Vom 12. Februar bis zum 31. Juli ist auf dem Kölner Heumarkt die Ausstellung "Körperwelten" zu sehen. Die Ausstellung war als erstes in Japan gezeigt worden, wo sie mehr als zweieinhalb Millionen Menschen anlockte. Erst nach diesem Publikumserfolg - der einen kommerziellen Erfolg einschloss - wurde sie auch in Deutschland gezeigt. In Mannheim sahen vor zwei Jahren 800.000 Besucher die "Körperwelten". Anschließend strömten in Wien 550.000 Menschen und in Basel 600.000 Menschen in die Ausstellung. In Österreich galt sie als - quantitativ - erfolgreichste Exposition, die jemals gezeigt worden war.
Wie bei den vorangegangenen Ausstellungen gab es auch in Köln eine öffentlich geführte Auseinandersetzung über den Sinn bzw. Unsinn von "Körperwelten". Der Anatomie-Professor Gunther von Hagens stellt in seiner Exposition mehr als 200 sogenannte Plastinate aus, darunter 25 Ganzkörper-Plastinate. Letztere sind speziell präparierte menschliche Leichen.
Von Hagens entwickelte dazu ein Verfahren, bei dem die menschliche Gewebeflüssigkeit, das Fett und das Wasser, vollständig durch Kunststoffe ersetzt wird. Je nach verwendetem Kunststoff (Silikonkautschuk, Epoxidharz oder Polyester) sind die Präparate hart oder flexibel, transparent oder undurchsichtig. Auf alle Fälle sind sie so auf Dauer konserviert und behalten dabei ihr natürliches Oberflächenrelief, ihre Struktur. Sie "sind bis in den mikroskopischen Bereich hinein identisch mit ihrem Zustand vor der Konservierung," schreibt von Hagens. "Selbst mikroskopische Untersuchungen bleiben so weiterhin möglich."
Die Zustimmung zur Plastination der Leichen erhält der Anatom noch zu Lebzeiten der späteren Ausstellungs- oder Lehrstücke. Um jedoch etwaige Reaktionen von Angehörigen zu verhindern, werden die Ganzkörper-Plastinate anonymisiert. Dies geschieht meist durch die Abtrennung der Gesichtshaut. Mehr als 1.400 Menschen haben sich inzwischen bereit erklärt, ihren Körper "der Wissenschaft zur Verfügung zu stellen" - und sich somit zu verewigen.
Für die Medizin, speziell für die Ausbildung von Medizinern, ist die Plastination ohne Zweifel eine bahnbrechende Entwicklung. Von Seiten der Medizin gab es dementsprechend keine Einwände gegen die Ausstellung. Proteste gab es von der Kirche und ihr nahestehenden Organisationen sowie Einzelpersonen. Von dieser Seite wurde alles versucht, um die Ausstellung zu verhindern. Die katholische und die evangelische Kirche befanden einträchtig, dass die Ausstellung nicht nur ethisch-moralische Werte, sondern auch christliche Vorstellungen und gar das Naturrecht in Frage stelle. Die Menschenwürde gelte auch nach dem Tod.
Schließlich erhielten die Ausstellungsgegner auch noch Schützenhilfe von juristischer Seite. Der frühere Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Ernst Benda, hält die Exposition nicht nur ethisch, sondern auch rechtlich für fragwürdig. Ein Einzelner, so Benda - der übrigens auch Präsident des Deutschen Evangelischen Kirchentages war -, habe mit Ausnahme von Organspende und Spende für die Wissenschaft kein Verfügungsrecht über seinen Körper!
Die beiden Kirchen erwägen, sowohl mit rechtlichen Schritten als auch mit Veranstaltungen und Demonstrationen gegen "Körperwelten" vorzugehen. Doch angesichts der absurden Behauptungen von Seiten der Kirche sehen Professor von Hagens und sein Pressebüro allen Angriffen gelassen entgegen.
In der Tat gibt es keinerlei weltliche Einwände gegen eine solche Ausstellung. Sie vermag es, dem interessierten Laien ein umfassenderes Verständnis des Körpers, der inneren Organe, des Nervensystems, des Blutkreislaufs, kurz, der gesamten menschlichen Anatomie zu vermitteln - ein Ziel, das seit Jahrhunderten nicht nur Mediziner, sondern auch Künstler verfolgt oder fasziniert beobachtet haben. Die Werbebroschüre der Ausstellung zitiert beispielsweise Goethe mit den Worten: "Die anatomische Zergliederung eröffnet uns die Tiefen der Natur mehr als jede andere Bemühung und Betrachtung."
Leider steht die Ausstellung nicht in dieser Tradition. Die großen Möglichkeiten der Plastination, die Faszination des menschlichen Körpers zu vermitteln, werden in der Ausstellung nur ansatzweise genutzt oder durch verschiedene Umstände wieder zunichte gemacht.
