Lionel Jospin und der Trotzkismus

Zur Debatte um die Vergangenheit des französischen Premierministers

Seit drei Wochen füllen Enthüllungen über die angeblich trotzkistische Vergangenheit von Premierminister Lionel Jospin die französischen Medien.

Den Anfang machte die Zeitung Parisien Aujourd'hui, die ein Interview mit einem ehemaligen Mitglied der Organisation communiste internationaliste (OCI), Patrick Dierich, veröffentlichte. Der 56-jährige Astronom, der von 1968 bis 1986 der OCI angehörte, behauptet darin, er habe Jospin 1971 als Mitglied dieser Partei kennen gelernt: "Es ist unzweideutig: Ich war während des Sommers 1971 in derselben Parteizelle wie er. Er war ‚Genosse Michel', ich ‚Genosse Blum'. Wir führten alle Pseudonyme."

Dierichs Behauptungen sind nicht neu. Ähnliche Gerüchte zirkulieren seit 1995, ohne dass es dafür bisher stichhaltige Beweise gab. Jospin hat sie stets mit der Begründung zurückgewiesen, man verwechsle ihn mit seinem Bruder Olivier, der bis in die achtziger Jahre ein führendes Mitglied der OCI war.

Den Aussagen Dierichs folgte ein Interview mit einem weiteren ehemaligen OCI-Mitglied, dem mittlerweile achtzigjährigen Boris Fraenkel, auf der Website des Wochenmagazins Nouvel Observateur. Fraenkel entstammt einer deutschen, jüdischen Familie und wurde in Danzig geboren. Er flüchtete vor den Nazis in die Schweiz und ließ sich nach dem Krieg in Frankreich nieder, wo er sich als Gründungsmitglied der trotzkistischen OCI anschloss.

Fraenkel berichtet, er habe Jospin 1964 kennen gelernt und über ein Jahr lang in seiner Wohnung politisch unterrichtet: "Lionel Jospin kam regelmäßig zu mir nach Hause um an einer ‚Revolutionären Studiengruppe' teilzunehmen, einer Schulung, die der Aufnahme in die trotzkistische Bewegung vorausging. Junge, linke Leute ausfindig zu machen und sie in meinem Netz zu fangen, wie meine Genossen zu sagen pflegten, war meine Spezialität. Jospin studierte damals an der Verwaltungshochschule ENA [der Kaderschmiede der politischen Elite Frankreichs; PS]. Ich habe ihn heimlich ausgebildet: ein zukünftiger hoher Beamter hatte kein Interesse sich als Revolutionär zur Schau zu stellen. Durch die Diskussionen wurden wir Freunde."

Zum Beweis für seine Freundschaft mit Jospin legte Fraenkel eine mit "Lionel" unterzeichnete Postkarte vor, die ihm dieser damals aus dem Urlaub geschickt habe. Im Jahr 1966, berichtete Fraenkel weiter, sei er aus der OCI ausgeschlossen worden und habe den Kontakt zu Jospin verloren. Er vermute, dass der Führer der OCI, Pierre Lambert, den Kontakt weiter geführt habe. Sicher sagen könne er das aber nicht. Grund für Fraenkels Ausschluss aus der OCI war sein Eintreten für die Ideen von Wilhelm Reich und Herbert Marcuse, dessen "Triebstruktur und Gesellschaft" er ins Französische übersetzte.

In einer Fragestunde der Nationalversammlung auf diese Veröffentlichungen angesprochen, gab Jospin erstmals zu, dass er tatsächlich mit der trotzkistischen Bewegung in Verbindung stand. "Es stimmt, dass ich in den sechziger Jahren Interesse für die trotzkistischen Ideen zeigte und Beziehungen zu einer Organisation dieser Bewegung anknüpfte," erklärte er. "Es handelt sich hier um einen persönlichen intellektuellen und politischen Werdegang, wegen dem ich, wenn das Wort hier angebracht ist, nicht zu erröten brauche."

