten sehen Russland einen "größeren Ölexporteur werden, als es Saudi-Arabien je war".
Obwohl US-Ölimporte nur zu einem Prozent mit russischem Öl (Irak 7 Prozent) bedient werden, will sich Moskau in Bezug auf seine Energiepolitik voll in den Dienst Washingtons stellen. In Gesprächen und Absichtserklärungen wurde auf dem Gipfeltreffen den Worten Bushs zufolge eine "wichtige neue Energiepartnerschaft" eingeleitet.
Russlands Öffnung trifft in mehrerer Hinsicht mit vitalen US-Interessen zusammen. Einerseits soll die Ölwaffe der OPEC-Länder und Anrainerstaaten des Persischen Golfs entschärft werden, die immer wieder mit einer Verknappung des Ölangebotes und dadurch steigenden Preisen drohen und die bei dem beabsichtigten Militärschlag gegen den Irak angesichts ihrer eigenen Instabilität unberechenbare Größen im amerikanischen Kalkül darstellen. Andererseits soll der russische Ölmarkt für US-Investitionen und -Beteiligungen geöffnet werden. Schon im letzten Herbst erhielt Exxon Mobil den Zuschlag, 4 Milliarden Dollar in die Erschließung von Ölfeldern im russischen Fernen Osten zu investieren.
Für Russland kann eine permanente Gegnerschaft zur OPEC allerdings zu einem Vabanquespiel werden, verfügt das Kartell doch über 78 Prozent der weltweiten Ölreserven. Zurzeit sind die Förderkapazitäten des Kartells begrenzt. Eine mittelfristige Ausweitung der Produktion könnte jedoch den gegenwärtig etwa 25prozentigen Anteil Russlands an der Weltproduktion reduzieren und einen schweren Preiskrieg auslösen. Im Moment entgehen Russlands Staatshaushalt bei einem Rückgang des Ölpreises um einen Dollar 900 Millionen Dollar an Einnahmen. Die Folgen einer längerfristigen Preissenkung wären verheerend.
Daher hofft Moskau angesichts der neuen Weltlage zumindest kurzfristig von einer Ausschaltung des Irak als Ölproduzenten zu profitieren. In Bezug auf das offensichtliche Hauptziel der Europareise Bushs - die Vorbereitung einer militärischen Invasion im Irak - dürfte der Kreml nicht zuletzt aus dieser Berechnung heraus jeglichen Widerstand aufgegeben haben. Die russischen Beziehungen zum Irak haben sich abgekühlt und Moskau hat seine langjährige Opposition gegen neue Sanktionen gegen den Irak zurückgezogen. Gerade das Verhältnis zum Irak, für den Russland einer der wichtigsten Wirtschaftspartner ist und in dem Russland über nicht unwesentliche Beteiligungen vor allem im Ölsektor verfügt, hatte in der Vergangenheit zu Spannungen mit den USA geführt.
Lediglich in Bezug auf den Iran, der wie der Irak Teil von Bushs "Achse des Bösen" ist, zeigt Moskau noch offenen Widerstand. Würden die USA volle Kontrolle über dieses Land bekommen, hätten sie damit die Schlüsselposition bei der Ausbeutung der Kaspischen und zentralasiatischen Öl- und Gasreserven. Auf Vorwürfe von Bush, dass ein im Iran im Bau befindliches russisches Kernkraftwerk die Herstellung von "Massenvernichtungswaffen" ermögliche, erwiderte Putin, dass das gleiche auf die Errichtung eines amerikanischen Kraftwerkes in Nordkorea zutreffe.
Mehr oder weniger stillschweigend wurde die weitere Stationierung von US-Truppen in den ehemaligen Sowjetrepubliken Zentralasiens und seit kurzem auch in Georgien von Moskau akzeptiert. Einen Tag nach Bushs Abreise aus Moskau begannen US-Soldaten ein 64 Millionen Dollar teueres Ausbildungsprogramm georgischer Elitesoldaten für den "Kampf gegen den Terror". Damit wird eindeutig Moskaus Einfluss im Kaukasus untergraben und dem langgehegten Plan einer Erdölleitung vom aserbaidschanischen Baku ins türkische Ceyhan unter Umgehung Russlands und des Iran weiteren Auftrieb gegeben.
