Am vergangenen Mittwoch verabschiedete das Kabinett den sogenannten Referentenentwurf für die Gesundheitsreform 2000. Er soll schon in der nächsten Woche in erster Lesung vom Bundestag behandelt werden und zum 1. Januar 2000 in Kraft treten.
In den letzten Wochen und Monaten verging nicht ein Tag, an dem nicht von irgend einer Seite Kritik an dem vorliegenden Gesetzentwurf geübt wurde. Ob Pharma-Industrie, Krankenkassen, Krankenhaus- und zahlreiche Ärzteverbände, alle entwerfen Horrorszenarien, die die Gesundheitsversorgung vor dem Abgrund stehend erscheinen lassen. Die einzige Gruppe, die sich noch nicht öffentlich zu Wort gemeldet hat, ist diejenige, um die - oder besser: um deren Gesundheit - sich aber die gesamte Diskussion dreht, die Bevölkerung, hier als Patienten. Mit dieser ersten Stellungnahme soll sich dies ändern.
Worum geht es? Das deutsche System der Sozialversicherungen ist bereits vor über hundert Jahren vom Staat aufgebaut worden. Der damalige Reichskanzler Otto von Bismarck versuchte sowohl mit Verboten, den sog. Sozialistengesetzen von 1878 (Verbot der damaligen sozialdemokratischen Partei), als auch mit sozialen Zugeständnissen, der erstarkenden sozialistischen Arbeiterbewegung den Wind aus den Segeln zu nehmen. Bereits 1883 wurde die Krankenversicherung, ein Jahr später die Unfallversicherung und 1889 die Invalidenversicherung -(Arbeiterrentenversicherung) eingeführt. Dies war ein Erfolg der Arbeiterbewegung unter Führung der SPD.
Dieses staatliche Sozialversicherungs- und Gesundheitssystem diente lange als Aushängeschild und Markenzeichen. Bis heute ist vom "weltbesten Gesundheitssystem" die Rede. Das Prinzip war recht einfach: Arbeiter und Unternehmer sind per Gesetz verpflichtet, einen bestimmten Betrag in eine Kasse zu zahlen, Bedürftige erhalten im Krankheitsfall die notwendige medizinische Unterstützung.
Dieses sogenannte Solidaritätsprinzip funktionierte in den letzten einhundert Jahren mehr oder weniger gut. Doch durch grundlegende gesellschaftliche Entwicklungen insbesondere in den letzten zwei Jahrzehnten kam dieses System immer weiter in Schwierigkeiten. Zunächst verschob sich die nach dem Alter geordnete Bevölkerungsverteilung, die sogenannte Alterspyramide, immer weiter zugunsten der älteren nicht mehr arbeitenden Menschen. Das heißt, daß immer weniger Arbeiter mit ihren Beiträgen in die Krankenversicherung das Gesundheitssystem finanzieren - für eine relativ gleichbleibende Anzahl von Menschen.
Andere immer wieder in die Diskussion geworfenen demographischen Veränderungen werden von Wissenschaftlern nur begrenzt anerkannt. So gäbe es beispielsweise keinen eindeutigen und zwingenden Zusammenhang zwischen höherer Lebenserwartung und steigenden Gesundheitsausgaben. Die Ausgaben steigen erheblich weniger als angenommen mit dem Alter. Sie steigen vielmehr mit der Nähe des Todes. Die Lebenserwartung spielt also kaum eine Rolle. Aber auch die relative Zunahme der älteren Menschen an der Gesamtbevölkerung trägt nicht in dem Maße wie häufig angenommen zum Anstieg der Ausgaben im Gesundheitswesen bei.
Viel gravierender schlagen sich die andauernde Massenarbeitslosigkeit und - insbesondere in den letzten zehn Jahren - die geringen Lohnzuwächse nieder.
