Nick Beams, Mitglied der internationalen Redaktion der World Socialist Web Site und nationaler Sekretär der australischen Socialist Equality Party, hielt Mitte 2000 eine öffentliche Vorlesungsreihe an sechs australischen Universitäten in Sydney, Melbourne, Newcastle und Canberra. Sie stand unter dem Titel "Globalisierung: Die sozialistische Perspektive" und wird im Folgenden vollständig wiedergegeben.
Der Anbruch des 21. Jahrhunderts bietet verständlicherweise Anlass zu einem Rückblick auf die vergangenen hundert Jahre und lässt Fragen nach der zukünftigen Entwicklung der Zivilisation aufkommen. Solche Fragen werden nicht allein durch den Wechsel des Kalenders hervorgerufen, sondern durch das Gefühl, dass die Gesellschaft eine ungeheure Veränderung erfährt, die das Leben kommender Generationen prägen wird.
In der vergangenen Periode waren wir Zeugen einer erstaunlichen Entwicklung der Wissenschaften und Produktionstechniken - die Entwicklung und Verbreitung von Computern, Gentechnik und Kommunikationssystemen, von denen man vor wenigen Jahren nur träumen konnte, sind nur einige Beispiele hierfür. Aber dieses verblüffende Wachstum der Wissenschaft, Technik und Produktivkräfte der Menschheit kontrastiert schroff mit dem anderen vorherrschenden Merkmal dieser Periode - dem überwältigenden Gefühl von sozialer Ohnmacht und gesellschaftlicher Rückentwicklung.
Verbunden mit der Globalisierung sämtlicher Aspekte des Wirtschaftslebens hat sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten das Tempo der gewaltigen Veränderungen in den Produktionsprozessen immer weiter beschleunigt und alle alten politischen und ökonomischen Gewissheiten beseitigt. Massen von Menschen in der ganzen Welt finden sich wie in einem Strudel gefangen. Sie fühlen sich von Kräften hin- und hergeworfen, die sie nicht kontrollieren und die anscheinend niemand beherrscht.
Jeder Tag bringt eine neue Katastrophe: Hungersnöte, Bürgerkriege und ethnische Konflikte, Fabrikschließungen, Stellenabbau oder Sozialkürzungen.
Und über der ganzen Welt hängt die Drohung einer großen Wirtschaftskrise. Die Stürme in der Finanzwelt, die im letzten Jahrzehnt die kapitalistische Weltwirtschaft heimgesucht haben, sind in dieser Hinsicht Warnsignale.
Im Altertum befragten die Menschen die Sterne, um eine Orientierung für ihr Leben zu finden, oder sie suchten in der Natur nach Zeichen, ob die Gunst der Götter mit ihnen sei. Moderne Menschen lehnen ein solches Vorgehen ab. Aber täglich verfolgen Millionen Menschen auf der ganzen Welt den Dow Jones, NASDAQ oder einen anderen Aktienmarktindex, um in Erfahrung zu bringen was die Zukunft für sie auf Lager hat, ganz so, als ob die gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung von einer Ziffer bestimmt würde.
Obwohl sich dieses Gefühl der Ungewissheit enorm ausgebreitet hat, ist es nicht neu. Tatsächlich ist die gegenwärtige Situation das Ergebnis von Prozessen, die der Entwicklung des globalen kapitalistischen Systems seit seiner Entstehung innewohnen. Vor mehr als 150 Jahren schrieb Karl Marx im Manifest der Kommunistischen Partei: "Die Bourgeoisie kann nicht existieren, ohne die Produktionsinstrumente, also die Produktionsverhältnisse, also sämtliche gesellschaftlichen Verhältnisse fortwährend zu revolutionieren. [...] Die fortwährende Umwälzung der Produktion, die ununterbrochene Erschütterung aller gesellschaftlichen Zustände, die ewige Unsicherheit und Bewegung zeichnet die Bourgeois-Epoche vor allen früheren aus. Alle festen, eingerosteten Verhältnisse mit ihrem Gefolge von altehrwürdigen Vorstellungen und Anschauungen werden aufgelöst, alle neugebildeten veralten, ehe sie verknöchern können. Alles Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige wird entweiht, und die Menschen sind endlich gezwungen, ihre Lebensstellung, ihre gegenseitigen Beziehungen mit nüchternen Augen anzusehen."
Dies ist die Aufgabe, die wir uns für unsere Vorlesung vorgenommen haben: mit nüchternen Augen die Lebensstellung, d.h. die wahren Lebensbedingungen, anzusehen und aus dieser Gegenüberstellung einen Weg in die Zukunft zu weisen.
Einige meinen allerdings, dass eine solche Analyse nicht notwendig sei. Ein Artikel, der am 23. Mai auf der Leserbriefseite der Zeitung Australian Financial Review erschien, trug die Überschrift "Nein wirklich - es ging uns noch niemals so gut" und den Untertitel "Dankt dem freien Markt für unseren beispiellosen Wohlstand". Der Artikel beginnt dann folgendermaßen: "Die Bevölkerungen der entwickelten Ökonomien sind heute die reichsten und freisten Menschen, die die Welt jemals gesehen hat. Wir genießen ein beispielloses Niveau im Bereich der Gesundheit, Lebenserwartung, Mobilität, Sicherheit, Bildung und Annehmlichkeiten. Wir können mit Zuversicht sagen, dass die Probleme des Erlangens und der Sicherung von Wohlstand und Freiheit - die zentralen Probleme der Menschheit im 20. Jahrhundert - nun im Wesentlichen gelöst sind."
Der Artikel fährt fort zu erklären, dass der Kapitalismus seine Überlegenheit über den Sozialismus in genau dem Bereich bewiesen habe, den der Sozialismus für seine Stärke hielt: das Los der einfachen Leute zu verbessern. "Wenn wir nun alle Kapitalisten sind, dann weil wir modernen Menschen - Rechte, Linke und die politische Mitte - alle durch und durch Verfechter des Egalitarismus sind und der Kapitalismus sich als egalitärstes aller Systeme erweist."
Die hier aufgestellten Behauptungen sind natürlich ungeheuer dumm. Aber sie unterscheiden sich nicht wesentlich von den Erklärungen, die zu Beginn der 90-er Jahre überall zu hören waren, als die stalinistischen Regimes in der Sowjetunion und Osteuropa zusammenbrachen und dies als "Tod des Sozialismus" und "Sieg des Marktes" bejubelt wurde.
Von der Rednerbühne im Parlament zu den Vorlesungssälen der Universitäten, in Zeitungsartikeln und wissenschaftlichen Aufsätzen gleichermaßen wurde dasselbe Thema endlos wiederholt: Der große ideologische und politische Kampf des 20. Jahrhunderts sei vorbei. Fortan würde der Markt, basierend auf dem Privateigentum an Produktionsmitteln und finanziellen Ressourcen, und mit seinem schonungslosen Konkurrenzkampf um die Akkumulation von Profit im Interesse des Kapitals, unangefochten regieren.
Eine Tatsache wurde nie berücksichtigt. Nämlich, dass die stalinistischen Regimes, auf deren Ableben sich diese Behauptungen stützten, niemals echten Sozialismus repräsentiert hatten, sondern einen despotischen bürokratischen Apparat, der durch die brutale Unterdrückung der Arbeiterklasse und die Ermordung ihrer revolutionären Führung an die Macht gekommen war. Keine Untersuchung der Fakten durfte sich der Annahme in den Weg stellen, der kapitalistische Markt habe sich als einzig lebensfähige Form der gesellschaftlichen Organisation erwiesen.
Empirische Überprüfung
Diese Erklärungen wurden in der nachfolgenden Periode von stürmischen legislativen und politischen Veränderungen begleitet, als das Programm des uneingeschränkt freien, kapitalistischen Marktes den Erdball eroberte - dieser Prozess hatte bereits unter Federführung der Regierungen Thatcher und Reagan in den 80-er Jahren begonnen. Sozialdemokratische Parteien, die über Jahrzehnte behauptet hatten, der Kapitalismus lasse sich im Interesse der breiten Bevölkerung reformieren, warfen ihre Politik der Sozialreform über Bord. Gewerkschaftsführungen beeilten sich eine Partnerschaft mit dem Kapital einzugehen, um die Rentabilität und "internationale Wettbewerbsfähigkeit" auf dem globalen Markt sicherzustellen. Und die Führer der nationalistischen Regimes in den sogenannten unterentwickelten Ländern entsagten ihren Programmen zur nationalen wirtschaftlichen Entwicklung und erklärten ihre Bereitschaft, dem globalen Kapital Investitionsmöglichkeiten zu schaffen und die "Prinzipien des freien Marktes" einzuhalten.
