Staatsbesuch des russischen Präsidenten in Berlin

Putin und Schröder bemühen sich um neue Rolle in der Weltpolitik

Die Terroranschläge vom 11. September auf das World Trade Center und das Pentagon wirken auf die internationalen Entwicklungen wie ein politischer Katalysator mit weitreichenden Implikationen. Unter dem gemeinsamen Banner einer internationalen "Allianz gegen den Terror" werden die Karten im internationalen Machtpoker neu gemischt und von den Großmächten neue Realitäten im Kampf um weltweiten Einfluss geschaffen.

Der jüngste Besuch des russischen Präsidenten Wladimir Putin in Deutschland markiert in dieser Hinsicht einen wichtigen Meilenstein. Einerseits bemühte sich Putin, den internationalen Status des Kremls über eine Stärkung der Achse Berlin-Moskau aufzuwerten, andererseits betrachtete die deutsche Regierung den Besuch als Gelegenheit, Europas außenpolitisches Gewicht unter ihrer Ägide und unter Einbeziehung Russlands zu erhöhen.

Am Dienstag sprach Putin vor dem Deutschen Bundestag und löste bei den Regierungsmitgliedern und den Abgeordneten aller Fraktionen stehende Ovationen aus. Das Handelsblatt fühlte sich dabei "an die unkritische Gorbatschow-Manie der 80er Jahre erinnert".

In seiner auf Deutsch - "der Sprache von Goethe, Schiller und Kant" - gehaltenen Rede betonte Putin, Europas wirtschaftliches Gewicht müsse jetzt auch in der Weltpolitik seine Entsprechung finden - gegen die USA und gemeinsam mit Russland: "Niemand bezweifelt den großen Wert der Beziehungen Europas und der Vereinigten Staaten - nur bin ich einfach der Meinung, dass Europa sicher und langfristig den Ruf eines mächtigen und real selbständigen Mittelpunktes der Weltpolitik festigen wird, wenn es die eigenen Möglichkeiten mit den russischen ... vereinigen kann. ... Jetzt ist es an der Zeit, daran zu denken, was zu tun ist, damit das einheitliche und sichere Europa zum Vorboten einer einheitlichen und sicheren Welt wird."

Mit den Worten "Der kalte Krieg ist vorbei", und Russland sei "ein freundliches europäisches Land", dessen Bildungsausgaben den Verteidigungshaushalt überstiegen, begründete er die Notwendigkeit der Einbeziehung Russlands durch Europa.

Direkt an die deutsche Politikerkaste gewandt, beschwor er gemeinsame Traditionen. So erinnerte er an die deutsche Prinzessin Sophie von Anhalt-Zerbst, die als Katharina die Große (1762-96) zur mächtigen Herrscherin Russlands aufstieg, und spannte den Bogen zur Politik: "Zwischen Russland und Amerika liegen Ozeane, zwischen Russland und Deutschland aber die große Geschichte."

Um einen allzu unverbrämten Antiamerikanismus zu vermeiden, ergänzte er sofort: "Ozeane und Geschichte können nicht nur trennen, sie können auch verbinden." Beim Frühstück am nächsten Tag im Steigenberger Hotel mit Regierungsvertretern und Journalisten hieß es dann jedoch nur noch: "Mit Deutschland eint uns eine große Geschichte, von Amerika trennt uns ein großer Atlantik" - ohne den abmildernden Nachsatz.

Putin sprach damit nur mehr oder weniger unverhüllt aus, was in den herrschenden Kreisen Deutschlands schon lange insgeheim diskutiert und angestrebt wird. Die Bescheidenheit, die sich Deutschland auferlege, sei seiner Stellung in Europa und in der Welt nicht angemessen, betonte er. Kein Land dürfe ewig unter der Schuld leiden, die es einmal in der Geschichte auf sich geladen habe. Er "ermahnte" Deutschland zu mehr Selbstbewusstsein.