Zusätzlich wird die Gruppe der Beitragszahler zur Gesetzlichen Krankenversicherung durch die sog. Beitragsbemessungsgrenze beschränkt. Denn natürlich haben niemals wirklich alle in die Krankenkasse eingezahlt. Einige Berufsgruppen wie die Beamten haben ein eigenes Versicherungssystem und die Reichen zahlen in die Privaten Krankenkassen ein, wodurch sie sich bessere Leistungen erkaufen. Derzeit ist es ab einem Einkommen von 6.375 DM brutto im Monat möglich, aus der Gesetzlichen in die Private Krankenversicherung zu wechseln.
Rund 90 Prozent der Gesamtbevölkerung sind Mitglied in der Gesetzlichen Krankenversicherung. Die Beiträge liegen momentan bei durchschnittlich 13,5 Prozent vom Bruttolohn bzw. -gehalt. Eine Hälfte zahlt der Arbeitnehmer, die andere Hälfte der Arbeitgeber. Wenn also die Ausgaben der gesamten Gesellschaft für Gesundheit wachsen, müßten die Beiträge erhöht werden. Dies würde natürlich auch die Kosten der Arbeitgeber erhöhen. Es ist gerade dieser letztere Punkt, um den es vorrangig im neuen Gesetzesentwurf der Bundesregierung geht. Die Beitragssätze der Gesetzlichen Krankenversicherung sollen für die Unternehmen unter keinen Umständen steigen, sondern nach Möglichkeit gesenkt werden. Daher die ständige Bezugnahme auf die Senkung der Lohnnebenkosten.
Da niemand von Seiten der SPD und Grünen davon ausgeht, daß die Arbeitslosigkeit sinkt und die Löhne steigen, von dieser Seite also die Einnahmen eher weiter zurück gehen werden, gleichzeitig die Beitragssätze in Interesse der Unternehmer stabil gehalten, oder gar gesenkt werden sollen, klaffen Einnahmen und Ausgaben immer weiter auseinander.
Dies ist der Grund für das Gerede einer "Ausgabenexplosion", die real so nicht existiert. Experten weisen nach, daß die Ausgaben für Gesundheit nur "moderat" angewachsen sind. In den letzten 20 Jahren ist der Anteil der Ausgaben der Gesetzlichen Krankenversicherung am Bruttoinlandsprodukt von durchschnittlich 5,87 Prozent auf 5,95 Prozent gestiegen. "Auch anhand dieser Wachstumsraten läßt sich demnach im Grunde keine Dramatik bzw. ,Ausgabenexplosion' im Gesundheitswesen erkennen", schreibt z. B. Professor Heinz-J. Bontrup von der Fachhochschule Gelsenkirchen. "Erst mit der Wiedervereinigung gab es nachhaltige Finanzierungsprobleme in der gesetzlichen Krankenversicherung", schreibt er weiter. "Ein Großteil der Finanzierungsschwierigkeiten lag dabei nicht an einer ,Ausgabenexplosion', sondern an rückläufigen Einnahmen bedingt durch hohe Arbeitslosenquoten und niedrige Tarifabschlüsse."
Ein Abbau der Arbeitslosigkeit würde die Einnahmen sofort erhöhen. Eine weitere ebenso wichtige wie erfolgreiche Maßnahme, die die Regierung ergreifen könnte, wäre die Auflösung der Privaten Krankenversicherungen, damit wirklich alle - auch die Reichen - ihre Beiträge in die gesetzliche Krankenversicherung einzahlen. Doch selbst eine leichte Anhebung der Beitragsbemessungsgrenze, wie von Teilen der SPD und Grünen, vor allem Rudolf Dreßler (SPD), gefordert, lehnt Andrea Fischer (Bündnis90/Grüne) entschieden ab. Allein eine Anhebung der Beitragbemessungsgrenze auf das Niveau der Rentenversicherung würde die regelmäßigen Einnahmen um 10 Milliarden DM steigern.
Aber in diesem Bereich bleibt alles beim Alten. Die Private Assekuranz ist daher mit der Gesundheitsreform durchaus zufrieden, sind ihre Gewinne doch dadurch nicht in Gefahr. Auch an eine hohe Besteuerung der Gewinne der Arzneimittelhersteller und die Wiederverwendung dieser Gelder für die Gesundheitsversorgung ist nicht gedacht. Im Gegenteil: die gesamte Gesundheitsreform ist darauf ausgerichtet, die Unternehmer zu entlasten.
