Die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union begannen am Anfang der Woche ihre turnusmäßigen Beratungen im portugiesischen Santa Maria da Feira mit einem Zwischenbericht über den Stand der Arbeiten an einer EU-Grundrechtscharta. Danach folgten zähe Verhandlungen über die Einführung einer europäischen Zinsbesteuerung, die in den Medien viel Beachtung fanden.
Im Mittelpunkt des zweitägigen Treffens stand aber die Weiterentwicklung der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP). Vor einem halben Jahr hatten die Regierungschefs auf dem EU-Gipfel in Helsinki beschlossen, große Anstrengungen zu unternehmen, um bis zum Jahr 2003 eine 50.000 bis 60.000 Soldaten starke europäische Eingreiftruppe aufzubauen, die binnen sechzig Tagen marschbereit sein soll, mindestens ein Jahr lang im Einsatz bleiben kann und unter eigenständigem europäischen Kommando steht. Kaum ein anderes europäisches Projekt wurde seitdem derart intensiv vorangetrieben.
Der frühere Nato-Generalsekretär Javier Solana hatte in seiner neuen Funktion als Hoher Beauftragter für die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik in Europa den Gipfel in Feira vorbereitet. Gegenüber Journalisten bewertete er die Fortschritte auf diesem Gebiet mit den Worten: "Verglichen mit den üblichen Maßstäben sind wir in Lichtgeschwindigkeit vorangekommen."
Ein halbes Jahr nach dem Grundsatzbeschluss von Helsinki nehmen die Strukturen der europäischen Sicherheitspolitik Gestalt an. Solana berichtete, dass ein "Interimsausschuss für politische Sicherheitsfragen, ein Militärausschuss und ein EU-Militärstab" ihre Arbeit aufgenommen hätten. Bis zum nächsten Gipfel, der zum Jahresende in Nizza unter französischer Leitung stattfinden wird, soll aus diesen "Keimzellen" die endgültige militärische und politische Organisation der gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik entstehen.
Solana konzentrierte seinen Bericht auf zwei Fragen: Die Zusammenarbeit der EU mit der Nato und die Einbeziehung der nicht der EU angehörenden europäischen Nato-Mitglieder. Er hob hervor, dass die Beziehung zwischen EU und Nordatlantikpakt die Tatsache widerspiegeln müsse, dass beide Organisationen gleichberechtigt miteinander umgingen.
Diese Wortwahl von der "Gleichberechtigung" beider Organisationen impliziert zweierlei: Den bereits weit fortgeschrittenen Bruch innerhalb der Nato, in der bisher die USA eindeutig den Ton angaben, und eine neues Verständnis der EU als Militärbündnis statt wie bisher ausschließlich als wirtschaftliches und politisches Bündnis.
Über die Beziehung EU - Nato war im Vorfeld des Gipfeltreffens viel diskutiert worden. Schließlich einigte man sich auf folgende Formulierung. Die Konsultationen und die Kooperation zwischen der EU und der Nato müssten "unter vollständiger Beachtung der Autonomie der EU-Entscheidungsverfahren" erfolgen.
Noch deutlicher ist es im Abschlußbericht der Tagung formuliert. Dort heißt es unter der Überschrift "Schlussfolgerungen des Vorsitzes" zum Punkt Sicherheit: "Die Bemühungen der EU um Ausgestaltung ihrer eigenen Sicherheitsbestimmungen (physische und persönliche Sicherheit sowie Erarbeitung eines EU-Sicherheitsabkommens) haben absoluten Vorrang. Auf dieser Grundlage wird die Union einen Dialog mit der Nato aufnehmen."
In der Sprache der Diplomatie ist das starker Tobak. Trotz wachsender europäischer Eigenständigkeit waren die europäischen Interessen bisher nicht als absolut vorrangig gegenüber denen des atlantischen Bündnisses bezeichnet worden.
Wie gespannt die transatlantischen Beziehungen gegenwärtig sind, macht ein Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung deutlich, der sich mit den unterschiedlichen Konzeptionen in der Ausgestaltung der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik beschäftigt. Die Frage, ob die Europäer ihr wachsendes und eigenständiges Gewicht in den Dienst gemeinsamer transatlantischer Anliegen stellen oder sich künftig stärker von Amerika lösen, sei noch nicht entschieden und berge außerordentliche Brisanz, heißt es dort. Eine "atlantische" und eine "gaullistische" Form der Europapolitik stünden einander gegenüber.
Für die atlantische Variante hätten die Vereinigten Staaten und Nato-Generalsekretär Robertson "drei I" als Kriterien aufgestellt, berichtet die Zeitung: "Improvement, Inclusiveness, Indivisibility."
"Improvement" bedeute, dass die europäischen Rüstungsanstrengungen den militärischen Fähigkeiten der Nato zugute kommen müssten. Als Messlatte diene dabei die von der Nato beschlossene "Defense Capabilities Initiative" (DCI). Sie soll die technische Zusammenarbeit der Bündnispartner sicherstellen und verbessern.