Von Hagens, Jahrgang 1945, hat Berichten zufolge schon in seiner Kindheit ein reges Interesse am menschlichen Körper, speziell dem toten an den Tag gelegt. In der DDR aufgewachsen begann er 1965 in Jena sein Medizinstudium. 1968 saß er nach misslungener "Republikflucht" für zwei Jahre im Gefängnis. Im August 1970 wurde er von der Bundesregierung freigekauft und setzte sein Studium in Lübeck fort. Ab 1975 arbeitete er am anatomischen und pathologischen Institut der Universität Heidelberg. In den vergangenen 23 Jahren arbeitete er an der Entwicklung der Plastination.
Von Hagens hat sein Leben ganz und gar der Erforschung und vor allem der Konservierung des menschlichen Körpers verschrieben. Seine Erkenntnisse und Entwicklungen möchte er wie - so sollte man meinen - jeder Wissenschaftler den Menschen zugänglich machen. Die Faszination der menschlichen Anatomie soll auch dem Laien verständlich oder zumindest verständlicher werden. Bis hierhin ist der Professor in seinem Vorhaben zu unterstützen. Zu großen Teilen ist seine Ausstellung dazu auch in der Lage.
Doch von Hagens will nicht nur die Plastination, sondern auch - wie er sagt - die "ästhetische Anatomie" entwickelt haben. Inzwischen bezeichnet er sich zwar in Interviews nicht mehr als Künstler, sondern als Aufklärer und Erfinder, als Wissenschaftler. Doch das dient offensichtlich Werbezwecken, denn immer wieder versucht er, seine Ausstellung und sich selbst auf die Ebene der Kunst zu heben.
Vor zwei Jahren sagte er beispielsweise: "Vor allem die Ganzkörperplastination ist eine intellektuelle und bildnerische Leistung, bei der man das Ergebnis schon zu Beginn vor Augen haben sollte wie der Künstler die Statue, die er aus einem Steinblock meißeln will." Auch seine Bezugnahme auf Goethe dient nicht zuletzt dazu, sich und seine Arbeit mit der Kunst in Verbindung zu bringen. Auf diesem Feld kommt der Mediziner aber nicht über einige billige Effekte hinaus.
Die Geschichte der Medizin und der Ästhetik oder Kunst sind seit Jahrhunderten eng miteinander verbunden. Die Medizin wird mitunter auch heute noch eine Kunst genannt. Doch leider fasst Professor von Hagens diese enge Verbindung viel zu oberflächlich auf. Die Kunst bemüht sich genauso wie die Wissenschaft einschließlich der Medizin das Wahre, das Leben zu sehen und zu erkennen. Doch beide tun dies auf verschiedenen Wegen.
Die Wissenschaft versucht mit Hilfe von abstrakten Modellen und Begriffen, die sich an den Intellekt des Menschen richten, das Leben, den Menschen zu enträtseln, ihn sich seiner selbst bewusster zu machen. Die Kunst strebt danach, das Leben mit Hilfe von Empfindungen, Leidenschaften, Gefühlen, "mittels Bildern in Form lebendigen sinnlichen Begreifens" (Alexander Woronski) zu erfassen.
Wenn also von Hagens Goethes leidenschaftliches Interesse am menschlichen Körper zitiert, dann gilt beim großen deutschen Literaten die Leidenschaft dem Körper in all seinen Nuancen und Details. Im menschlichen Körper selbst ist die Ästhetik zu suchen und zu finden. Die Einsichten in den menschlichen Körper und seine Anatomie verhalfen Goethe ebenso wie anderen Künstlern zu einem besseren Verständnis des Menschen und seines inneren, funktionalen Lebens. Diese Einsichten flossen in Goethes Gesamtwerk ein, er verarbeitete sie in seinem künstlerischen Schaffen, jedoch auf die ihm eigene literarische Art und Weise.
Was ist von Hagens‘ Vorstellung über die Ästhetik? Wie lässt er seine Faszination für die menschliche Anatomie fantasievoll, erfinderisch und leidenschaftlich in seine Form der Kunst einfließen? Welche ist überhaupt seine Form der Kunst? Wie sieht die Kunst des Heidelberger Mediziners konkret aus?
Die Plastination ist vor allem handwerkliche Arbeit. Es bedarf dazu einer Menge handwerklichen Geschicks. Die Scheibenplastinate (in 3 bis 8cm dicke Scheiben geschnittene Menschen) werden z. B. durch maschinelles Sägen tiefgefrorener Menschen gewonnen. Anschließend werden sie plastiniert und für die Ausstellung positioniert. Anderen Plastinaten muss fachmännisch die Haut, das Bein, der Arm, der Kopf usw. entfernt werden. Mit Sicherheit eine Aufgabe, die gelernt sein will. Aber wo soll der künstlerische Aspekt liegen?
