Regierungskrise in Polen

Innerhalb von zwei Wochen wollen sich die beiden Koalitionspartner der polnischen Regierung, die Wahlaktion Solidarität (AWS) und die kleinere Freiheitsunion (UW), auf die Bildung eines neuen Kabinetts verständigen. Dabei soll ein neuer Mann für den Posten des Premierministers gefunden werden, der den jetzigen Regierungschef Jerzy Buzek ablösen kann.

Die AWS hatte als Nachfolger bereits den als strammen Monetaristen bekannten Boguslaw Grabowski ins Gespräch gebracht, der gegenwärtig im zehnköpfigen "geldpolitischen Rat", einem Führungsgremium der Nationalbank sitzt. Sie wollte damit ihre Verpflichtung auf einen wirtschaftsliberalen Kurs unterstreichen. Doch Grabowski winkte ab.

Die fünf Minister der Freiheitsunion hatten am Montag ihren Rücktritt eingereicht. Neben Finanzminister Leszek Balcerowicz waren dies Außenminister Borislaw Geremek, Verteidigungsminister Janusz Onyszkiewicz, Justizministerin Hanna Suchocka sowie Transportminister Tadeusz Syryjczyk. Allerdings bat Balcerowicz den Regierungschef zugleich, die Ersuchen um Demission abzulehnen, damit Raum für Kompromissmöglichkeiten geschaffen werde. Abgeordnete der UW warfen Balcerowicz daraufhin vor, er habe die Rücktritte lediglich als "Geste" inszeniert.

Leszek Balcerowicz, Architekt des "Schockprogramms" von 1989 bis 1992, gilt als eine der einflussreichsten Figuren in der polnischen Politik und genießt das Vertrauen der internationalen Hochfinanz. Der Internationale Währungsfonds hat ihm bereits Führungsposten in Aussicht gestellt.

Seine Freiheitsunion (UW) ist auf jeden Fall zu einer Weiterführung der Koalition mit der AWS bereit, würden doch Neuwahlen ihr Aus bedeuten. In Umfragen liegt die AWS bei 16, die UW bei 11 Prozent. Man darf die Rücktrittsdrohungen getrost als Versuch zur Rettung des Regierungsbündnisses deuten.

Eine Auseinandersetzung zwischen UW und AWS um die Besetzung eines Postens im Stadtbezirk Warschau-Mitte war zum Anlass des Eklats geworden. Vorausgegangen waren jedoch ernstere Streitigkeiten, die sich vor allem an der Angleichung der polnischen Gesetzgebung an die Normen und Standards der Europäischen Union entzündet hatten.

Die Vorbereitung des bereits mehrmals hinausgeschobenen, nun für Anfang des Jahres 2003 geplanten EU-Beitritts des Landes erzeugt derartige soziale Spannungen, dass die dafür notwendigen Gesetzesänderungen immer wieder heftige Auseinandersetzungen im Parlament hervorrufen. Zwar sind sich alle wichtigen Parteien über den grundlegenden Kurs einig. Doch die Frage, auf wessen unmittelbare Kosten die EU-Anpassung durchzusetzen ist, liefert Stoff für reichlich Zwist. Die parlamentarische Demokratie, 1989 noch als große Errungenschaft gefeiert, wird nun als Hemmschuh für die "Reformpolitik" empfunden.

Bei mehreren Parlamentsabstimmungen über Gesetzentwürfe, auf die sich das Kabinett aus UW und AWS zuvor geeinigt hatte, waren jeweils zwischen zwanzig und dreißig Abgeordnete der AWS aus der Reihe getanzt und hatten die Vorlagen abgelehnt.

Die AWS, die aus den letzten Wahlen im Jahr 1997 als Sieger hervorgegangen war, hatte sich im Vorjahr als loses Bündnis von 35 rechtsgerichteten Gruppierungen unter der Führung der Bauern-Solidarnosc gegründet. Das Abstimmungsverhalten ihrer Abgeordneten entspricht der Vielfalt ihrer Klientel.