In den vergangenen 25 Jahren, die im rasenden Entwicklungstempo des letzten Jahrzehnts ihren Höhepunkt fanden, ist die Wirtschaftsorganisation der gesamten Welt unter den Einfluss des globalen kapitalistischen Marktes geraten. In keiner anderen Periode der menschlichen Geschichte hat er eine solche Dominanz ausgeübt. Dies versetzt uns in die denkbar günstigste Position, um die Behauptungen seiner Befürworter zu beurteilen und zu untersuchen, wie sie der Prüfung durch historische Erfahrung standhalten.
In jüngster Zeit ist eine Menge an Informationen veröffentlicht worden, die das überwältigende Anwachsen der sozialen Gegensätze im Weltmaßstab zeigen. Beispielsweise entspricht der Reichtum der 475 Milliardäre weltweit dem addierten Einkommen von mehr als 50 Prozent der Weltbevölkerung, also etwa drei Milliarden Menschen. Und diese Aufhäufung von Reichtum beschleunigt sich. Die Anzahl der Milliardäre allein in den Vereinigten Staaten ist von 13 im Jahre 1982 auf 149 im Jahre 1996 gestiegen und seitdem weiter angewachsen.
Nach dem Weltentwicklungsbericht der Vereinten Nationen von 1998 übersteigt das Vermögen der drei reichsten Einzelpersonen in der Welt das addierte Bruttoinlandsprodukt (BIP) der 48 am wenigsten entwickelten Länder. Die 15 reichsten Personen verfügen über ein Vermögen, das größer ist als das BIP sämtlicher afrikanischer Staaten südlich der Sahara, und das Vermögen der 32 Reichsten übertrifft das BIP von Südasien. Der Reichtum der 84 reichsten Individuen schließlich übersteigt das BIP von China mit seinen 1,2 Milliarden Einwohnern.
Und was ist mit der Mehrheit der Weltbevölkerung?
Von den 4,4 Milliarden Menschen in sogenannten Entwicklungsländern leben beinahe drei Fünftel ohne sanitäre Einrichtungen, ein Drittel hat keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser und ein Viertel keine vernünftige Unterkunft. Ein Fünftel der Bevölkerung in diesen Ländern ist unterernährt und der gleiche Anteil hat keinen Zugang zu anständiger medizinischer Versorgung.
Zwischen 1960 und 1994 hat sich die Kluft im Pro-Kopf-Einkommen zwischen dem reichsten und dem ärmsten Fünftel der Weltbevölkerung mehr als verdoppelt. Die entsprechende Rate vergrößerte sich von 30:1 auf 78:1, und hatte im Jahre 1995 das Verhältnis 82:1 erreicht.
Im Jahr 1997 entfiel auf das reichste Fünftel der Weltbevölkerung 86 Prozent des Welteinkommens, während das ärmste Fünftel ganze 1,3 Prozent davon erhielt. Mehr als 1,3 Milliarden Menschen sind gezwungen von weniger als einem Dollar am Tag zu existieren - eine lebensbedrohliche Situation. Nach Angaben der Vereinten Nationen erfuhren 100 der 147 Länder, die als "Entwicklungsländer" eingestuft werden, in den vergangenen 30 Jahren einen "bedenklichen wirtschaftlichen Abstieg".
Die Verarmung ganzer Bevölkerungen in großen Gebieten der Erde ist nicht die Folge von "Naturkatastrophen", sondern geht direkt auf das Wirken der Finanzmärkte und die "Strukturanpassungsprogramme" des Internationalen Währungsfonds zurück. Diese werden im Auftrag und zugunsten der Banken und großen internationalen Finanzinstitutionen durchgeführt mit dem Ziel, die besten Bedingungen für die Herrschaft des internationalen Kapitals zu schaffen.
Trotz eines massiven Schuldendienstes, der enorme soziale Kosten mit sich brachte, steigt das Niveau der Verschuldung. 1990 lag die addierte Schuldenlast der Entwicklungsländer bei 1,4 Billionen Dollar, 1997 war sie auf 2,17 Billionen gestiegen. In Afrika betrug die Verschuldung 370 Dollar pro Bewohner des Kontinents. In einigen Ländern überstieg die Verschuldung das Vierfache des Bruttoinlandsprodukts. 1998 bezahlten die Länder der Dritten Welt täglich 717 Millionen Dollar an die großen Banken und Finanzinstitutionen zurück.
Und nirgendwo haben die Verwüstungen größere Ausmaße angenommen als in der ehemaligen Sowjetunion - dem Territorium, von dem die Sprecher des Kapitalismus behaupteten, dass der Markt dort wahre "Wunder" vollbringen würde.
Es wird geschätzt, dass sich die russische Wirtschaft seit 1989 um die Hälfte reduziert hat. Unter ökonomischen Gesichtspunkten ist sie heute nicht größer als die der Niederlande. Der Produktionsrückgang ist größer als im Jahr 1942, als ein großer Teil der Sowjetunion von den Nazis besetzt war.
Die Geburtenrate hat sich seit 1985 halbiert und wird von der Sterberate um den Faktor 1,6 übertroffen, so dass bei Beibehaltung der derzeitigen Entwicklung die russische Bevölkerung im nächsten Jahrzehnt um ein Fünftel zurückgehen wird. Die Lebenserwartung eines männlichen 16-jährigen Russen war zu Beginn des letzten Jahrhunderts höher als heute. Das bedeutet: Trotz zwei Kriegen, einem Bürgerkrieg, Hungersnot, den todbringenden "Säuberungen" und dem Gulag, hatte ein 16-jähriger Junge im Jahre 1900 eine um zwei Prozent höhere Chance sein 60. Lebensjahr zu erleben als im Jahre 2000.
Selbst wenn ein böser Geist beschlossen hätte der Menschheit übel mitzuspielen, hätte er sicher keine solche Situation heraufbeschwören können, wie sie sich heute vor uns entfaltet. Zu Beginn des neuen Jahrhunderts nimmt der "Triumph des Marktes" die Gestalt einer beständig größer werdenden Katastrophe an.
In allen Winkeln der Welt sind die sozialen Bedingungen von sich verschärfender Armut und wachsender sozialer Ungleichheit gekennzeichnet, was zu ständigen humanitären Katastrophen führt.
Und mitten in diesem sozialen Desaster hat die "neue Weltordnung" ihr wahres Gesicht gezeigt - in ihrem neuerlichen Streben nach Weltherrschaft brechen die imperialistischen Großmächte brutale Kriege vom Zaun.
Der Zusammenhang zwischen der Herrschaft des "freien Marktes" und dem Einsatz militärischer Macht wurde von Thomas Friedman, einem Auslandredakteur der New York Times, prägnant zusammengefasst. Der Artikel erschien vor einem Jahr, als der Angriff der NATO gegen Jugoslawien stattfand, und stellt fest:
"Die unsichtbare Hand des Marktes wird niemals ohne seine Faust funktionieren - McDonald's kann ohne McDonnell Douglas, den Erbauer der F-15, nicht gedeihen. Und die Faust, die die Welt für die Technologien des Silicon Valley sichert, sind die Armee, die Luftwaffe und die Marine der Vereinigten Staaten. [...] Ohne Amerika auf der Wacht wird es kein America Online geben."
Kapitalismus hat für die große Masse der Weltbevölkerung immer Elend bedeutet, aber in den vergangenen 50 Jahren haben seine Verteidiger argumentiert, dass er zumindest in den wohlhabendsten Ländern der Mehrheit der arbeitenden Bevölkerung einen steigenden Lebensstandard beschert habe. Dies ist nicht länger der Fall. Die ökonomische Expansion der letzten 25 Jahre hat nicht nur zu einer stärkeren sozialen Polarisierung geführt, sondern auch zu einem Niedergang der Realeinkommen für die Mehrheit der Lohnempfänger. Nirgendwo ist diese globale Tendenz augenscheinlicher als in den Vereinigten Staaten, die als Modell für die Wirtschaft des "freien Marktes" angesehen werden.
Es wird geschätzt, dass die Reallöhne in den Vereinigten Staaten heute um sieben Prozent niedriger sind als 1973. Nicht einmal in den 25 Jahren, über die sich die große Depression der 1930-er Jahre erstreckte, schrumpften die Reallöhne über solch einen langen Zeitraum.
Das Sinken der Reallöhne für die Mehrheit der Arbeiter ist das Ergebnis einer Umverteilung des Reichtums nach oben. 1962 erhielten die unteren 90 Prozent der Bevölkerung 69 Prozent des gesamten Einkommens. 1992 entfielen auf dieselbe Gruppe nur noch 59 Prozent. Mit anderen Worten: In diesem Zeitraum sind zehn Prozent der Einkommen nach oben umverteilt worden, und das meiste davon landet bei dem reichsten Prozent der Bevölkerung. In absoluten Zahlen beläuft sich dies auf rund 700 Milliarden Dollar pro Jahr.