Die Plastination von Hagens‘ erinnert, wenn überhaupt, an die Kunst des britischen Künstlers Damien Hirst, der Haie, Fische, Kuhköpfe und in Scheiben geschnittene Schweine in Formaldehyd legt und positioniert. Bei Hirst ist dies eher Ausdruck der rückschrittlichen Tendenzen in der bestehenden Gesellschaft, eher Effekthascherei und Vermarktung als ehrlicher künstlerischer Versuch.
Diese Tendenz beherrscht auch die Körperwelten-Ausstellung. Es gibt Plastinate, die wegen ihrer Posen "Fechter", "Läufer", "Schachspieler" oder Lassowerfer" genannt werden. Mir leuchtet nicht ein, warum eine präparierte Leiche ästhetisch oder kunstvoll sein soll, nur weil sie z. B. einen Degen in die Hand gedrückt bekommen hat und in entsprechender Stellung hergerichtet ist.
Ein anderes Plastinat ist dem Bild "Brennende Giraffe" von Salvador Dalì aus dem Jahre 1936/37 nachempfunden. Das Bild zeigt im Vordergrund eine Frau auf Stelzen mit Schubladen in Bein und Körper. Dalì war Surrealist. Er verarbeitete in diesem Bild Träume. Das "Schubkasten-Mann"-Plastinat ist dieser Frau Dalìs nachempfunden. Einer stämmigen männlichen Leiche wurden Teile des Körpers akkurat herausgeschnitten. Allerdings kann man so kaum etwas von der Anatomie sehen. Einen ästhetischen Wert habe ich nicht feststellen können.
Bei einem anderen Plastinat war mein Eindruck ähnlich. Ein Mann ohne Haut, der dieselbige aber auf dem Arm trägt (dieses Bild ist auf allen Werbeplakaten der Ausstellung zu sehen). Die Größe der Haut, des größten menschlichen Sinnesorgans, kommt so nicht zur Geltung. Wäre sie aufgespannt in ihrer gesamten Größe vielleicht nicht aufschlussreicher gewesen?
Mit Kunst haben diese Plastinat-Arrangements nichts zu tun. Von Hagens mag ein sehr guter Anatom sein und das Handwerk der Leichenkonservierung beherrschen, ein Künstler ist er nicht. Dass er sich dennoch als Künstler gebärdet, ist schade, denn die "unarrangierten" Ganzkörper-Plastinate (er hat mehrere Plastinate einfach gerade hingestellt) sowie die Plastinate einzelner Organe vermögen Einsichten zu vermitteln, die durch die Arrangements von Hagens eher verhindert werden. Die Arrangements trüben die Erkenntnis der Komplexität, der Größe und gleichzeitigen Verletzlichkeit des menschlichen Körpers, weil hinter den Objekten, die die Plastinate ohne die Installierung von Hagens sind, Emotionen die Oberhand gewinnen.
So habe ich mir sehr lange und ausführlich ein Plastinat von einer im fünften Monat schwangeren Frau angeschaut, die ohne Pose gerade aufgestellt ist. Ihr Bauch ist aufgeschnitten, so dass man Fötus, Gebärmutter, Lunge (sie war Raucherin) usw. sehr gut erkennen kann.
Eine andere Frau hingegen, ebenfalls im fünften oder sechsten Monat schwanger, ist "künstlerisch" positioniert. Sie liegt auf einem langen Stahlblech, in einer lasziv anmutenden Stellung, den Kopf lässig auf den Arm gestützt. Sie erweckt den Eindruck, als läge sie in Erwartung ihres Geliebten auf einem Bett oder einer Couch. Durch ihre Pose wirkte sie sehr real. Daher habe ich an ihr Schicksal gedacht. Eine schwangere Frau, im sechsten Monat gestorben. Warum? Wie? Was ist mit ihrem Geliebten oder Ehemann, dem Vater des Fötus, den man aufgrund des aufgeschnittenen Bauches sieht? usw. Dieses Plastinat ist eher abstoßend als faszinierend.
Hier wie bei anderen Plastinaten wird lediglich auf einen Gruseleffekt beim Betrachter abgezielt, auf voyeuristische Affekte, wie sie schon seit Jahrhunderten von Schaustellern mit ihren Kuriositäten- und Skurillitätenshows auf den Jahrmärkten bedient werden. Die Tatsache, dass die Ausstellung auf dem Heumarkt in der Kölner Altstadt (unweit des Kölner Doms) in einem Zelt untergebracht ist, unterstreicht dies noch. Auch die Zurschaustellung von in Gläsern eingelegten, missgebildeten, ungeborenen Kindern aus älteren pathologischen Sammlungen nutzt diesen Gruseleffekt aus.