Eine "differenziertere Bewertung" Tschetscheniens

Nach den Terroranschlägen in New York sieht die Regierung Schröder die Chance, ihre ehrgeizigen außenpolitischen Ambitionen ein Stück weit voranzubringen. Noch bevor Putin seine Rede im Bundestag hielt, wurde er von Kanzler Gerhard Schröder mit der Ankündigung überrascht, "dass es in Bezug auf Tschetschenien zu einer differenzierteren Bewertung der Völkergemeinschaft kommen muss und sicherlich auch kommen wird".

Das brutale Vorgehen der russischen Regierung in Tschetschenien bildete bisher eines der wichtigsten Hindernisse für die deutsch-russischen Beziehungen. Die russische Armee zeichnet in der abtrünnigen Provinz für Hinrichtungen ohne Gerichtsurteil, Folter und massenhafte Vertreibungen sowie für eine strenge Zensur aller Medien verantwortlich. Seit unter Putins Verantwortung vor genau zwei Jahren der zweite Krieg in Tschetschenien losgetreten wurde, soll es 40.000 Tote und bis zu 800.000 Flüchtlinge (zwei Drittel der gesamten tschetschenischen Bevölkerung) gegeben haben.

Schröders "differenziertere Bewertung" bedeutet, dass gegenüber diesen massiven Menschenrechtsverletzungen ebenso wie gegenüber der Unterdrückung der Presse in Russland in Zukunft beide Augen zugedrückt werden. Sie sollen der Zusammenarbeit mit Moskau nicht mehr im Wege stehen.

Auch andere führende SPD-Vertreter haben sich dieser Auffassung angeschlossen. Der Vorsitzende des auswärtigen Ausschusses im Bundestag, Hans-Ulrich Klose, machte dies unumwunden in einem Radio-Interview deutlich. Der Preis für die Kooperation Russlands beim Kampf gegen den internationalen Terrorismus sei nicht zu hoch. Man müsse sich auf die Bedrohungsanalyse der Russen einlassen. Schon sehr früh hätten sie darauf hingewiesen, dass es von außen Bestrebungen gebe, in Tschetschenien und Dagestan einen muslimischen Gottesstaat zu errichten: "Diese Analyse ist, wie wir heute wissen, nicht falsch."

Auch der sonst auf "Besonnenheit" und "Ausgleich" bedachte Bundestagspräsident Wolfgang Thierse (SPD) leitete Putins Rede mit den Worten ein, dass Russland besser als andere wisse, welche Bedrohung fanatische Islamisten darstellten. Die russische Zeitung Kommersant Daily ergänzte mit nicht zu überhörender Häme: "Und wie oft haben wir denen das schon gesagt! Jetzt ist es endlich angekommen."

Auch beim grünen Koalitionspartner will man diese kollektive Meinungsänderung durchsetzen. Wurde noch in der vorigen Woche von zehn Bundestagsabgeordneten das russische Vorgehen in Tschetschenien in einem offenen Brief an Putin kritisiert, so heißt es nun von offizieller Parteiseite, man anerkenne die Bemühungen des russischen Präsidenten, "das tschetschenische Volk von den terroristischen Kämpfern zu unterscheiden".

Dieser neuen offiziellen deutsch-russischen Sprachregelung sollen sehr bald Taten folgen.

Neben einer engeren Zusammenarbeit auf allen Ebenen sind für das kommende Jahr gemeinsame Manöver von Bundeswehr und Russischer Armee geplant. Bei einem Treffen mit 350 Wirtschaftsführern am Mittwoch in Essen versprach Putin darüber hinaus unter großem Beifall, Deutschland im Konfliktfall mit Öl- und Gaslieferungen zu versorgen. Das ist ein deutliches Angebot, dass Deutschland im Falle einer größeren Auseinandersetzung im Nahen Osten mit russischer Unterstützung rechnen kann - und sich daher von der USA nicht unter Druck zu setzen lassen braucht.