Es wird geschätzt, dass der Reichtum der 400 reichsten Amerikaner im Zeitraum von 1997 bis 1999 um durchschnittlich jeweils 940 Millionen Dollar gewachsen ist. Allerdings ist in den zwölf Jahren von 1983 bis 1995 das Nettovermögen der unteren 40 Prozent der Haushalte um 80 Prozent gesunken. So viel zum Effekt des "Durchsickerns", der von den Fürsprechern des freien Marktes so geliebt wird. Viel eher haben wir es hier mit einem Prozess des "Hochsaugens" zu tun.
Das addierte Nettovermögen der 400 reichsten Amerikaner lag im September 1999 bei einer Billion Dollar, gestiegen von 738 Milliarden Dollar im Vorjahr. Nur ein Fünftel der zugelegten Summe, rund 48 Milliarden Dollar, hätten ausgereicht, um alle offiziell als arm registrierten Amerikaner (etwa 15 Prozent der Bevölkerung und 25 Prozent aller Kinder) über die Armutsgrenze zu heben.
Ähnliche Statistiken können für alle großen kapitalistischen Länder angeführt werden. Zum Beispiel eine kürzlich veröffentlichte Studie über Australien: "1994 erhielten die obersten 20 Prozent der Haushalte 40 Prozent des insgesamt verfügbaren Einkommens; die unteren 20 Prozent erhielten weniger als sechs Prozent. Verglichen mit 1984 ging der Anteil der unteren drei Fünftel zurück, das vierte Fünftel konnte seinen Anteil halten und das oberste Fünftel seinen Anteil vergrößern. Das real verfügbare Einkommen war 1994 für alle außer dem obersten Fünftel niedriger, trotz der Zunahme an Haushalten mit zwei Einkommen."[1] Mit anderen Worten hat sich die Lage für die große Mehrheit der Bevölkerung nicht nur im relativen Vergleich verschlechtert, sondern auch in absoluten Zahlen; die Reallöhne sind gesunken.
Der Ausbruch der sogenannten Asienkrise von 1997/98 versetzte den Fürsprechern des "freien Marktes" einen vernichtenden Schlag. Schließlich wurde noch 1993 das Wachstum in dieser Region von der Weltbank als "asiatisches Wirtschaftswunder" bezeichnet und diente als Beweis für die Fähigkeit des kapitalistischen Marktes, der Armut ein Ende zu bereiten.
Von dem offensichtlichen Widerspruch zwischen ihren Behauptungen und deren Überprüfung durch die Wirklichkeit zeigten sich die führenden Vertreter des globalen Kapitalismus jedoch unbeeindruckt und antworteten mit einer noch schärferen Verteidigung des "freien Marktes".
Im April 1998, als die Asienkrise in vollem Gange war, behauptete Alan Greenspan, der Chef der amerikanischen Notenbank, in einer längeren Rede, die Krise wäre "ein wichtiger Meilenstein für eine zweifellos bedeutende und scheinbar unerbittliche Entwicklung zum Markt-Kapitalismus gewesen". Laut Greenspan entspringt der Markt "tief verankerten, unveränderlichen Werten in der menschlichen Natur", und die "Geschichte ist voll mit Beispielen von wirtschaftlichen und sozialen Systemen, die versucht haben sich der menschlichen Natur entgegenzustellen oder sie zu verändern, daran aber gescheitert sind".
Offensichtlich sind die ideologischen Verteidiger des Kapitalismus nicht weit über den konservativen englischen Philosophen des 18. Jahrhunderts Edmund Burke hinausgekommen, der von der kapitalistischen Gesellschaft behauptete, dass sie sowohl natürlich als auch heilig sei. "Die Gesetze des Handels", schrieb er vor mehr als 200 Jahren, "sind Naturgesetze und folgerichtig Gesetze Gottes."
Oder mit Greenspans Worten: "Die Lehre, die sich uns aufdrängt, ist, dass nur die Systeme des freien Marktes die Flexibilität und Robustheit an den Tag legen, um die menschliche Natur und die sich schnell entwickelte Technologie in Einklang zu bringen und den Lebensstandard fortschreitend zu erhöhen."
Die Aufgabe dieser Vorlesung besteht jedoch nicht darin, lediglich empirisch aufzuzeigen, welch schreiender Widerspruch sich zwischen der wirklichen Lage der Mehrheit der Weltbevölkerung und den Erklärungen der Verteidiger des Kapitals über die Wunder des freien Marktes und die Vorzüge des Profitsystems auftut.
Es ist notwendig aufzudecken, warum die sich vertiefende Polarisierung nach Marx die "Akkumulation von Reichtum auf dem einen Pol ... also zugleich Akkumulation von Elend, Arbeitsqual, Sklaverei, Unwissenheit, Bestialisierung und moralischer Degradation auf dem Gegenpol" [MEW Bd. 19, S. 218] in der dem Profitsystem eigenen Logik verankert ist. Weiterhin muss herausgestellt werden, inwiefern die Entwicklung des globalen Kapitalismus nicht nur den Übergang zu einem neuen und höheren System, das die menschlichen Bedürfnisse befriedigt, notwendig macht, sondern auch tatsächlich die objektive Grundlage hierfür schafft.
Die Akkumulation des Profits
Für diese Analyse müssen einige grundlegende Fragen aufgegriffen werden. Kapitalismus als gesellschaftliches Produktionssystem zielt nicht auf die Produktion von Wohlstand als solchem und ist, anders als seine Verteidiger behaupten, kein Produktionssystem, dessen Ziel darin besteht, die Bedürfnisse und Wünsche der Konsumenten zu erfüllen.
Die treibende Kraft der kapitalistischen Produktionsweise ist die Akkumulation von Profit - die endlose Vergrößerung des Wertes, dessen Quelle die Arbeitskraft der Arbeiterklasse ist.
Jede Klassengesellschaft gründet sich letztendlich auf die Extraktion von Mehrarbeit aus der Klasse der direkten Produzenten zu Gunsten der Besitzer der Produktionsmittel. Aber Klassengesellschaften unterscheiden sich grundlegend in ihrer Struktur. Diese Unterschiede werden letztendlich von gesellschaftlichen Mechanismen definiert, mittels derer die Extraktion von Mehrarbeit stattfindet. In früheren Formen der Klassengesellschaft - wie der Sklaverei und dem Feudalismus - wurde die Extraktion von Mehrarbeit durch die Anwendung politischer Gewalt verwirklicht. Im Kapitalismus geschieht das durch ein System gesellschaftlicher Beziehungen auf der Grundlage des freien Marktes, das im Lohnsystem seine höchste Entwicklung durch den Arbeitsmarkt erreicht.
Mehrarbeit nimmt im Kapitalismus die Form von Mehrwert an. Der Ursprung des Mehrwerts ist die Differenz zwischen dem Wert der Ware, die der Arbeiter mit dem Lohnvertrag dem Kapital verkauft - das ist seine Arbeitskraft oder seine Fähigkeit zu arbeiten - und dem Wert, den der Gebrauch seiner Arbeitskraft im Produktionsprozess erzeugt. Der Wert der Arbeitskraft und der Wert, den der Arbeiter im Laufe eines Arbeitstages im Produktionsprozess erzeugt, sind zwei vollkommen verschiedene Größen. Die Differenz zwischen ihnen ist die Quelle des Mehrwerts, der an der Oberfläche der Gesellschaft in Form von Profit, Gewinn und Rendite erscheint.
Aber die Extraktion des Mehrwerts ist von einem tiefen Widerspruch gekennzeichnet, der die treibende Kraft bei der Entwicklung der Produktivkräfte innerhalb der kapitalistischen Wirtschaft ist.
Die einzige Quelle des Profits ist der Mehrwert, der aus der lebendigen Arbeit der Arbeiterklasse geschöpft wird. Aber die Profitrate - das Maß, in dem sich das Kapital vergrößert - berechnet sich über die absolute Menge des Kapitals, das im Produktionsprozess eingesetzt ist. Dieses Kapital setzt sich aus zwei Bestandteilen zusammen: einerseits dem Kapital, das zum Kauf von Arbeitskraft eingesetzt wird und die Quelle des Mehrwerts ist (variables Kapital), und andererseits dem Kapital, das in Rohstoffe und Maschinen gesteckt wird und im Produktionsprozess lediglich seinen Wert behält (konstantes Kapital).