Die Gegenleistung für diesen umfassenden russischen Aderlass ist minimal. Anstelle einer vollwertigen Nato-Mitgliedschaft wurde Russland nur eine Neuauflage des 1997 ins Leben gerufenen und während des Kosovokrieges de facto gescheiterten "Nato-Russland-Rates" gewährt, in dem Russland weiterhin keinerlei Einfluss auf Entscheidungen der Nato besitzt, dafür aber als "gleichberechtigter Partner" mitdiskutieren kann. Seine Opposition gegen eine Nato-Mitgliedschaft der drei baltischen Länder Litauen, Lettland und Estland, die früher zur Sowjetunion gehörten und heute an Russland grenzen, hat Moskau dabei übrigens ebenfalls kommentarlos fallengelassen.
Mitgliedschaft in der WTO und die soziale Krise
Der für Moskau so entscheidende Punkt einer Mitgliedschaft in der Welthandelsorganisation WTO konnte kaum zu dessen Befriedigung geregelt werden. Russland ist seit dem Beitritt Chinas die größte Wirtschaft außerhalb der WTO. Bisher wird ein Beitritt Russlands von den USA verhindert, die es noch immer nicht als "Marktwirtschaft" anerkennen und vermittels der weiterhin gültigen Jackson-Vanik-Klausel von 1974 wesentliche Handelsbeschränkungen, insbesondere im Hightech-Bereich, aufrecht erhalten.
Die USA würden einer Aufnahme Russlands in die WTO nur bei einer kompletten Öffnung seines Marktes zustimmen. Davor schreckt der Kreml in Anbetracht des zu erwartenden Bankrotts breiter Teile der heimischen und international nicht konkurrenzfähigen Industrie, wie der Automobil- und Luftfahrtindustrie, aber noch zurück. Andererseits droht die weitere internationale wirtschaftliche Isolation die russische Wirtschaft immer weiter ins Hintertreffen geraten zu lassen.
Das ist tatsächlich die Hauptsorge der Wirtschaftsstrategen der russischen herrschenden Elite. Seit 1998 ist der Lebensstandard der Mehrheit der Bevölkerung kontinuierlich gesunken. Das durchschnittliche Pro-Kopf-Bruttosozialprodukt fiel seit 1997 von 2600 auf 1700 Dollar. Die soziale Krise weitet sich aus, und die um sich greifende Ernüchterung über die großspurigen Versprechen Putins macht den Abgrund zur Bevölkerung immer bedrohlicher spürbar.
Da die einheimische Industrie nach einem zehnjährigen Niedergang völlig veraltet und bankrott ist, sind weite Teile der russischen Elite zu dem Schluss gelangt, dass sie sich auch wirtschaftlich in die Arme des Westens und seiner Konzerne werfen und den russischen Markt für sie öffnen sollten. Trotz unversöhnlicher Rhetorik, einem WTO-Beitritt nur bei Gewährung von Sonderbedingungen zuzustimmen, sind sie stillschweigend auf die harte Linie der USA eingeschwenkt. Als großer Erfolg wurde daher gefeiert, dass die USA am 14. Juni bekannt geben werden, ob Russland als Marktwirtschaft anerkannt wird. Ein WTO-Beitritt könnte dann im Herbst nächsten Jahres erfolgen. Auf US-Drängen haben die EU-Regierungen Russland bereits am 29. Mai als "Marktwirtschaft" anerkannt.
Die "historischen Ereignisse" der letzten Tage haben deutlich gemacht, dass alles andere als eine Periode "partnerschaftlicher Zusammenarbeit" bevorsteht. Die russischen herrschenden Kreise sehen zur Wahrung ihrer eigenen Klasseninteressen in einer von den USA und globalen Konzernen dominierten Welt für sich nur noch eine Rolle als Mittler und Helfershelfer bei der Ausbeutung ihres Landes und der umkämpften Region Zentralasiens. Zunehmend unter dem Druck der eigenen Bevölkerung, der es trotz der "Erfolge" des Putinschen Russland immer schlechter geht, erhoffen sie sich durch beinahe völlige Unterwerfung eine Lösung ihrer Krise. Ihren eigenen Bankrott eingestehend verwandeln sie Russland in kaum mehr als eine klassische Rohstoff-, Absatz- und Arbeitskräftekolonie, in der sie als Polizist fungieren.