Stefan Steinberg sprach am Rande des Attac-Kongresses mit Jürgen Bochert.
Jürgen Borchert (52) ist Richter am Landessozialgericht in Darmstadt, Gründungsmitglied der Neuen Richtervereinigung und Mitglied von Attac. Er gilt als Experte für Familienfragen, Renten und Sozialversicherung und wird parteiübergreifend - von der CSU bis zu den Grünen - zu Anhörungen eingeladen.
WSWS: Am Anfang Ihres Plenumbeitrages haben Sie die Bedeutung der bayrischen Nachkriegsverfassung hervorgehoben und gesagt, dass sich die Marktwirtschaft auf das Prinzip der Gleichheit stützt. Können Sie das bitte genauer erklären?
J.B: Ich habe betont, dass die bayrische Verfassung und andere demokratische Verfassungen einen sehr starken egalitären Inhalt haben. Die Marktwirtschaft ist auf dem Boden von Freiheit und Gleichheit gewachsen. Vor der freien Marktwirtschaft gab es feudalistische Gesellschaftsformen, die sehr stark auf Privilegien beruht haben. Die Wende zur Marktwirtschaft aber bedeutet die Entwicklung von privatem Eigentum und die Überwindung von solcher Privilegien. Verfassungen wie die bayrische nach dem Zweiten Weltkrieg sind Beispiele von demokratischen Instrumenten, die gegen die Entstehung von neuen Privilegien gerichtet waren.
WSWS: Aber sind Kapitalismus und Marktwirtschaft nicht die Ursache von Ungleichheit für die breite Masse und Privilegien für eine Minderheit?
J.B: Meiner Meinung nach ist das Problem was wir als neoliberale Politik bezeichnen würden oder was ich die Verantwortungslosigkeit des Kapitalismus nenne. Wenn wir über Neoliberalismus sprechen, dann müssen wir anerkennen, dass er gar nichts mit dem ursprünglichen Liberalismus von Personen wie Adam Smith oder sogar Ludwig Erhard zu tun hat. Ohne die liberale Politik von Ludwig Erhard, zum Beispiel, wäre das deutsche Wirtschaftswunder in den 50iger Jahren unmöglich gewesen. Damals hatte man einen Spitzensteuersatz von 90%, und das hat eine wesentliche Rolle gespielt, den Wirtschaftsaufschwung zu ermöglichen.
WSWS: Glauben Sie, man kann einfach die Uhr zurückdrehen?
J.B.: Ja, das muss man und das kann man. Es ist nötig, zu solchen Konzepten zurückzukehren, so dass man die Zukunft neu gestalten kann.
WSWS:Sie haben in Ihrem Plenumbeitrag über die Probleme neoliberaler Politik für kleine mittelständische Unternehmen gesprochen.
J.B.:Ja, eine der ersten Opfer der jetzigen Politik ist der kleine Mittelstand. Ein gutes Beispiel sind die Erfahrungen mit Pensionsfonds. Insgesamt bergen sämtliche Fonds gigantische Summen und sie waren letztlich eine Quelle für Investitionen, von denen hauptsächlich Großkonzerne profitiert haben. Aber der Mittelstand wird draußen gelassen und muss gleichzeitig wachsende Steuern bezahlen, weil die Großkonzerne teilweise den großen Steuern entgehen können.
WSWS:Sie haben in Ihrem Beitrag auch über die gefährlichen sozialen Konsequenzen gesprochen, wenn Neoliberalisierung nicht bekämpft wird. Was meinten Sie damit?
J.B.: Ich habe den Punkt gemacht, das sozialer Unfrieden vor allem den Geldwert trifft. Man könnte sogar sagen, dass, wenn es Attac nicht gäbe, es auch von Seiten des Kapitals nötig wäre, es zu erfinden. Es ist in dem Sinn ähnlich wie mit der Entwicklung der Gewerkschaften: Sie haben auch für das Kapital eine wichtige Rolle gespielt, um soziale Unzufriedenheit zu verhindern. Ich sehe darin eine ähnliche Rolle für Attac.