Da die Akkumulation des Kapitals gekennzeichnet ist von einer anhaltenden Tendenz des konstanten Kapitals, seinen Anteil in Relation zum variablen Kapital zu vergrößern - ein Ausdruck der wachsenden Arbeitsproduktivität - kommt es zum tendenziellen Fall der Profitrate. Anders ausgedrückt: Expandiert das Kapital als Ganzes, tendiert die relative Größe der mehrwertproduzierenden Komponente dieses Kapitals dazu, kleiner zu werden. Folgerichtig tendiert die Profitrate, das Verhältnis des Mehrwerts zur absoluten Menge an Kapital, zu fallen.
Marx bezeichnete dieses Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate, vor allem vom historischen Standpunkt aus betrachtet, als das wichtigste Gesetz der politischen Ökonomie. Und zwar nicht, wie manchmal irrtümlich behauptet wird, weil es darauf hinausliefe, dass das kapitalistische System eines Tages zu funktionieren aufhört, weil die Profitrate bei Null angekommen ist. Sondern im Gegenteil zeigt dieses Gesetz, wie die ständige Revolutionierung der Produktionskräfte den ihr innewohnenden Widersprüchen der kapitalistischen Ökonomie selbst entspringt.
Das Kapital versucht den tendenziellen Fall der Profitrate durch die Entwicklung neuer Produktionsmethoden zu bezwingen, indem neue Technologien eingesetzt werden, die es möglich machen, einen höheren Mehrwert aus der Arbeiterklasse herauszuziehen. Die Entwicklung solcher Methoden kann Bedingungen schaffen, unter denen die Profitrate gleich bleibt oder sogar gesteigert wird. Aber unvermeidlich verursacht die Akkumulation des Kapitals selbst einen Fall der Profitrate und veranlasst dadurch das Kapital zur weiteren Revolutionierung der Produktivkräfte, um diesen Effekt zu überwinden.
Das Ende der Nachkriegsexpansion
Auf der Grundlage dieser theoretischen Überlegungen wenden wir uns nun der jüngsten Phase der kapitalistischen Entwicklung zu, die mit der Globalisierung der Produktion verbunden ist.
Ihre Ursprünge liegen in dem Wiederauftreten fallender Profitraten zu Beginn der 70er Jahre. Im Anschluss an den Zweiten Weltkrieg durchlief das kapitalistische System über 25 Jahre hinweg eine beispiellose Periode der Expansion. Viele Faktoren trugen hierzu bei: die politischen und ökonomischen Vereinbarungen der Nachkriegszeit, die von den Vereinigten Staaten durch den Marshall-Plan initiiert wurden, die Übernahme keynesianischer Politik der stimulierten Nachfrage durch die wichtigsten kapitalistischen Regierungen und soziale Zugeständnisse an die Arbeiterklasse, die der Angst entsprangen, dass eine Rückkehr zu den Bedingungen der 30er Jahre große soziale Erhebungen und revolutionäre Kämpfe in den großen kapitalistischen Ländern provozieren könnte.
Aber letztendlich beruhte die Nachkriegsperiode auf der Steigerung der Mehrwertakkumulation in der gesamten kapitalistischen Wirtschaft. Dies war möglich durch die Verbreitung der ergiebigeren Fließbandproduktion, die in den Vereinigten Staaten in den 20er und 30er Jahren entwickelt und von den anderen fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern übernommen worden war.
Die Akkumulation des Kapitals selbst, die durch diese Produktionsmethoden ermöglicht wurde, führte jedoch unvermeidlich zum Fall der durchschnittlichen Profitrate, so dass die Menge des Mehrwerts sich schließlich als unzureichend erwies, um das Kapital im gleichen Umfange wie zuvor expandieren zu lassen.
Erhebungen über die US-amerikanische Wirtschaft belegen deutlich diesen Prozess. 1946 lag die Profitrate in den Vereinigten Staaten bei 22 Prozent und betrug 1966 immer noch 21 Prozent, begann dann aber stark zu fallen, ging auf 12 Prozent im Jahre 1974 zurück und erreichte 1980 schließlich 10 Prozent. Mit anderen Worten, die Profitrate fiel im Zeitraum von 1966 bis 1974 um rund 45 Prozent, nachdem sie über etwa zwei Jahrzehnte hinweg relativ konstant geblieben war. Statistiken über andere große kapitalistische Länder zeigen eine ähnliche Entwicklung.
Der Fall der durchschnittlichen Profitrate kündigte sich mit der globalen Rezession 1974/75 an, dem schlimmsten ökonomischen Abwärtstrend seit der großen Depression 40 Jahre zuvor. Aber das wichtigste Anzeichen für den Beginn einer neuen Ära war die Tatsache, dass, nachdem die Rezession vorbei war, die ökonomischen Bedingungen nicht mehr dieselben waren wie in den 50er und 60er Jahren. Dass die durchschnittliche Profitrate nicht auf ihr vorheriges Niveau zurückkehrte, fand seinen Ausdruck in niedrigen Wachstumszahlen und der sogenannten Stagflation - der Kombination von anhaltend hoher Arbeitslosigkeit mit einem hohen Inflationsniveau.
Die 70er Jahre waren ein Jahrzehnt des wirtschaftlichen und politischen Aufruhrs - sie erstreckten sich von den Ereignissen des Mai/Juni 1968 in Frankreich über die Absetzung der Tory-Regierung durch den Bergarbeiterstreik 1974 in Großbritannien bis zu den revolutionären Unruhen in Portugal 1974/75. Allerdings war die Bourgeoisie durch die Kollaboration der sozialdemokratischen und stalinistischen Parteien in der Lage, die Situation unter Kontrolle zu bringen.
Als sie ihre Position wieder stabilisiert hatte, begann sie eine Offensive gegen die Arbeiterklasse und eine breite Umorganisierung der kapitalistischen Produktion.
Diese Konterrevolution ist unmittelbar mit den Regierungen von Reagan und Thatcher verbunden. Vom ökonomischen Standpunkt aus war das bedeutendste Ereignis 1979 die Ernennung von Paul Volcker zum Chef der US-Notenbank und die Einführung eines Programms zur Zinserhöhung in den 80er Jahren. Effektiv bedeutete dies das Diktat des Finanzkapitals, neue Maßnahmen anzuwenden, um die Extraktion von Mehrwerts aus der Arbeiterklasse zu erhöhen. Durch die Rezession, die Volckers Regime der hohen Zinssätze verursachte, wurden ganze Industriezweige geschlossen und das Industriekapital gezwungen, eine breitangelegte Umorganisierung der Produktion vorzunehmen.
Dies ist der Ursprung der globalisierten Produktion und der Entwicklung einer Reihe von anhaltenden Veränderungen in der Produktion auf der Grundlage von Computertechnologien. Angesichts der fallenden Profitrate reagierte das Kapital mit einem unaufhörlichen Streben die Arbeitsproduktivität zu steigern, um die Aneignung des Mehrwerts von der Arbeiterklasse zu vergrößern. Gleichzeitig strebte das Kapital die Einführung Kosten sparender Technologien und die Trennung und Auslagerung von vormals zusammenhängenden Produktionsprozessen an, um sich die billige Arbeitskraft in anderen Teilen der Welt nutzbar zu machen.
Zwei von Marx identifizierte Entwicklungstendenzen
In seiner Analyse des tendenziellen Falls der Profitrate wies Marx auf zwei wichtige Konsequenzen hin.
Er schrieb: "Sinkt die Profitrate, so [folgt] einerseits Anspannung des Kapitals, damit der einzelne Kapitalist durch bessre Methoden etc. den individuellen Wert seiner einzelnen Waren unter ihren gesellschaftlichen Durchschnittswert herabdrückt und so, bei gegebnem Marktpreis, einen Extraprofit macht; andrerseits Schwindel und allgemeine Begünstigung des Schwindels durch leidenschaftliche Versuche in neuen Produktionsmethoden, neuen Kapitalanlagen, neuen Abenteuern, um irgendeinen Extraprofit zu sichern, der vom allgemeinen Durchschnitt unabhängig ist und sich über ihn erhebt." [2]
Die Entwicklung der globalisierten Produktion und die Einführung von computergestützten Technologien, die in den vergangenen zwei Jahrzehnten den Produktionsprozess revolutioniert haben, stellen den Versuch des Kapitals dar, dem ersten Weg zu folgen, der hier von Marx aufgezeigt wird. Jede Abteilung des Kapitals versucht ihren Anteil am vorhandenen Mehrwert, der aus der Arbeiterklasse gezogen wird, zu vergrößern, indem sie neue Produktionsmethoden entwickelt, die die Kosten unter den gesellschaftlichen Durchschnitt drücken.