Von Hagens spricht diesen Effekt häufig mehr oder weniger explizit an. So zeigt ein Dokumentarfilm über seine Person seinen ersten Besuch im Anatomiesaal der italienischen Universität von Padua. Die dort ausgestellten Wachsmodelle gelten als die beste und umfangreichste Anatomiesammlung der Welt. Sie geht auf den ersten großen Anatom Andreas Vesal (1514-1564) zurück.
Der Professor aus Heidelberg ist fasziniert von den Modellen, die von namhaften Künstlern gefertigt worden sind. Dies reiche, so von Hagens, für die Ausbildung von Medizinern völlig aus. Auf die Frage der Dokumentarfilmerin, warum er dann die Plastinate herstelle, kann er nur antworten: "Das frage ich mich auch gerade." Er schiebt dann - eher zur Beruhigung seines fragenden Gewissens - nach: "Der Laie braucht das Echte."
Auf dem "Körperwelten"-Internet-Site schreibt er: "Leonardo da Vinci und Andreas Vesal, die überragenden Anatomiekünstler der Renaissance, entdeckten als erste, dass die Schönheit des Körperäußeren auf staunenswert funktionalen Strukturen des Körperinneren beruht. Deren individuelle Schönheit können uns weder Abbild noch Modell erschließen, denn die Quellen der Wahrheit liegen im Original."
Die Ausstellung in Padua sollte ihn eigentlich eines Besseren belehrt haben. Er selbst war fasziniert von den Modellen da Vincis, Vesals und anderer Künstler und hat erklärt, Mediziner könnten daran ausgebildet werden. Warum verlangt und benötigt der Laie mehr? Er würde wahrscheinlich den Unterschied zwischen "echt" und Modell gar nicht erkennen, denn die Plastinate sind eben nicht das Original. Sie sind unter den Händen von Hagens‘ und durch dieselben zu Objekten geworden. Aus Kunststoff bestehend und in Pose gebracht oder in hauchdünne Scheiben geschnitten gleichen sie den präzisen Modellen. Wirkliche tote Menschen dagegen riechen, verfaulen und verwesen. Die Plastinate riechen nicht - außer nach Plastik. Sie verfaulen und verwesen nicht. Sie stauben höchstens ein. Das Einzige, was das Wissen um "das Echte" beim Laien bewirkt, ist eine Gänsehaut, ein Schauer über den Rücken.
Gunther von Hagens‘ Ganzkörperplastinate können in diesem Sinne - obwohl das von ihm immer wieder behauptet wird - nur sehr wenig zur Klärung und Aufklärung des Todes beitragen. (Die tiefschwarze plastinierte Raucherlunge ist in dieser Hinsicht viel eindrucksvoller und aufklärender.) Ein Leserbrief, mit dem die Ausstellung in einem Faltblatt wirbt, ist grundfalsch. Darin heißt es: "So gibt er [v. Hagens] uns einen Blick für das zurück, was nach unserem Tod von unserem Körper übrig bleibt." Die Plastinate sind erwiesenermaßen nicht das, was nach unserem Tod übrig bleibt.
Hier wird eher die Haltung von Hagens‘ gegenüber dem Zeitgeist greifbar. In einem Interview schreibt er: "Wenn sich Menschen als Körperspender für die Plastination in die nächste Generation stellen, machen sie den Körper zum Kulturgut ..." So könne man etwas schaffen, "was über unseren Tod hinaus bleibt".
Es mag zutreffen, dass sich der eine oder andere Körperspender selbst zum Kulturgut - und damit unsterblich - machen will; ob aus Mangel an anderweitigen Kulturgütern, die er der Nachwelt hinterlassen kann, bleibe dahingestellt. Beim Schaffen von Kultur geht es dabei nur noch um das Ob, und nicht mehr um das Was - egal wie. Form und Effekt stehen über dem Inhalt; seinen Körper spenden kann schließlich ein jeder.
Auf alle Fälle kann man bestätigen, dass sich von Hagens mindestens ebenso geschickt vermarktet, wie er Körper konserviert. Angezogen durch seine Interviews, den Medienrummel und die Schauereffekte seiner Ausstellung selbst werden mit Sicherheit hunderttausende Menschen die Kölner Ausstellung sehen. Das trägt nicht nur zum Ruhm von Hagens' bei, sondern lässt gleichzeitig die Kassen der Sponsoren klingeln. Der Eintritt beträgt immerhin - nicht gerade der breitestmöglichen Aufklärung dienende - 22 DM, bzw. 16 DM für Schüler und Studenten. Für Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger gibt es keine Ermäßigung.