Jospin sagte, er habe durch diese Kontakte "einige bemerkenswerte Leute kennen gelernt" und dies habe zu seiner Entwicklung beigetragen. Er habe "nichts zu bedauern und nichts zu entschuldigen". Er habe schon bei früheren Gelegenheiten betont, dass er "ein Kind von Suez und von Budapest" sei. Damit spielte er auf den Einmarsch französischer Truppen in Ägypten unter der Verantwortung des sozialistischen Regierungschefs Guy Mollet und die Niederschlagung des Ungarnaufstands durch sowjetische Truppen im Jahr 1956 an. Jospin war damals neunzehn.

Einen Tag später ging er in einem eigens anberaumten Interview mit Radio Europe 1nochmals ausführlich auf seine Kontakte zur OCI ein. Er habe dort eine "Anzahl starke Persönlichkeiten kennen gelernt, kämpferische Arbeiter, Autodidakten, manchmal Intellektuelle". Dies sei ein "nützlicher Kontrapunkt - ich könnte fast sagen ein Gegengift - zur hervorragenden Ausbildung an der ENA" gewesen. Er habe "Erfahrungen mit dem Radikalismus" gemacht und die Fähigkeit erworben, ihn "besser als andere zu verstehen".

Auch die Zeitung le monde hat einen langen Artikel über "die trotzkistische Vergangenheit Lionel Jospins" veröffentlicht. Darin erhebt sie den Vorwurf, Jospin habe sich im Juni 1971 der Sozialistischen Partei als "Maulwurf", d.h. als heimliches Mitglied der OCI angeschlossen. Sie beruft sich dabei auf die Aussagen von etwa zehn Zeugen, die vom Sommer 1969 bis zum Herbst 1971 in einer Parteigliederung der OCI mit Jospin zusammengearbeitet haben wollen. Die Namen dieser Zeugen nennt sie - bis auf den schon bekannten Patrick Dierich und einen gewissen Yvan Berrebi - allerdings nicht.

Le monde behauptet weiter, Jospin habe während der gesamten siebziger Jahre engen Kontakt zur OCI gepflegt und seine Beziehungen zu deren Führer Pierre Lambert erst 1987, sechs Jahre nach seiner Wahl zum Ersten Sekretär der Sozialistischen Partei, endgültig abgebrochen. Sie beruft sich dabei auf zwei - wiederum anonyme - Zeugen, die in den siebziger Jahren vollamtlich im Apparat der OCI gearbeitet hätten. Lambert habe in den Pariser Büros der OCI aus seinen Beziehungen zu Jospin kein Geheimnis gemacht. So habe er im April 1980 damit geprahlt, dass er Jospin bei der Vorbereitung einer Fernsehdebatte mit Kommunisten-Chef Georges Marchais geholfen habe.

Versuche der Zeitung, genaueres von ehemaligen Führungsmitgliedern der OCI zu erfahren, waren allerdings fehlgeschlagen. Der inzwischen 84-jährige Pierre Lambert verweigerte jede Stellungnahme. Daniel Gluckstein, nationaler Sekretär der OCI-Nachfolgerin Parti des travailleurs (PT), erklärte sich nur bereit, über den heutigen Jospin zu sprechen: "Der Rest betrifft uns nicht. Jospins Vergangenheit ist sein eigenes Problem, nicht unseres." Der Historiker Pierre Broué wusste von nichts. Und auch Charles Berg, Anfang der siebziger Jahre Sekretär des OCI-Jugendverbandes AJS und laut le monde für die Entrismus-Arbeit in die Sozialistische Partei zuständig, lehnte eine öffentliche Stellungnahme ab.

Berg, der 1979 aus der OCI ausgeschlossen wurde und heute unter dem Namen Jacques Kirsner als Fernsehproduzent arbeitet, hatte allerdings schon 1999 in einem Artikel für Libération Beziehungen der OCI zu Jospin bestätigt: "Mit Lionel Jospin haben wir während langen Jahren gemeinsam politisch gekämpft und die selben revolutionären, sozialistischen und demokratischen Überzeugungen geteilt."

In Radio Europe 1auf die Vorwürfe von le monde angesprochen, bestritt Jospin nicht, dass es Begegnungen und Diskussionen gegeben habe. Sie seien aber "privater Natur" gewesen und hätten sein "öffentliches und offenes Engagement in der Sozialistischen Partei" nicht berührt.