Aber die daraus erfolgte Steigerung der Arbeitsproduktivität hat keine Grundlage für eine neue Ära von Expansion im Umfang der 50er und 60er Jahre geschaffen. Trotz des allgemeinen Sinkens der Reallöhne und den Umbrüchen in allen Bereichen der Industrie in den Vereinigten Staaten beispielsweise, erlangte die Profitrate nur ungefähr ein Drittel ihres vorangegangenen Verlustes zurück und liegt immer noch um 35 bis 40 Prozent unter ihrem Höchststand in der Nachkriegszeit.
Es stellt sich die folgende Frage: Ist das Kapital in der Lage, bei ausreichend fortschreitender technologischer Innovation eine neue Periode einzuleiten, die sich durch expandierende Profite, mehr Arbeitsplätze und höhere Löhne auszeichnet? Oder wohnen dem Prozess der Mehrwertakkumulation Widersprüche inne, so dass ein sinkender Lebensstandard keine zeitweilige Abweichung darstellt, sondern ein permanentes Merkmal der kapitalistischen Ökonomie zu Beginn des 21. Jahrhunderts?
Um diese Frage zu beantworten, müssen wir weiter in den Prozess der Mehrwertakkumulation eindringen.
Steigerungen der Arbeitsproduktivität bedeuten eine Steigerung der Menge an produziertem Wohlstand. Aber für das Kapital liegt die Bedeutung der Technologie in den Auswirkungen, die diese auf die Extraktion von Mehrwert hat.
Wir haben gesehen, dass Mehrwert der Differenz zwischen dem Wert der Arbeitskraft, die der Arbeiter dem Kapital im Lohnvertrag verkauft, und dem Wert, der durch die Nutzung dieser Arbeitskraft im Laufe eines Arbeitstages hinzugefügt wird, entspringt.
Dementsprechend ist der Arbeitstag selbst zweigeteilt - zwischen der Zeit, die der Arbeiter braucht, um den Wert seiner Arbeitskraft zu reproduzieren, und der Zeit, in der er Mehrarbeit für das Kapital leistet. Die Auswirkungen der Technologie auf die Akkumulation des Mehrwerts hängen letztendlich davon ab, inwiefern sich diese auf die Teilung des Arbeitstages in notwendige Arbeit und Mehrarbeit auswirkt.
Gesetzt den Fall, dass der Arbeiter an einem achtstündigen Arbeitstag den Wert seiner Arbeitskraft in vier Stunden reproduziert und vier Stunden lang Mehrarbeit für das Kapital leistet. Weiter nehmen wir an, dass infolge von technologischer Innovation (in der Gesellschaft als Ganzer) sich die Zeit, die der Arbeiter zur Reproduktion seiner Arbeitskraft benötigt, von vier auf zwei Stunden verkürzt. Folglich ergibt sich bei einem achtstündigen Arbeitstag eine Mehrarbeit von sechs Stunden, eine Steigerung um 50 Prozent.
Angenommen, die Arbeitsproduktivität verdoppelt sich weiter, so dass sich die notwendige Arbeit nunmehr von zwei auf eine Stunde reduziert. Die Mehrarbeit steigt von sechs auf sieben Stunden. Aber, verglichen mit dem vorangegangenen Anstieg von 50 Prozent, ist dieses nur eine Steigerung um 16,7 Prozent. Wir sehen, dass bei jeder Verdopplung der Arbeitsproduktivität der Anstieg des herausgeholten Mehrwerts im Verhältnis immer kleiner wird.
Mit anderen Worten: Je mehr die Arbeitsproduktivität bereits durch Technologie gesteigert wurde, d.h. je stärker die notwendige Arbeit bereits reduziert wurde (und dies zieht sich durch die gesamte Geschichte des Kapitalismus), um so schwieriger wird es für neue Technologien, egal wie produktiv sie sind, die Mehrwertrate in dem Maße anzuheben, dass die allgemeine Profitrate wiederhergestellt und die Expansion des Kapitals insgesamt sichergestellt ist.
Natürlich kann jedes kapitalistische Unternehmen versuchen, und ist durch den Druck der Konkurrenz tatsächlich dazu gezwungen, seinen individuellen Profit beizubehalten oder zu steigern, indem es neue, Kosten sparende Technologien einführt. Aber welchen Effekt hat dieser Prozess auf die Akkumulation der Gesamtmenge des Mehrwerts?
Neue Produktionsmethoden reduzieren die Kosten durch die Ausradierung ganzer Arbeitsbereiche. Aber Arbeit ist die einzige Quelle des Mehrwerts und letztlich des Profits. Daher tendiert die Entwicklung dieser Methoden dazu, die Gesamtmasse des Mehrwerts in der kapitalistischen Wirtschaft zu verkleinern. Dieser Tendenz zuwider läuft andererseits in gewissem Umfang die Steigerung des Mehrwerts, der aus der verbliebenen Arbeit gewonnen wird. Da jedoch die notwendige Arbeit bereits auf einen relativ kleinen Anteil des Arbeitstags reduziert worden ist - Folge aller früheren technologischen Entwicklungen - kann dieser nicht in dem Ausmaß gesteigert werden, der für die Expansion der Gesamtmenge des Mehrwerts notwendig wäre.
Dies ist der Grund dafür, dass neue Technologien nicht länger für eine Steigerung der Mehrwertmenge sorgen, wie es in der Vergangenheit der Fall war, sondern eine Stagnation oder sogar einen Niedergang bewirken, was zu hektischer Konkurrenz, Kostensenkungen und der Vernichtung von Arbeitsplätzen führt und somit die Akkumulation des Mehrwerts weiter einschränkt.
Indem wir diese Widersprüche im Prozess der Mehrwertakkumulation offen legen, können wir erkennen, warum das Kapital zunehmend den zweiten Weg wählt, den Marx aufgezeigt hat. Das ist der Versuch, den Fall der Profitrate durch Finanzoperationen zu überwinden, die zunehmend mit dem Produktionsprozess selbst nichts zu tun haben.
Die Zahlen, die diese Entwicklung markieren, sind geradezu schwindelerregend. Beispielsweise lag das Volumen des Devisenhandels (zu großen Teilen ein Versuch, Profit aus den Wertschwankungen einer Währung zu schlagen) Ende der 90er Jahre bei etwa 1,5 Billionen Dollar pro Tag, was eine Steigerung um das Achtfache seit 1986 bedeutet. Im Gegensatz dazu lag das weltweite Exportvolumen (was sowohl Waren wie auch Dienstleistungen umfasst) 1997 bei 6,6 Billionen Dollar, das entspricht 25 Milliarden Dollar pro Tag. Mitte der 90er Jahre erreichte in den Vereinigten Staaten die Kapitalmenge in Form von Investmentfonds, Rentenfonds und ähnlichem 20 Billionen Dollar, das Zehnfache der Menge von 1980. Dies ist wahrlich ein globaler Prozess. Grenzüberschreitende Transaktionen von Wertpapieren und anderen Werten steigerten sich zwischen 1970 und 1996 gemessen am Bruttoinlandsprodukt um den Faktor 54 für die Vereinigten Staaten, Faktor 55 für Japan und fast 60 für Deutschland.
Eine der dramatischsten Erscheinungen dieses Prozesses - dem Versuch, Kapital durch rein finanzielle Manipulationen und Transaktionen zu vergrößern - war der weltweite Anstieg in den Aktienmärkten. Der amerikanische Schriftsteller Robert Shiller schildert in seinem jüngsten Buch Irrational Exuberance(Irrationale Überschwänglichkeit) detailliert die Eskalation auf dem US-amerikanischen Markt.
Er schreibt: "Der Dow Jones Aktienindex stand Anfang 1994 bei 3.600. 1999 hatte er die 11.000er Marke überschritten, sich also in fünf Jahren mehr als verdreifacht, was einer absoluten Steigerung der Aktienmarktpreise um 200 Prozent entspricht. Anfang 2000 hat der Dow Jones die Marke 11.700 überschritten. Die grundlegenden Wirtschaftsindikatoren haben sich im selben Zeitraum allerdings nicht annähernd verdreifacht. Die Privateinkommen und das Bruttoinlandsprodukt in den Vereinigten Staaten wuchsen um weniger als 30 Prozent, und beinahe die Hälfte dieser Steigerung ist der Inflation geschuldet. Die Unternehmensprofite stiegen um weniger als 60 Prozent, und dies vor einem zeitweilig durch Rezession gedrückten Hintergrund." [3]
Wie sind diese außergewöhnlichen Entwicklungen zu bewerten, und welche Auswirkungen haben sie auf die zukünftige Entwicklung des globalen Kapitalismus?
Es wird vielfach angenommen, dass die Rolle des Aktienmarktes darin besteht, neues Kapital für Investitionen in die Produktion bereitzustellen. Er erfüllt diese Funktion, aber dies ist nicht seine Hauptrolle. Zum Beispiel parkten US-Unternehmen, die nicht im Finanzbereich aktiv sind, zwischen 1981 und 1987 813 Milliarden Dollar mehr in Aktienanlagen, als sie bei Übernahmen und Aktienrückkäufen ausgaben.