"Inclusiveness" stehe dafür, dass die europäischen Nato-Mitglieder, die nicht zugleich Mitglieder der EU sind (Türkei, Norwegen, Island, Polen, Ungarn, und Tschechische Republik), vollständig beteiligt werden sollen.
Und "Indivisibility" schließlich besage, dass europäische Einsätze nur dann vorstellbar sind, wenn sich die Nato als Ganze nicht beteiligen will.
Die amerikanische Außenministerin Albright fügte den "drei Is" noch "drei Ds" hinzu. Der Aufbau militärischer Fähigkeiten für Kriseneinsätze im Namen der EU dürfe die Beteiligung anderer Bündnispartner an solchen Operationen nicht ausschließen ("discriminate"), nicht zu einer sicherheitspolitischen Abkopplung Europas von Amerika führen ("decouple") und bestehende Strukturen nicht verdoppeln ("duplicate").
Gegen eigene europäische Gremien und eine Formalisierung des EU-Nato-Verhältnisses sei nichts einzuwenden, aber die neuen EU-Sicherheitsstrukturen müssten in enger atlantischer Absprache und im Rahmen der Nato errichtet werden.
Dem gegenüber ist die "gaullistische Variante" der europäischen Sicherheitspolitik darauf ausgerichtet, Europa als eigenständige globale Macht zu entwickeln, die sich auch als Gegengewicht zu Amerika versteht.
"Sie knüpft an alte französische Ambitionen an", schreibt die FAZ, "die den amerikanischen Einfluss in Europa reduzieren und auf letzte Sicherheitsgarantien gegenüber einer großen Bedrohung beschränkt wissen wollen. Politische wie auch militärische Eigenständigkeit der EU gegenüber der Nato und Amerika spielen hier eine herausragende Rolle. Neben Prestigegründen ist dabei die Befürchtung ausschlaggebend, in den Vereinigten Staaten könnten die isolationistischen oder unilateralistischen Kräfte die Oberhand gewinnen und bei einer europäischen Krise nicht so zur Verfügung stehen, wie die Europäer sich dies vorstellen. Wachsende Zweifel an der atlantischen Verlässlichkeit der Vereinigten Staaten selbst dürften auch ausschlaggebend dafür sein, dass sich die traditionell eher atlantisch orientierten Deutschen und Briten dieser französischen Option zunehmend öffnen."
Um möglichst wenig von Amerika abzuhängen, solle nach französischen Vorstellungen die EU nicht nur effektive eigenständige Entscheidungsgremien und Kommandostrukturen aufbauen, sondern darüber hinaus vor allem in die satellitengestützte Aufklärung investieren. Nicht-EU-Mitglieder sollten allenfalls konsultiert, aber nicht an Entscheidungen über militärische Operationen beteiligt werden, "um einen Einfluss Amerikas durch die Hintertür zu verhindern".
Genau dagegen hat die Türkei bereits vor dem Gipfeltreffen in einer scharf formulierten diplomatischen Note protestiert. Als europäisches Nato-Mitglied und EU-Beitrittskandidat erhob Ankara den Anspruch, direkt und uneingeschränkt an den Konsultations- und Entscheidungsmechanismen der europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik beteiligt zu werden. Auch Solana konnte bei einem Besuch vor zwei Wochen die türkische Regierung nicht umstimmen. Seine Aufrufe zu mehr Realismus und größerer Flexibilität seien auf taube Ohren gestoßen.
In seiner Note beruft sich das türkische Außenministerium auf das Kommuniqué des Nato-Jubiläumsgipfels in Washington vor einem Jahr, in dem festgehalten wurde, es sei von "höchster Bedeutung", dass bei einem von der EU geführten Kriseneinsatz die "im vollsten Umfang mögliche Beteiligung" der nicht der EU angehörenden Bündnispartner gewährleistet werde. Allgemein wird vermutet, dass die ablehnende Haltung der türkischen Regierung mit Washington abgesprochen wurde.
Während in den theoretischen Debatten die unterschiedlichen Standpunkte als entgegengesetzte Optionen diskutiert werden, bilden sie in der Wirklichkeit ein komplexes Gemisch aus divergierenden Interessen und durchdringen einander. Im portugiesischen Feira wurde viel über die enge Zusammenarbeit und gemeinsame Abstimmung mit der Nato gesprochen, während die getroffenen Vereinbarungen eindeutig in Richtung einer größeren europäischen Selbstständigkeit weisen.
Nachdem der dominierende Einfluss der USA in der Nato sich auf ihre militärische Überlegenheit und einen nicht unerheblichen technologischen Vorsprung stützt, erfordert ein Gleichziehen Europas eine äußerst kostspielige Modernisierung der europäischen Streitkräfte. Die Vereinbarungen von Feira weisen damit vor allem in die Richtung eines gigantischen Aufrüstungsprogramms in allen EU-Staaten.