Im Gegenzug wird sich Deutschland für eine Integration Russlands in die Strukturen der Nato einsetzen. Schröder erklärte dazu, dass das bisher "enge, vertrauensvolle Miteinander" gezeigt habe, dass gerade vor dem Hintergrund der Bedrohung durch den internationalen Terrorismus "alle gut beraten" seien, eine enge Zusammenarbeit mit Russland zu suchen. In Anspielung auf die USA sagte er: "Das hatte sich bislang nicht überall herumgesprochen, aber nun ist es deutlich geworden."

Parallel zum Putin-Besuch hat die Bundesregierung weitere Vorstöße unternommen, um Berlin als international nicht zu übergehendes politisches Machtzentrum zu etablieren.

Nur zwei Tage nach Putins Rede stimmte der Bundestag mit überwältigender Mehrheit dem Nachfolgemandat in Mazedonien zu, wo die Bundeswehr erstmals die Führung eines Nato-Einsatzes übernimmt und mit 600 von insgesamt 1100 Soldaten auch erstmals die Mehrheit der Einsatzkräfte stellt.

Zeitgleich mit Putin besuchten auch der ägyptische Präsident Hosni Mubarak und der italienische Ministerpräsident Silvio Berlusconi Deutschland. Das Treffen mit Mubarak verdeutlicht das stärkere außenpolitische Gewicht Berlins im Nahen Osten, woran Außenminister Joschka Fischer (Grüne) schon seit Wochen arbeitet, und das Treffen mit Berlusconi diente der Suche nach einem Schulterschluss mit den europäischen Partnern für Berlins neue Rolle.

In einem Kommentar der Frankfurter Allgemeinen Zeitung heißt es dazu: "Bei manchen unserer westlichen Nachbarn weckt das traditionell Unbehagen. Es wird großen Geschicks bedürften, Missverständnisse und Risiken zu vermeiden, die damit verbunden sind." Schon jetzt geistern auch Befürchtungen über ein neues Rapallo durch die internationale Presse. In dem Vorort von Genua hatten Deutschland und Sowjetrussland 1922 einen Vertrag über eine umfangreiche wirtschaftliche Zusammenarbeit abgeschlossen, durch den sich die Sieger des Ersten Weltkrieges, Großbritannien und Frankreich, hintergangen fühlten.

Auf einer gemeinsamen Pressekonferenz von Schröder und Berlusconi schloss sich der italienische Ministerpräsident offiziell der "differenzierteren Bewertung" der Lage in Tschetschenien an, wonach Schröder verlautbarte, dass auch Europa zukünftig "sehr, sehr eng mit Russland zusammenarbeiten" werde.

Moskau schließt sich der "Allianz gegen den Terror" an

Auch der Kreml betrachtet die russisch-deutsch/europäische Annäherung als Chance, seine außenpolitische Stellung zu stärken.

Nach fast zweiwöchigen intensiven Verhandlungen des russischen Präsidenten mit Duma-Abgeordneten, Ministern, Militärs und den Führungen der zentralasiatischen Ex-Sowjetrepubliken Kasachstan, Usbekistan, Tadschikistan, Kirgisien und Turkmenistan sowie nach einem 45minütigen Telefonat mit dem amerikanischen Präsidenten George W. Bush am vergangenen Sonntag hat sich Russland offiziell der internationalen "Allianz gegen den Terror" angeschlossen.

Putin öffnete den russischen Luftraum für "humanitäre Flüge" der Nato, versprach russische Beteiligung an Such- und Rettungsaktionen im etwaigen Konfliktfall, die Belieferung der afghanischen Nordallianz, die gegen die Taliban kämpft, mit Waffen, den Austausch von Geheimdienstinformationen sowie die nahezu uneingeschränkte Nutzung von früheren sowjetischen Militärbasen in den zentralasiatischen Republiken, dem traditionellen Hinterhof russischer Großmachtpolitik, durch die US-Armee.