Der Aktienhandel hat mit der Beschaffung von neuem Kapital wenig zu tun. Es ist der Handel mit Vermögensrechten, Ansprüche auf die Akkumulation von zukünftigen Einnahmen und Profiten. Das heißt Aktien und Wertpapiere sind fiktives Kapital und als solches kein produktives Kapital, das direkt an der Extraktion des Mehrwerts aus der Arbeiterklasse beteiligt ist. Sie sind Rechte an Einkommen und Vermögen - Ansprüche auf Mehrwert, der von anderen Abteilungen des Kapitals gewonnen wird.
Die Entwicklung des Kreditsystems und das Aufkommen von Aktienmarktkapital wird manchmal so dargestellt, als ob es sich hierbei lediglich um einen überflüssigen, parasitären Auswuchs handeln würde, der dem ansonsten gesunden kapitalistischen System entspringt. Tatsächlich entstammen die verschiedenen Formen von fiktivem Kapital dem Prozess der Mehrwertakkumulation und sind historisch aus der Entwicklung des kapitalistischen System selbst entstanden.
Das Kapital ist, wie Marx nicht müde wurde zu betonen, kein Ding, sondern eine gesellschaftliche Beziehung. Es ist ein sich selbst vergrößernder Wert, der verschiedene Formen annimmt. An einem Punkt die Form von Geld, dann von Produktionsmitteln, von Waren und wieder von Geld, um den Kreislauf der Wertsteigerung wiederaufzunehmen.
In diesem unendlichen Akkumulationsprozess ist das Kapital dazu gezwungen, alle Hindernisse zu überwinden. Zu einem früheren Zeitpunkt in seiner Geschichte waren der Akkumulation durch die Grenzen des privaten Vermögens und Einkommens Grenzen gesetzt. Um die Beschränkungen des Familienbetriebs oder der begrenzten Zusammenarbeit zu überwinden, musste es Zugang zu den Ressourcen der gesamten Gesellschaft erhalten. Die Entwicklung des Kredits auf der einen und die der Aktiengesellschaft auf der anderen Seite waren die Mittel, mit denen dieses Ziel erreicht wurde.
Des Weiteren konzentrierte sich das produktive Kapital in stärkerem Ausmaß, als die Kapitalproduktion expandierte. Feste Kapitalinvestitionen - Fabriken, Gebäude, große Maschinen, umfangreiche chemische Prozesse und Veredelungen - können ihre Funktion als Produktionsmittel, die an der Extraktion des Mehrwerts aus der Arbeiterklasse beteiligt sind, nur über einen langen Zeitraum erfüllen. Das heißt der Produktionsprozess selbst verlangt vom Kapital, über einen langen Zeitraum diese Form zu behalten. Aber gleichzeitig wird Kapital benötigt, das sich frei von einem Bereich der Wirtschaft zum nächsten bewegen kann, um die auftretenden Gelegenheiten im schonungslosen Kampf um die Aneignung von Mehrwert vorteilhaft zu nutzen.
Dieser Widerspruch zwischen dem Bedürfnis der kapitalistischen Produktion nach langfristigen Investitionen einerseits und dem Bedürfnis nach hoher Kapitalmobilität andererseits wurde durch die Entwicklung von Aktien gelöst. Durch die Ausgabe von Aktien wird Kapital bereitgestellt, das in den Produktionsprozess gesteckt wird. Die Existenz des Aktienmarktes ermöglicht es den Anteilseignern (darunter auch denjenigen, die ursprünglich ihr Kapital bereitgestellt haben), ihr Kapital durch Verkauf von Aktien in andere Bereiche zu verlegen, ohne das produktive Kapital effektiv zu liquidieren. Mit anderen Worten waren die Entwicklung der Aktiengesellschaft und des Aktienmarktes die historischen Mittel, durch die das Kapital den Widerspruch zwischen dem Bedürfnis nach großen Mengen von festem Kapital einerseits und der Notwendigkeit der Kapitalmobilität andererseits löste.
Somit entsteht fiktives Kapital als Mittel zur Lösung der Widersprüche, die im Prozess der Mehrwertakkumulation auftreten. Aber es wird selbst wieder zur Quelle von neuen Widersprüchen. Das Auftreten eines Marktes, auf dem Eigentumsrechte und Ansprüche auf Mehrwert gehandelt werden, gibt dem Kapital die Möglichkeit, seinen Wert durch Handel auf diesem Markt zu steigern.
Und diese Aussicht wird zunehmend verlockend - und tatsächlich auch notwendig - wenn die Mehrwertakkumulation durch produktives Kapital stärker eingeschränkt wird. Das heißt unter den Bedingungen stagnierender oder fallender Profitraten wendet sich das Kapital immer spekulativeren Unternehmungen zu, um eine Steigerung zu erzielen.
Hierin liegt der Ursprung der fantastischen Eskalation der Aktienmarktwerte, die wir seit den 80er Jahren beobachten konnten und die sich in den letzten fünf Jahren beschleunigt hat, und des enormen Wachstums des Aktienmarktes im Vergleich zur Wirtschaft als Ganzer.
Den Priestern der christlichen Religion zufolge verlässt die Seele den Körper und steigt in den Himmel auf. Die Hohepriester des Marktes lehren eine ähnliche Doktrin, wenn sie behaupten, dass Geld sich vom Produktionsprozess lösen kann und in einen Finanzhimmel gelangt, wo Geld endlos Geld erschafft.
Kann das Kapital seinen Traum vom Geld, das sich ohne Ende in mehr Geld verwandelt, wahr machen? Oder sind diesem Prozess Grenzen gesetzt?
Die Aktienwerte können steigen, und Profite können mit dem Handel von Aktien erzielt werden, solange weiteres Kapital auf den Markt gelangt. Mit anderen Worten: Gewinne und Profite können nach der Art eines Pyramidenschemas oder Kettenbriefes akkumuliert werden.
Während das fiktive Kapital kontinuierlich in die Höhe steigt und dabei das produktive Kapital immer kleiner erscheinen lässt, kann es seinen Ursprüngen nicht entkommen. An einem bestimmten Punkt wird es mit der Tatsache konfrontiert, dass es nur ein Anspruch auf Mehrwert ist und dieser Mehrwert tatsächlich aus der Arbeiterklasse herausgeholt werden muss. Wenn wir den Fürsprechern der "neuen Ökonomie" folgen, so sind die Werte im Aktienmarkt nicht "irrational", sondern lediglich die Vorwegnahme der Produktivitäts- und Profitsteigerungen, die durch den Einsatz neuer Technologien (insbesondere der mit dem Internet verbundenen) entstehen werden.
Ohne Frage sorgen neue Technologien heute und zukünftig für große Steigerungen der Arbeitsproduktivität. Aber wie wir gesehen haben, werden diese Steigerungen der Arbeitsproduktivität keinen Ausweg bieten.
Folgerichtig nimmt die Struktur des globalen Kapitals zunehmend die Form einer umgedrehten Pyramide an, da die Masse des fiktiven Kapitals, die ihren Anteil am Mehrwert beansprucht, sprunghaft steigt im Verhältnis zum produktiven Kapital, das diese Forderungen letztlich erfüllen muss.
Ich möchte einige Zahlen anbringen, die dieses Phänomen veranschaulichen. Zum Jahresbeginn 1999 beschäftigte America Online 10.000 Menschen und hatte einen Marktkapitalwert von 66,4 Milliarden Dollar. General Motors allerdings beschäftigte 600.000 Arbeiter und hatte einen Marktwert von 52,4 Milliarden Dollar. Beide beanspruchen einen Anteil des Mehrwerts, der ihrem Marktwert entspricht. Aber es ist klar, dass der Beitrag von America Online mit seinen 10.000 Arbeitern zur gesamten vorhandenen Mehrwertakkumulation des Kapitals als Ganzer wesentlich geringer ist als der von General Motors mit 600.000 Beschäftigten. Selbst wenn die Arbeiter von America Online 24 Stunden am Tag unentgeltlich arbeiten würden, könnten sie nicht die gleiche Menge an Mehrwert beitragen, wie er aus den Arbeitern von General Motors gewonnen wird.
Im Fall von Yahoo! ist dieser Widerspruch - zwischen den Ansprüchen des Kapitals auf Mehrwert einerseits und dem tatsächlich herausgeholten Mehrwert andererseits - noch deutlicher. Yahoo! hat mit nur 673 Angestellten einen Marktwert von 33,9 Milliarden Dollar.