Auf den Vorwurf, er sei 1971 als "Maulwurf" der OCI in die Sozialistische Partei (PS) eingetreten, und die Frage, wann er seine politischen und intellektuellen Beziehungen zur OCI abgebrochen habe, antwortete er, sein Beitritt zur Sozialistischen Partei sei aus freien Stücken erfolgt und er habe darin immer frei gehandelt. "Seit ich in der Sozialistischen Partei Verantwortung trug - also seit 1973 - habe ich in vollem Umfang als Mitglied der Sozialisten gehandelt. Alles andere beruhte auf Kontakten und Diskussionen, die ich vielleicht haben mochte, die aber rein privat und in keiner Weise öffentlich waren. Schauen Sie Sich an, was ich von 1973 bis 1981 gemacht habe, und noch danach, als Erziehungsminister und in anderer Funktion! Und schauen sie, ob sie damit die geringsten Probleme haben!"

Die öffentlichen Reaktionen auf Jospins Eingeständnis waren eher verhalten. Aus dem eigenen Lager erhielt er fast durchgehend Rückendeckung. Vereinzelte Vertreter der Opposition versuchten, die Angelegenheit politisch auszuschlachten, und auch im Amtssitz des Präsidenten soll eifrig die Geschichte der trotzkistischen Bewegung nach Munition für den kommenden Präsidentschaftswahlkampf durchsucht worden sein. Jospin wird 2002 voraussichtlich gegen den gaullistischen Amtsinhaber Jacques Chirac antreten.

Dabei werden Jospin weniger seine Kontakte zur OCI als deren lange Geheimhaltung vorgeworfen. Jugendkontakte zu radikalen Gruppierungen sind in Frankreich, wo die Radikalisierung der sechziger Jahre breite Schichten erfasste, nicht ungewöhnlich. Selbst der Gaullist Chirac bekennt sich öffentlich dazu, dass er in seiner Jugend die stalinistische Zeitung l'humanité verkauft habe.

In Jospins engster Umgebung gibt es zahlreiche Funktionäre, die noch in den achtziger Jahren radikalen Organisationen angehörten. So saß Jean-Christophe Cambadélis, Abgeordneter von Paris und eine der wichtigsten Stützen Jospins innerhalb der Sozialistischen Partei, bis 1986 im Zentralkomitee der OCI.

Die OCI, Mitterrand und die Union de la Gauche

Jospins spätes Bekenntnis zu seiner radikalen Vergangenheit dürfte vorrangig taktischen Überlegungen entspringen. Indem er sie jetzt offen legt, versucht er zu verhindern, dass sie seinen Widersachern im kommenden Jahr als Wahlkampfmunition dient. Doch unabhängig von diesen tagespolitischem Winkelzügen werfen Jospins Verbindungen zur OCI grundlegendere Fragen auf. Wie kommt es, dass ein Mann, der im Alter von dreißig Jahren Sympathien für trotzkistische Ideen zeigte und möglicherweise sogar einer Sektion der Vierten Internationale angehörte, fünfundzwanzig Jahre später als bewährter Vertrauensmann der Bourgeoisie an der Spitze der französischen Regierung steht?

Über Jospins persönliche Motivation lassen sich nur Vermutungen anstellen. Nur er selbst könnte darüber Auskunft geben, wie weit er in seiner Jugend tatsächlich trotzkistische Ideale unerstützt hat - was er offensichtlich nicht beabsichtigt. Es gibt aber einen offensichtlichen Zusammenhang zwischen Jospins Werdegang und der Entwicklung der OCI selbst, die sich Ende der sechziger Jahre, als Jospin in engem Kontakt zu ihr stand, rasch von trotzkistischen Ideen abwandte und 1971, als Jospin der Sozialistischen Partei beitrat, organisatorisch mit dem Internationalen Komitee der Vierten Internationale brach, dem sie bis dahin als französische Sektion angehört hatte.