Insbesondere die von Moskau zu tolerierende Öffnung der früheren Sowjetrepubliken für die US-Armee sorgte für heftige Auseinandersetzungen und Dissonanzen im Kreml. Noch in der vorigen Woche hatte Verteidigungsminister Sergej Iwanow darauf beharrt, dass er sich eine potenzielle Stationierung von US-Streitkräften in der Region absolut nicht vorstellen könne.

Doch Putin war es in den vergangenen zwei Wochen auch nach intensiven Diskussionen mit den Führern jener Republiken nicht gelungen, Moskaus Veto aufrechtzuerhalten. Die Internetzeitung Gaseta.Ru begründete die Schwäche Moskaus damit, dass "wir über keinerlei ökonomischen und politischen Argumente" in Zentralasien mehr verfügen. Moskaus Problem bestehe darin, so die gleiche Zeitung an anderer Stelle, dass "wir ohnehin kein Geld für einen eigenen Feldzug gegen Afghanistan haben".

Moskau ist offensichtlich zu dem Schluss gelangt, dass es opportuner sei, wegen einem Einsatz in Zentralasien keinen Konflikt mit den USA zu riskieren, und dafür selbst von der Ausschaltung der Taliban zu profitieren, die die islamischen Separatisten in Tschetschenien unterstützen. Als Gegenleistung gewähren die Westmächte Moskau freie Hand in Tschetschenien.

Erst in der vorigen Woche hat sich die Lage der russischen Armee dort dramatisch verschlechtert. Nach mehreren verlustreichen Bombenanschlägen auf Militärfahrzeuge verlor sie zeitweilig die Kontrolle über die zweitgrößte Stadt Gudermes. Nach dem Telefonat mit Bush und dem Besuch in Berlin stellte Putin den tschetschenischen Separatisten ein 72-stündiges Ultimatum, sich zu entscheiden, auf welcher Seite sie im "Kampf gegen den internationalen Terrorismus" stehen. Sie sollen unverzüglich die Waffen abgeben und in Verhandlungen treten. Eine Fortsetzung des Blutbades, nun im Rahmen des "internationalen Kampfes gegen den Terrorismus", wird die logische Schlussfolgerung des Kremls sein.

Bush verkündete gleichzeitig, dass die tschetschenischen Kämpfer jeglichen Kontakt zu Osama bin Laden und seiner Organisation, der Al-Qaira, abbrechen sollten, da sich Washington sonst nicht in die konterterroristische Operation Putins in Tschetschenien einmischen könne. Nach CIA-Angaben soll es 2.500 Kämpfer bin Ladens in der Kaukasus-Republik geben - dessen Schuld an den Terroranschlägen in New York übrigens noch immer nicht von Washington belegt wurde.

In Deutschland wird dem Kreml allerdings zur gleichen Zeit deutlich zu verstehen gegeben, dass die neue Partnerschaft einer scharfen Kalkulation unterzogen bleibt. Die immer noch ausstehende Frage über die Höhe der Altschulden der Sowjetunion gegenüber der ehemaligen DDR beispielsweise verbleibt als Trumpf in der Hinterhand.

Die konservative Zeitung Die Welt schreibt in einem Kommentar: "Die Gefahr ist dabei allerdings, dass Russland den Bogen der Forderungen überspannt - mehr als die Rolle des Juniorpartners ... auf der Weltbühne ist für den ökonomischen Zwerg nicht drin. Aussagen wie die von Kanzler Gerhard Schröder, der nun Putins Interpretation des Tschetschenienkrieges unterstützt, fördern den Realitätssinn Moskaus nicht gerade: Auch wenn in der abtrünnigen russischen Republik Gefolgsleute des Terrorchefs Osama bin Laden aktiv sind, rechtfertigt das nicht den Staatsterrorismus, mit dem Moskau Tschetschenien überzieht."

Siehe auch:
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