Diese umgekehrte Pyramidenstruktur des globalen Kapitalismus ist die Quelle seiner extremen Instabilität. Hunderte Milliarden Dollar an Kapital drängen durch die Weltmärkte auf der Suche nach Profit, um ihre Profitrate aufrecht zu erhalten.
Wenn die Preise für Vermögenstitel - Aktien, Anleihen, Immobilien etc. - steigen, strömt das Kapital in diese und versucht Profit zu machen, indem billig gekauft und teuer verkauft wird. Das Eisen wird geschmiedet, solange es heiß ist. Aber wenn der Markt zu stocken beginnt, wird offensichtlich, dass die Kapitalwerte gewaltig aufgeblasen waren. Der Andrang Richtung Ausgang nimmt die Form einer Massenpanik an und über Nacht werden Kapitalwerte zerstört - nicht nur fiktives Kapital, sondern ebenso produktives Kapital.
Nach der Asienkrise von 1997/98 versuchte man die Wirtschaftskrise als Folge der besonderen Bedingungen der Region zu erklären. Tatsächlich war der Zusammenbruch Asiens, bei dem Millionen Arbeitsplätze vernichtet wurden und Banken und Unternehmen plötzlich mit Schulden in Milliardenhöhe konfrontiert waren und diese unmöglich decken konnten, kein Ausdruck der "asiatischen Bedingungen", sondern der Funktionsweise des kapitalistischen Marktes insgesamt.
Gewaltige Kapitalströme zogen sich aus Asien und anderen Märkten zurück und flossen in die Vereinigten Staaten, wo sie die Eskalation am Aktienmarkt anheizten. So schufen sie die Voraussetzungen für ein noch größeres Desaster, bei dem die Renten- und Sparfonds und somit die Anlagen von Millionen Menschen bei einem Zusammenbruch der aufgeblasenen Marktbewertungen buchstäblich über Nacht vernichtet werden könnten.
Ein Schriftsteller stellte neulich fest, der Albtraum von Science-Fiction-Autoren von einer Menschheit, die von Robotern und Maschinen kontrolliert wird, würde Wirklichkeit werden - aber nicht als Herrschaft der Maschinen, sondern als Herrschaft des Finanzkapitals. Die Finanzmärkte haben die Form eines kollektiven Kapitalisten - Kapital-im-Allgemeinen - angenommen, sind eine Art Automat, der das Leben der Menschheit weltweit beherrscht und alle Lebensbedingungen dem rücksichtslosen Streben nach der letzten zu akkumulierenden Unze Mehrwert unterordnet. Der Ursprung dieser Herrschaft ist nicht die Technologie, sondern das System der gesellschaftlichen Beziehungen, das auf der Selbstausdehnung des Wertes beruht.
Die Krise, der die Menschheit gegenübersteht, besteht darin, dass dieselben Technologien und Produktionskräfte, die die notwendige materielle Grundlage für die Emanzipation des Menschen darstellen - was zum ersten Mal in der menschlichen Geschichte die wirkliche Freiheit des Menschen in Aussicht stellt, die nicht länger ein utopischer Traum, sondern eine realisierbare Perspektive ist - einem Produktionssystem untergeordnet sind, dessen objektive Logik die Verarmung der Masse, die den Reichtum produziert, verlangt.
Vor mehr als 150 Jahren schrieb Marx in einer brillanten Vorwegnahme der Situation, der die große Masse der Menschen weltweit nun gegenübersteht: "In der bisherigen Geschichte ist es allerdings ebensosehr eine empirische Tatsache, daß die einzelnen Individuen mit der Ausdehnung der Tätigkeit zur weltgeschichtlichen immer mehr unter einer ihnen fremden Macht geknechtet worden sind [...], einer Macht, die immer massenhafter geworden ist und sich in letzter Instanz als Weltmarkt ausweist." [4]
Führen wir uns einen Moment den Charakter dieses Weltmarktes vor Augen - diese enorme Bewegung von Geldern, die hier die Schließung einer Fabrik befehlen, dort die massive Vernichtung von Arbeitsplätzen, die bestimmen, dass inmitten der gewaltigsten produktiven Fortschritte der menschlichen Geschichte nicht genug Geld für Bildung und Gesundheit vorhanden ist, und die in einem Land eine Streichung der Sozialausgaben und in einem anderen "Strukturanpassung" fordern. Ungeachtet der Behauptungen seiner Repräsentanten ist dies weder Gottes Werk noch ein Geschenk der Natur. Es ist der entfremdete Ausdruck der gesellschaftlichen Produktivkräfte der Menschheit.
Die sozialistische Perspektive
Wie ist diese Entfremdung zu überwinden? Marx bestand darauf, dass dies die Erfüllung von zwei praktischen Voraussetzungen erfordert.
"Damit sie eine ,unerträgliche' Macht werde, d.h. eine Macht, gegen die man revolutioniert, dazu gehört, daß sie die Masse der Menschheit als durchaus "eigentumslos" erzeugt hat und zugleich im Widerspruch zu einer vorhandnen Welt des Reichtums und der Bildung, was beides eine große Steigerung der Produktivkraft, einen hohen Grad ihrer Entwicklung voraussetzt." [5]
Diese Bedingungen sind zweifellos erfüllt. Die Globalisierung der Produktion resultierte im Wachstum der Arbeiterklasse um Hunderte Millionen in Regionen der Welt, wo vor wenigen Jahrzehnten praktisch keine Industrie vorhanden war. In den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern wurden ganze Bevölkerungsschichten, die einst als Mittelklasse galten, effektiv proletarisiert. Und die Arbeiterkämpfe weltweit wurden, auch wenn sie verschiedene Formen annehmen, objektiv vereint durch die Tatsache, dass sie von den Operationen des globalen Marktes, der jede Volkswirtschaft beherrscht, und den Forderungen derselben Banken und transnationalen Konzerne herrühren.
Die brennende Frage ist heute, mit welchem Programm und welcher Perspektive der Kampf gegen den globalen Kapitalismus organisiert und durchgeführt werden muss. In den vergangenen Monaten haben wir eine Reihe von Protesten und Demonstrationen gegen die Welthandelsorganisation (WTO), den Internationalen Währungsfond (IWF) und die Weltbank erlebt.
Das Aufkommen dieser Opposition hat in herrschenden Kreisen die Alarmglocken läuten lassen, da erkannt wurde, dass trotz des Anstieges der Aktienwerte und des berauschenden Triumphgeschreis des Marktes vor wenigen Jahren eine große Masse von Menschen weltweit zutiefst unzufrieden mit der herrschenden Ordnung ist und ihr tatsächlich feindlich gegenübersteht.
Während der Wochen der Entstehung dieser Bewegungen schoben sich die Fragen von Programm und Perspektive immer mehr in den Vordergrund. Diese Fragen haben wir in den Stellungnahmen zu den Protesten gegen WTO und IWF und in der jüngsten Diskussion mit Professor Michel Chossudovsky auf dem World Socialist Web Site untersucht.
Die zugrundeliegende politische Perspektive der dominierenden Elemente dieser Protestbewegung besteht, unabhängig von den taktischen Differenzen zwischen ihnen (so z.B. über die Frage, ob der IWF und andere Institutionen "reformiert" oder "abgeschafft" werden sollen), darin, dass es notwendig sei, angesichts der Herrschaft des globalen Wirtschaftssystems die Souveränität der Nationalstaaten wieder herzustellen.
Professor Chossudovsky stellt völlig richtig fest, dass "das einzige Versprechen des ,freien Marktes'" die wirtschaftliche Verwüstung des Lebens der Menschen ist. Aber bei der Ausarbeitung seiner Perspektive erklärt er: "Wir müssen die Unabhängigkeit unserer Staaten und der Menschen in unseren Staaten wiederherstellen."
Hierin besteht der grundlegende Unterschied zwischen einer sozialistischen Opposition zum globalen Kapitalismus, die die Vereinigung der internationalen Arbeiterklasse über die Staatengrenzen hinweg anstrebt, und einer nationalistischen kleinbürgerlichen Opposition zur "Globalisierung", die die Wiederherstellung der Macht des Nationalstaats fordert.
Die letztere Perspektive ist in ihrem Kern, in der ureigensten historischen Bedeutung des Wortes, reaktionär. Auf jeder Entwicklungsstufe des Kapitalismus sind als Reaktion auf den gesellschaftlichen Umbruch, der durch die Revolutionierung der Produktivkräfte eingeleitet wurde, Bewegungen entstanden, die die Rückkehr zu vergangenen Tagen forderten.