Die von Balcerowicz ausgearbeiteten Pläne zur Steuerreform, die bereits letztes Jahr im Parlament durchgefallen waren, erhielten beispielsweise dieses Jahr trotz einer vorherigen Absprache mit der AWS wieder nicht die notwendige Mehrheit. Daneben widersetzten sich einige Abgeordnete der AWS auch Gesetzen zur Lockerung des Arbeitsmarktes, zur raschen Privatisierung von Stahl und Bergbau sowie zur "Korruptionsbekämpfung". Ebenso scheiterte die Einführung einer 3-prozentigen Mehrwertsteuer auf Agrarprodukte.

Bis zum angestrebten Beitrittstermin zur EU muss das polnische Parlament mindestens noch 100 Gesetzesnovellen verabschieden. Das Tempo bisher: seit Jahresbeginn wurden sechs Gesetze unter Dach und Fach gebracht.

Die Europäische Kommission äußerte sich anlässlich der jüngsten Regierungskrise "besorgt" über die Lage in Polen. Die polnische Zentralbank-Chefin Hanna Gronkiewicz-Waltz pochte auf die Notwendigkeit eines Sparhaushalts für das kommende Jahr. Eine schwache Regierung drohe zur Geisel von Interessensgruppen zu werden, die sich ihre Unterstützung in bar bezahlen ließen. Eine druckanfällige Regierung bilde eine Gefahr für das Reformprogramm.

Laut einer Meldung der Nachrichtenagentur Reuter denken Analysten der Banken- und Finanzwelt laut darüber nach, ob nicht vorgezogene Neuwahlen begrüßenswert wären, auch wenn sie die Demokratische Linkspartei SDL an die Macht brächten, die Umfragen zufolge gegenwärtig auf 44 Prozent der Wählerstimmen käme. (Die SDL ist die Nachfolgeorganisation der früheren stalinistischen Regierungspartei.)

Andere spekulieren, ob eine Koalition von UW und SDL, die sich programmatisch wenig unterscheiden, nicht die kostengünstigste Lösung wäre. Die UW hat ihre prinzipielle Bereitschaft zu einer solchen Variante zu erkennen gegeben. Die Regierung konnte sich schon bisher, auch wenn ihre eigenen Abgeordneten gelegentlich quer schossen, bei der Übernahme des EU-Rechts auf die Stimmen der SDL verlassen.

Trotzdem scheint die SDL, die mit Alexander Kwasniewski den Staatspräsidenten stellt, wenig Berufung zu dieser undankbaren Aufgabe zu verspüren. Kwasniewski betonte nach einem Treffen mit Buzek, man müsse die Krise nun gemeinsam meistern: "Polen steht an einem Wendepunkt. Wir führen schwierige Verhandlungen mit der EU, wir müssen einen Haushalt für das kommende Jahr beschließen, und die Koalition muss viele Gesetze abstimmen und beschließen."

Problem Landwirtschaft

Die brisante Lage der polnischen Landwirtschaft bildet einen der Hauptgründe für die Spannungen zwischen der EU und Polen. Sie dürfte einer der wichtigsten Faktoren für die gegenwärtige Regierungskrise sein.

Die Bedingungen der Europäischen Union für eine Aufnahme Polens bedeuten den Ruin der polnischen Kleinbauern. Bestenfalls ein Drittel der bestehenden Betriebe gilt als überlebensfähig gegenüber der Konkurrenz aus Westeuropa.

Mit über zwei Millionen eingetragenen Familienbetrieben machen die kleinen Landwirte nicht nur zahlenmäßig eine recht breite Schicht der Bevölkerung aus, sondern bilden vielfach auch die letzte Schranke vor nacktem Elend. Manch eine Familie hält sich nur noch vermittels ihrer Verbindung zum Hof eines Verwandten über Wasser.

Polen hat 38 Millionen Einwohner. Mehr als ein Viertel der Beschäftigten sind in der Landwirtschaft tätig, die meisten in den kleinen Privatbetrieben. Es gibt daneben rund 1500 Staatsgüter und 1700 Genossenschaften. Dort wurden bereits 300.000 Landarbeiter entlassen.