1971 vertrat die OCI eine politische Linie, die mit den Vorstellungen Trotzkis nichts mehr gemein hatte und sich ohne weiteres mit den Zielen von François Mitterrand vereinbaren ließ. Es ist bezeichnend, dass sowohl Patrick Dierich als auch Jospin selbst vermuten, Mitterrand sei über Jospins OCI-Kontakte informiert gewesen und habe daran keinerlei Anstoß genommen.

Laut Dierich war Mitterrand "über seine [Jospins] doppelte Mitgliedschaft völlig auf dem Laufenden. Vergessen sie nicht, dass er früher Innenminister war!... Wir waren damals nicht der Ansicht, dass die Kommunistische Partei den Arbeitern näher stehe als die Sozialistische Partei. Wahltechnisch betrachtet konnte außerdem nur ein PS-Kandidat die Rechte schlagen. Man musste also Mitterrand helfen. Das hat Jospin auf seinem Niveau getan. Die OCI war objektiv die Verbündete der Sozialisten."

Mitterrand hatte schnell Gefallen an Jospin gefunden und ihn bereits 1973 ins Nationale Sekretariat der Partei geholt. Jospin hat in Radio Europe 1 bestätigt, dass seine OCI-Kontakte dabei kein Hindernis darstellten. Auf die Frage, ob Mitterrand etwas wusste, antwortete er: "Meiner Meinung nach muss es ihm jemand zugeflüstert haben, aber wir haben auf alle Fälle nie darüber gesprochen. Ich glaube, ihm gefiel, was ich tat."

Mitterrand hatte im Juni 1971 auf dem Kongress von Épinay handstreichartig die Führung der Sozialistischen Partei übernommen. Im Gegensatz zur alten Führung unter Guy Mollet, die seit Kriegsende amtierte und völlig in den Konzeptionen des Kalten Krieges gefangen war, trat Mitterrand für eine Einheit der Linken, die "Union de la Gauche" ein. Darunter verstand er sowohl eine Verbreiterung der Sozialistischen Partei, die damals in der Wählergunst weit hinter der Kommunistischen Partei herhinkte, durch die Integration republikanischer und zersplitterter sozialistischer Strömungen, als auch ein Bündnis mit der Kommunistischen Partei - wobei die Sozialisten die führende Rolle spielen sollten.

Mitterrand war dabei alles andere als ein Linker oder überzeugter Sozialist. Beamter unter dem Nazi-hörigen Vichy-Regime und bürgerlicher Minister in der Vierten Republik, war er ein Mann mit großen politischen Ambitionen, aber ohne große politische Überzeugungen. Er verstand es dafür um so besser, die Überzeugungen anderer zu benutzen - eine Art moderner Joseph Fouché. Er war bereits 1965 als Einheitskandidat der Linken gegen General de Gaulle angetreten und hatte einen Achtungserfolg erzielt, war aber danach wieder ins politische Abseits geraten.

Die Studentenrevolte und der Generalstreik vom Mai-Juni 1968 gaben Mitterrands Bemühen um die "Einheit der Linken" neuen Auftrieb. Die Fünfte Republik war in ihren Grundfesten erschüttert worden. Präsident de Gaulle war die Kontrolle vorübergehend entglitten und er konnte sich nur dank der Hilfe der Kommunistischen Partei im Amt halten. Das Ende seiner Herrschaft war abzusehen. Die Krise des Regimes war auch eine Folge sozialer Veränderungen. Frankreich hatte sich in den fünfziger und sechziger Jahren aus einem landwirtschaftlich dominierten Land in ein führendes Industrieland verwandelt. Eine junge, militante Arbeiterklasse war in den Vorstädten herangewachsen. Angesichts des lädierten Ansehens der Stalinisten und der Zersplitterung der Sozialisten drohte die Militanz dieser Schichten in eine revolutionäre Richtung zu münden.

Unter diesen Umständen diente die Union de la Gauche dazu, die Bewegung zu kanalisieren und in ein harmloses Fahrwasser zu lenken. Obwohl Mitterrand aufgrund seiner Vergangenheit wenig Ansehen genoss, gelang es ihm, mit Hilfe der Union de la Gauche die Phantasie vieler Arbeiter zu fesseln. Die Hoffnungen und Illusionen, die sich in den siebziger Jahren mit der Union de la Gauche verbanden, waren enorm. Als Mitterrand 1981 schließlich zum Präsidenten gewählt wurde, tanzten Hunderttausende auf den Straßen - allerdings nicht lange, Mitterrand sollte die in ihn gesetzten Hoffnungen schnell enttäuschen.