In der ersten Entwicklungsphase des Industriekapitalismus gab es diejenigen, die die Zerstörung der Bauernwirtschaft und kleinbürgerlichen handwerklichen Produktion beklagten. In der Ära der Monopolbildung und der Entstehung riesiger kapitalistischer Konzerne während der letzten Jahrhundertwende kamen Bewegungen auf, die die Restauration der Produktion in kleineren Maßstäben wie in früheren Zeiten forderten. Heute, als Reaktion auf die jüngste Entwicklungsphase des Kapitalismus werden Forderungen nach einer Rückkehr zum nationalstaatlich regulierten Kapitalismus der Nachkriegsperiode, der auf der keynesianischen Politik der stimulierten Nachfrage beruhte, immer lauter.
In unserer Stellungnahme vom 30. November 1999 unter dem Titel "Politische Grundprinzipien für eine Bewegung gegen den globalen Kapitalismus" wiesen wir darauf hin, dass mit der Gleichsetzung von "Globalisierung" und "globalem Kapitalismus" eine tiefe Verwirrung zum Ausdruck kommt.
Wir bestanden darauf, dass es "notwendig [ist], zwischen dem zunehmend globalen Charakter der Produktion und des Warenaustauschs - einer an sich progressiven Entwicklung, die das Ergebnis revolutionärer Fortschritte in der Computertechnologie, Telekommunikation und des Transportwesens ist - und den gesellschaftlichen Konsequenzen zu unterscheiden, die nicht aus der Globalisierung an sich folgen, sondern aus der systematischen Unterordnung der Wirtschaft unter ein System, das durch die anarchistische Jagd auf privaten Profit angetrieben wird und mit der veralteten Form der politischen Organisation untrennbar verbunden ist."
"Es geht heute nicht darum, die Entwicklung auf ein weitgehend mystisches Zeitalter isolierter nationaler Wirtschaften zurückzuschrauben. Die große Frage aber lautet: Wer kontrolliert die globale Ökonomie, und wessen Interessen bestimmen über den Einsatz ihrer enormen technischen und kulturellen Möglichkeiten?"
Lasst uns den Ruf nach der Wiederherstellung der nationalen Souveränität in seinen historischen Kontext stellen. Der Nationalstaat wurde von der Bourgeoisie geschaffen, um die Produktivkräfte zu entwickeln und die Welt nach den Bedürfnissen der neuen Gesellschaftsordnung, die sie ins Leben rief, neu zu gestalten. Aber das Nationalstaatensystem erweist sich heute, mit der globalen Entwicklung der Produktivkräfte, als vollkommen reaktionär. Daher entspricht die Forderung nach der Wiederherstellung der staatlichen Souveränität als Grundlage einer politischen Perspektive der Position jener historischen Bewegungen, die sich dem Kapitalismus entgegenstellten, indem sie auf der Beibehaltung der feudalen Ordnung bestanden.
Im Gegensatz zu kleinbürgerlichen Protestbewegungen, die in die Vergangenheit schauen, orientiert sich die sozialistische Opposition gegen den globalen Kapitalismus an der Zukunft. Oder genauer gesagt, sie gründet ihre Perspektiven auf die objektiven Prozesse innerhalb der kapitalistischen Wirtschaft, die derzeit den Weg zur Entwicklung einer höheren gesellschaftlichen Ordnung und zum Fortschritt der Zivilisation bereiten.
Die Entwicklung der kapitalistischen Produktion wird immer und überall von der Bourgeoisie zum Zweck der Profitakkumulation und der Intensivierung der Ausbeutung vorangetrieben. Doch ist es dieselbe Entwicklung der Produktivkräfte, die die Herrschaft der Bourgeoisie unterhöhlt und die Bedingungen für ihre Absetzung vorbereitet. Wie Marx im Manifest der Kommunistischen Partei erklärte, gleicht die Bourgeoisie "dem Hexenmeister, der die unterirdischen Gewalten nicht mehr zu beherrschen vermag, die er heraufbeschwor."
Die Globalisierung von Produktion und Wirtschaft hat nicht nur den Totengräber des globalen Kapitalismus in Gestalt der internationalen Arbeiterklasse hervorgebracht, sondern auch die objektiven Grundlagen für eine weltweite sozialistische Planwirtschaft geschaffen.
Was sonst ist der moderne transnationale Konzern mit seinem System von sorgfältiger Planung, Information und Kontrollmechanismen als der innerhalb des Kapitalismus entwickelte Vorläufer von Formen der sozialistischen Planung und Produktion? Heute sind transnationale Konzerne, die zum großen Teil eine größere Wirtschaftsleistung erzielen als ganze Volkswirtschaften, in der Lage, die Produktion und den Austausch von Waren und Dienstleistungen über Länder und Kontinente hinweg zu organisieren. Und das beweist, dass es morgen erst recht möglich ist, eine sozialistische Planwirtschaft im globalen Maßstab durchzuführen, die auf der Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse beruht, in der die Produktivkräfte von der schonungslosen Logik der Mehrwertakkumulation befreit sind und somit der Menschheit dienen, anstatt als Herrschaftsinstrument benutzt zu werden.
Wenn es durch die Entwicklung der globalen Finanzmärkte und den mit ihnen verbundenen Kommunikationssystemen möglich ist, ständig aktuelle Informationen über Wirtschaftsaktivitäten in jedem Winkel der Erde zu erhalten, dann ist es erst recht möglich, die notwendigen Informations- und Kommunikationsmittel zu entwickeln, um zum ersten Mal in der Geschichte die Beteiligung großer Massen an der Planung, Organisation und Kontrolle des Wirtschaftslebens zu ermöglichen.
Dies ist das Ziel, für das die sozialistische Bewegung kämpft - ein Ziel, das nicht den Schemata dieses oder jenes potentiellen Universalreformers entspringt, sondern den Prozessen, die sich vor unseren Augen vollziehen.
Die russische Revolution
Der Aufbau einer politischen Bewegung, die sich diese Perspektive zu eigen macht, erfordert die Aneignung der politischen Lehren aus dem 20. Jahrhundert und vor allem seines größten Ereignisses - der russischen Revolution.
Das Scheitern der Revolution sich auszudehnen und die nachfolgende Degeneration des ersten Arbeiterstaats in das totalitäre Regime des Stalinismus sowie die später erfolgte Restauration des Kapitalismus haben für große Verwirrung und politische Orientierungslosigkeit gesorgt.
Doch die objektiven Voraussetzungen für die Aufklärung der fortschrittlichsten Elemente der Arbeiterklasse und der Intelligenz, und durch diese der großen Masse, werden durch die Entwicklung des globalen Kapitalismus geschaffen.
Die russische Revolution fiel nicht vom Himmel herab. Sie entstand aus der ersten Phase der kapitalistischen Globalisierung am Ende des 19. Jahrhunderts, und ihr Ausbruch wurde von der marxistischen Bewegung vorausgesehen und aktiv vorbereitet.
Der erste Versuch die Barbarei zu überwinden, in die der globale Kapitalismus die Menschheit gestürzt hatte, scheiterte - die Bourgeoisie war in der Lage, ihre Macht aufrecht zu erhalten, und die Revolution degenerierte.
Aber lasst uns diesen ersten Versuch in einen größeren historischen Kontext stellen. All die Voraussetzungen, die zu ihr führten, reifen heute wieder heran. Natürlich wiederholt sich die Geschichte nicht, aber keiner der historischen Widersprüche, die die russische Revolution haben entstehen lassen, ist heute gelöst. Wenn der Kapitalismus während der letzten hundert Jahre in der Lage gewesen wäre, eine harmonische Entwicklung der Produktivkräfte und den sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Fortschritt der Weltbevölkerung sicherzustellen, dann würden wir zugeben müssen, dass die Aussicht auf einen internationalen Sozialismus eine utopische Perspektive und unmöglich zu realisieren ist.
Dies ist aber ganz klar nicht der Fall. Alle historischen Widersprüche, die zum Entstehen der revolutionären Kämpfe in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts führten, haben sogar noch explosivere Formen angenommen. Die historische Perspektive, auf die sich die russische Revolution gründete - die Reorganisation der Welt durch die internationale sozialistische Revolution - bleibt der einzig gangbare Weg aus der Sackgasse, in die der globale Kapitalismus die Menschheit geführt hat. Die Schaffung einer internationalen Führung auf der Grundlage dieser Perspektive ist heute die dringendste Aufgabe. Dies zu erreichen ist das Ziel der Socialist Equality Party und des Internationalen Komitees der Vierten Internationale.
[1] Bryan und Rafferty, The Global Economy in Australia, Seite 20
[2] Karl Marx: Das Kapital; Bd. 3; Berlin 1976; Seite 269,
[3]Robert Shiller: Irrational Exuberance; Seite 4.
[4] Karl Marx: Die deutsche Ideologie; Berlin 1957; Seite 33f,
[5] ebenda; Seite 31.