Von den Familienbetrieben werden ein Fünftel als Vollzeitbetrieb geführt, 40 Prozent als Teilzeit- oder Ergänzungsbetrieb. Das Einkommen der Vollzeit-Bauern liegt bereits rund 20 Prozent unter dem Durchschnittseinkommen. Sie hatten in den letzten zehn Jahren besonders unter dem Einbruch des sowjetischen Marktes zu leiden. Die Krise von 1989 -1993 halbierte das Einkommen der meisten Bauern.

Die polnischen Bauern beliefern Getreide- und Ölmühlen, Molkereien, Schlachthöfe, Zuckerraffinieren und Stärkefabriken, die bisher kaum privatisiert worden sind. Sie stammen oftmals noch aus der Zwischenkriegszeit und sind in diesem Falle schrottreif. Beliefert werden sie vermittels der "landwirtschaftlichen Marktagentur" ARR, der vorgeworfen wird, die Agrarpreise durch gezielte Interventionskäufe künstlich hoch zu halten.

Polen verlangt im Falle seines EU-Beitritts Beihilfen für die Bauern in Höhe von mehreren Milliarden DM; die EU hält dem entgegen, diese Art von Subventionszahlungen seien nur für die Folgen bereits erfolgter Strukturreformen, nicht für künftige Veränderungen vorgesehen.

Bereits im April war es zu einem spektakulären Abbruch der Gespräche zwischen den Vertretern der EU und der polnischen Regierung gekommen, nachdem Polen eine im Dezember erfolgte Anhebung von Importzöllen auf EU-Agrarprodukte nicht zurücknehmen wollte. Die Zollanhebung war eine Reaktion auf heftige Bauernproteste gewesen; sie betraf Erzeugnisse, die auch in Polen reichlich hergestellt werden: Schweinefleisch, Getreide und Zucker.

Die EU sprach daraufhin von einer Verletzung des Assoziationsabkommens von 1995, das beide Seiten zum Abbau von Einfuhrbeschränkungen verpflichtet - was sich de facto natürlich immer zu Gunsten des Stärkeren auswirkt. Die Erfüllung dieses Abkommens gilt als Bedingung für den Beginn der Verhandlungen über das Agrar-Kapitel im Rahmen der Erweiterungsverhandlungen.

Gerade die häufig unter archaischen Verhältnissen lebende Landbevölkerung, die Jahrzehnte lang als Stütze der katholischen Kirche und der Opposition gegen den Stalinismus von rechts diente, stemmt sich, seit die offiziellen Erweiterungsverhandlungen mit der EU vor zwei Jahren aufgenommen wurden, immer vehementer der Öffnung der polnischen Wirtschaft gegenüber dem Weltmarkt entgegen. Ironischerweise wendet sich der eigenartige konservative Bauernradikalismus nun nicht mehr gegen den vermeintlich "kommunistischen" Staat, sondern gegen das kapitalistische Europa.

Angesichts des Fehlens einer Arbeiterbewegung, die eine eigenständige Alternative bieten würde, kann die Notlage der Landwirte von äußerst rechten Kräften ausgenutzt werden. Die heftige Protestbewegung der Bauern vom vergangenen Jahr stand unter der Führung eines nationalchauvinistischen Demagogen, Jerzy Lepper.

Die sozialen Probleme, die mit dem Beitritt zur EU verbunden sind, werden sich durch einen Wechsel des Premierministers oder den Austausch anderer Kabinettsmitglieder nicht lösen lassen. Die gängigen Medienkommentare, die Jerzy Buzek seine mangelnde Autorität innerhalb der AWS vorwerfen, übersehen nur allzu leicht, dass Buzeks Schwäche weniger die Ursache, als die Folge der Schwäche der polnischen Regierung insgesamt darstellt. Die herrschende Schicht kann sich gegenüber der eigenen Bevölkerung nur halten, wenn sie eine Stütze in der EU findet. Doch die EU verlangt Angriffe auf die polnische Bevölkerung, die zu einer weiteren sozialen und politischen Isolation der herrschenden Elite führen.

Siehe auch:
Polens soziale Lage zum Zerreißen gespannt
(6. Oktober 1999)
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