Wie versucht nun das Bundesgesundheitsministerium unter Leitung von Andrea Fischer die auseinander strebenden Ausgaben und Einnahmen der Gesetzlichen Krankenversicherung wieder zusammenzuführen?
Der Entwurf sieht eine Veränderung vor allem an vier zentralen Punkten vor.
1. Das "Lotsensystem"
Zunächst soll die hausärztliche Versorgung gestärkt werden. Der (billigere) Hausarzt soll entscheiden, ob eine Überweisung an einen (teuren) Spezialisten vonnöten ist. Der Hausarzt tritt somit als "Lotse" auf. Mit diesem sog. "Lotsensystem" ist der Bund der Allgemeinmediziner (BDA) hoch zufrieden, sichert er doch die Einkünfte dieser Ärztegruppe. Nach den neuesten Änderungen wird ein eigens für die Hausärzte zur Verfügung stehender Honorartopf geschaffen. Außerdem ist vorgesehen, die Niederlassung von Fachärzten gegenüber der von Hausärzten zu erschweren.
Anfängliche Differenzen zwischen dem BDA und der Kassenärztlichen Vereinigung sind vorläufig beigelegt. In den ersten Arbeitsentwürfen der Reform war noch eine Muß - Bestimmung geplant, die den Patienten Sanktionen androhte, wenn sie von sich aus einen Spezialisten aufsuchten. Nun ist ein Bonussystem geplant. Der Patient soll von seiner Kasse einen Beitragsbonus erhalten, wenn er zuerst zu seinem Hausarzt geht, der ihn dann gegebenenfalls überweist. Das Lotsensystem wird aus diesem Grund berechtigterweise mit dem Hinweis kritisiert, daß hiermit die Einschränkung des Rechts auf freie Arztwahl beginnt.
In den Niederlanden, in der dieses System bereits durchgesetzt ist, zeigt sich ein weiterer für Patienten bedeutender Nebeneffekt. Da dort durch die Niederlassungsbeschränkung Fachärzte inzwischen Mangelware sowie die Fachkliniken hoffnungslos überlastet sind, müssen Patienten teilweise monatelang auf einen Facharzttermin warten.
2.Die Positivliste
Das Ziel der sogenannten Positivliste, auf der die von der Krankenkasse zu zahlenden Arzneimittel aufgelistet sind, ist die Senkung der Pro-Kopf-Ausgaben für Medikamente. Gegen diese Liste lief vor allem die Pharma-Industrie Sturm. Sie malten das Ende der Forschung und damit des medizinischen Fortschritts an die Wand. Der Verband Forschender Arzneimittelhersteller (VFA) nannte beispielsweise die Positivliste ein "negatives standortpolitisches Signal" und eine "Ansammlung von Innovationshürden".
Ab 2002 werden auf der Liste 40.000 Medikamente verzeichnet, deren Kosten bei einer ärztlichen Verschreibung die Kassen übernehmen. In einem Anhang an diese Liste werden die alternativen Medikamente der Phytotherapie (Pflanzenheilkunde), der Homöopathie (Heilverfahren, bei denen die Patienten mit Mitteln in geringer Dosierung behandelt werden, wie sie bei hoher Dosierung bei Gesunden ähnliche [griechisch: homöo] Krankheitssymptome hervorrufen würde) sowie der Anthroposophie ("Heilkunde", die den Menschen mit Übersinnlichem verflochten sieht) aufgeführt.
Eine Prüfungskommission beim Bundesausschuß der Ärzte und Krankenkassen aus Schulmedizinern und Verfechtern der alternativen Medizin soll beschließen, welche Medikamente auf die Liste, bzw. in den Anhang kommen. Das Bundesministerium für Gesundheit wird diese Entscheidung dann per Rechtsverordnung verfügen. Für die Patienten stellen sich vor allem die Fragen, wer genau in der Prüfungskommission sitzt, wer sie autorisiert und nach welchem Verfahren sie die Medikamente aussuchen? Werden, aus welchen vorgebrachten Gründen auch immer, Medikamente nicht in die Liste genommen, die Patienten dringend benötigen?