Die OCI spielte 1971 eine entscheidende Rolle dabei, die von Mitterrand geschürten Hoffnungen und Illusionen zu stärken. Sie gab ihm wertvolle und willkommene Schützenhilfe von links.

Seit de Gaulles Rücktritt im April 1969 hatte die OCI die Forderung nach einem gemeinsamen Präsidentschaftskandidaten der Sozialistischen und Kommunistischen Partei zur zentralen Achse ihrer Politik erhoben. Sie bezeichnete das als "Arbeitereinheitsfront" und betonte ausdrücklich, dass es sich dabei nicht um eine taktische Forderung, sondern um eine Strategie handle. Sie ergebe sich aus der Notwendigkeit, die Arbeiterklasse als Klasse der Bourgeoisie, ihrem Staat, ihrer Regierung frontal gegenüberzustellen. "Die Antwort auf die Regierungsfrage konzentriert sich auf die Frage für die Arbeitereinheitsfront," schrieb sie in ihrer Zeitschrift la vérité(Nr. 544, S. 10). "Sie ist unverzichtbar für die Lösung der Frage der Macht, der Frage des Staats."

Die Behauptung, die Wahl eines von Sozialisten und Stalinisten gemeinsam unterstützten Kandidaten sei mit der Arbeitermacht gleichzusetzen, war natürlich unsinnig. Beide Parteien hatten ihre Loyalität gegenüber dem bürgerlichen Staat über Jahrzehnte hinweg unter Beweis gestellt. Aber als linkes Feigenblatt für Mitterrands Politik erfüllte sie ihren Zweck. Als 1969 keine linke Einheitskandidatur zustande kam, beschuldigte die OCI die PS und die KPF, sie hätten "die Klassenfront des Proletariats gebrochen". Auch der Vereinigten Sozialistischen Partei (PSU) Michel Rocards und der Kommunistischen Liga Alain Krivines, die mit eigenen Kandidaten angetreten waren, warf sie vor, sie beteiligten sich "an der Spaltung der Klassenfront".

Mitterrand wusste die Unterstützung von dieser Seite offensichtlich zu schätzen. Die OCI wab nicht nur für seine eigenen Ziele, sie konnte ihm auch wertvolle Kräfte zuführen. Die Jospin-Biografen Gérard Leclerc und Florence Muracciole beschreiben die OCI jener Tage (die sich damals PCI nannte) folgendermaßen: "Anfang der siebziger Jahre befindet sich die PCI, gestärkt durch die Ereignisse vom Mai 68, im Aufwind. Sie verfügt über fast 8000 Mitglieder, kann aber, vor allem dank ihrer Jugendorganisation AJS (Alliance des jeunes pour le socialisme) Zehntausende mobilisieren... Sie kontrollieren die UNEF-ID, die wichtigste Studentenorganisation, und sind stark in zahlreichen Verbänden der Gewerkschaft Force Ouvrière verankert... Auch in der Lehrergewerkschaft sind sie sehr aktiv und selbst, wenn auch sehr diskret, in der CGT." ("Lionel Jospin, L'héritier rebelle", S. 43-44)

1971 trat Mitterrand sogar als Hauptredner auf einer Veranstaltung zum hundertsten Jahrestag der Pariser Kommune auf, die die OCI vorbereitet hatte und für die sie die Ordner stellte.

OCI und Vierte Internationale

Als Jospin 1964 mit der OCI in Kontakt trat, gehörte sie als französische Sektion dem Internationalen Komitee der Vierten Internationale (IKVI) an. Das IKVI war 1953 gegründet worden, um den orthodoxen Trotzkismus gegen den Pablismus zu verteidigen, eine von Michel Pablo und später Ernest Mandel geführte opportunistische Strömung. Der Bruch der OCI vom IKVI und ihre Unterstützung für Mitterrand schnitt die französische Arbeiterklasse vom Programm der Vierten Internationale ab und beraubte sie damit jeder revolutionären Alternative. Das ist eine der wichtigsten Ursachen für die heutige Krise der Arbeiterbewegung, die trotz wiederholter militanter Kämpfe unfähig ist, ihre sozialen und politischen Errungenschaften zu verteidigen. Zum Verständnis dieser Frage ist ein kleiner Exkurs in die Geschichte der Vierten Internationale notwendig.

Die Auseinandersetzung mit dem Pablismus drehte sich um die grundlegende Ausrichtung des Programms der trotzkistischen Bewegung.

Als Leo Trotzki in den dreißiger Jahren die Initiative zur Gründung der Vierten Internationale ergriff, zog er damit die Konsequenz aus der Tatsache, dass sowohl die Zweite, sozialdemokratische als auch die Dritte, kommunistische Internationale hoffnungslos degeneriert waren und als Instrumente des gesellschaftlichen Fortschritts ausgedient hatten. Die Sozialdemokratie hatte sich seit dem Ersten Weltkrieg als treue Erfüllungsgehilfin der Bourgeoisie erwiesen, die Komintern hatte sich in ein Werkzeug der stalinistischen Bürokratie in Moskau verwandelt und war für katastrophale Niederlagen der internationalen Arbeiterbewegung verantwortlich. Insbesondere aus der Niederlage des deutschen Proletariats, das 1933 aufgrund der verheerenden Politik der KPD Hitlers Machtübernahme gelähmt gegenüberstand, hatte Trotzki den Schluss gezogen, dass die Kommunistische Internationale nicht mehr für die Sache der sozialistischen Revolution zu gebrauchen war.

Die Krise der Führung der Arbeiterklasse konnte demnach nur durch den Aufbau von neuen proletarischen Parteien, von Sektionen der Vierten Internationale gelöst werden. "Die Vierte Internationale erklärt der Bürokratie der Zweiten und Dritten Internationale, der Amsterdamer und der anarchosyndikalistischen Internationale sowie ihren zentristischen Satelliten einen unversöhnlichen Krieg... All diese Organisationen sind nicht Bürgen der Zukunft, sondern faulende Überbleibsel der Vergangenheit," heißt es dementsprechend im Gründungsprogramm der Vierten Internationale.

Der Pablismus revidierte diesen Standpunkt. Unter dem Eindruck der Verstaatlichungen, die die stalinistische Bürokratie nach dem Zweiten Weltkrieg in den von der Roten Armee besetzten Ländern durchführte, verkündete Pablo, die stalinistische Bürokratie sei unter dem Druck objektiver Ereignisse zur Selbstreform fähig. Die Entwicklung zum Sozialismus werde über Jahrhunderte hinweg die Form "deformierter Arbeiterstaaten" annehmen, wie sie damals in Osteuropa entstanden. Die Aufgabe der Vierten Internationale bestehe dementsprechend nicht mehr darin, die stalinistischen Parteien zu bekämpfen, sondern sie zu beeinflussen, progressive Tendenzen in ihren Reihen zu finden oder sich ganz in ihnen aufzulösen.

Später sollte der Pablismus diese Haltung auch auf diverse kleinbürgerliche Bewegungen übertragen - die Bauernarmeen Mao Tsetungs, die Guerillas Fidel Castros, diverse nationale Befreiungsbewegungen und die Studentenbewegung der 60er Jahre. Der Tenor blieb immer derselbe - nicht die Arbeiterklasse unter ihrem eigenen, unabhängigen Banner war der Träger der sozialistischen Revolution, sondern andere gesellschaftliche Kräfte, die sich unter dem Druck objektiver Ereignisse nach links bewegen würden.

Die französischen Trotzkisten spalteten sich über diese Frage. 1952 schloss die pablistische Minderheit die orthodoxe Mehrheit mit Rückendeckung des von Pablo beherrschten Internationalen Sekretariats aus. Die Mehrheit, die spätere OCI, schloss sich 1953 dem Internationalen Komitee an. Die Minderheit blieb beim Internationalen (später: Vereinigten) Sekretariat. Aus ihr ging die Ligue communiste révolutionnaire (LCR) hervor, die heute von Alan Krivine geführt wird. Außerdem gab es in Frankreich noch eine dritte Tendenz, die sich auf den Trotzkismus berief, sich aber bereits 1938 geweigert hatte, der Vierten Internationale beizutreten - die heutige Lutte ouvrière unter Führung von Arlette Laguiller. Sie war stark syndikalistisch orientiert und blickte mit Verachtung auf die internationalen Auseinandersetzungen um die politische Orientierung.

Mitte der sechziger Jahre begann die OCI den Kampf, den das Internationale Komitee gegen den Pablismus geführt hatte, in Frage zu stellen. Das äußerte sich anfangs darin, dass sie die Vierte Internationale für tot erklärte: Sie sei durch den Pablismus zerstört worden und müsse neu aufgebaut werden.

Die britische Sektion des Internationalen Komitees, die Socialist Labour League (SLL), trat dieser Auffassung vehement entgegen. 1967 schrieb sie an die OCI: "Die Zukunft der Vierten Internationale ist im angestauten Hass von Millionen Arbeiter gegen die Stalinisten und Reformisten enthalten, die ihre Kämpfe verraten. Die Vierte Internationale muss bewusst um Führung kämpfen, um diesen Bedürfnissen entgegenzukommen... Nur der Kampf gegen den Revisionismus kann den Kader darauf vorbereiten, die Führung der Millionen Arbeiter zu übernehmen, die in den Kampf gegen den Kapitalismus und die Bürokratie hinein gezogen werden.... Der lebendige Kampf gegen den Pablismus und das Training von Kadern und Parteien auf der Grundlage dieses Kampfs war in den Jahren seit 1952 das Leben der Vierten Internationale." (Trotskysm versus Revisionism, vol. 5, London 1975, p. 107/114)

Am Vorabend der großen Klassenkämpfe von 1968 warnte die SLL auch vor den Konsequenzen der skeptischen Haltung der OCI: "Die Radikalisierung der Arbeiter in Westeuropa schreitet jetzt rasch voran, besonders in Frankreich... In einem solchen Entwicklungsstadium besteht immer die Gefahr, dass eine revolutionäre Partei nicht in revolutionärer Weise auf die Lage in der Arbeiterklasse reagiert, sondern sich an das Niveau anpasst, auf das die Arbeiter durch ihre eigene Erfahrung unter der alten Führung beschränkt sind, d.h. an die unvermeidliche anfängliche Verwirrung. Solche Revisionen des Kampf für die unabhängige Partei und das Übergangsprogramm werden üblicherweise unter dem Deckmantel ‚näher an die Arbeiterklasse', ‚Einheit mit allen, die sich im Kampf befinden', ‚keine Ultimaten stellen', ‚kein Dogmatismus' usw. versteckt." (ebd., S. 113-114)

Diese Warnung verhallte ungehört. Die Revolte von 1968 schwemmte Tausende neue, unerfahrene Mitglieder in die Reihen der OCI und ihrer Jugendorganisation AJS, und die OCI-Führung passte sich an deren Verwirrung an. Die Forderung nach einer "Klasseneinheitsfront" - die die SLL ebenfalls bereits 1967 kritisiert hatte - wurde nun zur Formel, mit der sich die OCI an die sozialdemokratische Bürokratie anpasste und die eben gewonnen neuen Kräfte in die alten, bürokratischen Apparate zurückführte.

Die Standpunkte der OCI unterschieden sich nun nicht mehr grundlegend von jenen der Pablisten. Der einzige Unterschied war, dass sich die OCI an der Sozialdemokratie orientierte und ihre Feindschaft gegen den Stalinismus immer mehr dem Antikommunismus der Sozialdemokratie anpasste, während die Pablisten ihre Orientierung auf die stalinistischen Parteien beibehielten.

In den siebziger Jahren entwickelte sich die OCI zu einem wichtigen Nachwuchsreservoir für die sozialdemokratische Bürokratie. Lionel Jospin ist nur einer von vielen Funktionären, die durch die Schule der OCI gingen. Laut Henri Weber, der von der pablistischen LCR zum rechten Flügel der Sozialistischen Partei fand, gibt es "Hunderte alte Trotzkisten in der Sozialistischen Partei. Das ist eine klassische Laufbahn. Man könnte aus ihnen eine Vereinigung bilden." Der Trotzkismus sei ein "hervorragende Kaderschule". Und der Jospin-Anhänger Marisol Touraine kommentierte den Vorwurf, Jospin sei im Auftrag der OCI in die Sozialistische Partei gegangen, mit den Worten: "Wozu soll der Entrismus gut sein, wenn am Schluss doch alle als Sozialdemoraten enden".

Auch in der Gewerkschaftsbürokratie machte sich die OCI breit. Vor allem zur Führung der Force ouvrière (FO), die als rechte Abspaltung aus der stalinistisch dominierten CGT hervorgegangen war, hielt sie enge Beziehungen. Zahlreiche Führungsmitglieder der OCI arbeiteten vollamtlich im Apparat der FO, OCI-Führer Pierre Lambert galt langte Zeit als enger Berater des FO-Vorsitzenden André Bergeron und dessen Nachfolger Marc Blondel soll seinen Posten sogar der Unterstützung der OCI verdanken.

Ende der 80er Jahre löste sich die OCI etwas von der Sozialistischen Partei und trat unter dem Namen Parti des travailleurs (PT) wieder selbständiger in Erscheinung. Das bedeutete aber keine Rückkehr zu einer orthodoxeren trotzkistischen Linie. Die PT ist ein Sammelbecken für rechte sozialdemokratische Bürokraten, die sich aus dem einen oder anderen Grund mit der Sozialistischen Partei überworfen haben oder bei der Vergabe von Posten zu kurz gekommen sind.

Für die Arbeiterklasse sind die Folgen der Politik der OCI verheerend. In den vierzehn Jahren in denen Mitterrand, gestützt auf die Union de la Gauche und dann in Kohabitation mit den Rechten, an der Macht war, sind ihre sozialen Errungenschaften stetig abgebaut worden, ohne dass sich eine politische Alternative angeboten hätte. Mitterrand ebnete schließlich den Weg für die Rückkehr der Gaullisten an die Macht.

Infolge der großen Streikbewegung vom Herbst 1996 wurde dann Jospin 1997 überraschend zum Regierungschef gewählt. Aber trotz der gelegentlichen linken Rhetorik unterscheidet sich seine Wirtschafts- und Sozialpolitik nicht wesentlich von der seiner konservativen Vorgänger. Inzwischen hat Jospins "Regierung der Mehrheitslinken" das in sie gesetzte Vertrauen weitgehend verspielt. Vor allem die Kommunistische Partei verliert an Einfluss. Die Partei, die in ihren besten Zeiten über zwanzig Prozent der Wählerstimmen auf sich vereinte, pendelt in der Wählergunst zwischen sieben und acht Prozent und ist von den Grünen überholt worden.

Insofern hat die gegenwärtigen Debatte über den "Trotzkismus" in der französischen Presse, die von zahlreichen Artikeln über die Geschichte des Trotzkismus begleitet wurde, auch einen aktuellen Bezug. Angesichts der Krise der Regierung Jospin hält die Bourgeoisie nach neuen Stützen auf der Linken Ausschau und hofft sie bei den "Trotzkisten" von LCR und Lutte ouvrière zu finden. Nach den Erfahrungen mit der OCI dürfte sie von den ursprünglichen Pablisten, die schon 1953 mit der Perspektive der Vierten Internationale brachen, kaum enttäuscht werden. Während sich Lutte ouvrière eng an die Gewerkschaften klammert, wartet die LCR sehnsüchtig darauf, dass ihr die Kommunistische Partei ein Angebot zur Zusammenarbeit unterbreitet.

Für die Arbeiterklasse haben beide Parteien keine Perspektive zu bieten. Dazu ist der Aufbau einer Sektion jener Partei notwenig, der die OCI 1971 den Rücken gekehrt hat: des Internationalen Komitees der Vierten Internationale.

(Dieser Artikel ist auch in der gleichheit - September 2001 enthalten.)
Loading