Die Arzneimittel der Positivliste werden aus den 400.000 am Markt befindlichen Medikamenten ausgesucht. Die Vielzahl der in Deutschland angebotenen Medikamente hängt nur teilweise mit der von der Industrie ins Felde geführten deutschen Spitzenposition in der Forschung zusammen. Von den Arzneimittelkosten entfallen z.B. lediglich 10 Prozent auf die Forschung. Davon ist laut Aussage des ehemaligen Präsidenten der Berliner Ärztekammer Ellis Huber ein Großteil Marktforschung und nicht Therapieforschung. "Man untersucht etwa, welche Tablettenfarbe oder welche Verpackung gut ankommt."
Ausschlaggebend für die übergroße Bandbreite an Medikamenten in Deutschland ist vor allem der Patentschutz. Wird ein Nachahmerprodukt am Arzneimittelmarkt zugelassen und somit der Wettbewerb und Preisverfall des entsprechenden Medikamentes in Gang gesetzt, wird nach einem neuen "innovativen" Medikament geforscht. Denn dieses neue Produkt besitzt zumindest in den ersten Jahren wegen des Patentschutzes Monopolstellung, kann also zu stark überhöhten Preisen verkauft werden. Die Ausgaben der Pharma-Industrie in diesem Bereich haben sich in den vergangenen zehn Jahren auf weltweit 60 Milliarden verdreifacht.
Die Pharma-Konzerne haben angekündigt, sich rechtliche Schritte gegen die Positivliste vorzubehalten. Dabei ist diese Industrie in Deutschland nach wie vor eine der leistungsfähigsten und ertragsstärksten Industriezweige der EU, mit rund 520.000 Beschäftigten, etwa 180 Mrd. DM Produktionswert und einem Exportüberschuß von etwa 25 Mrd. DM im Jahr 1996. Die Branche rechnet nach wie vor mit einer Wachstumsrate von 7 bis 8 Prozent pro Jahr. (Bontrup) Die Renditen liegen teilweise bei über 30 Prozent.
3. Stärkung der Krankenkassen
Die Position der Krankenkassen wird gemäß dem vorliegenden Gesetzentwurf gegenüber Ärzteverbänden und Krankenhäusern gestärkt. So können die Kassen für den Fall wiederholt festgestellter "Unwirtschaftlichkeit" oder überzogener Honorare Kürzungen, und andere Maßnahmen vornehmen. Ohne Zweifel gibt es in diesem Bereich Mißstände, die abgestellt werden sollten. Doch ohne Mitsprache und Entscheidungsrechten der Betroffenen, d.h. der Patienten, steht zu befürchten, daß sich auch diese Stärkung der Kassen negativ auf die Gesundheitsversorgung auswirkt.
Deutlich wird dies an anderer Stelle des Referentenentwurfs an der festgelegt ist, daß in Zukunft auch Unternehmer vom Arzt Schadensersatz verlangen können, wenn dieser eine Arbeitsunfähigkeit "grob fahrlässig" oder "vorsätzlich" festgestellt hat, obwohl die Voraussetzungen nicht vorlagen.
Die Krankenkassen sollen mit einzelnen Leistungsanbietern (gemeint sind Ärzte und Krankenhäuser) individuell verhandeln können. Sie sind bei ihren Verhandlungen nicht mehr wie bisher strikt an die Ärzteverbände oder Länderregierungen gebunden.
Geplant ist, daß in zwei Stufen die Finanzierung der Krankenhäuser von den Ländern bis zum Jahre 2008 auf die Kassen übergeht. Bislang tragen die Länder die Investitionskosten und die Krankenkassen die Betriebskosten. Die derzeit existierende Regelung besagt, daß in Deutschland die stationäre Versorgung per Gesetz von den Ländern sichergestellt wird. Die Länder stellen nach dem Krankenhausfinanzierungsgesetz (KHG) Krankenhauspläne und Investitionsprogramme auf. Ist ein Krankenhaus in den Landeskrankenhausbedarfsplan aufgenommen, besteht für die Krankenkassen auch Leistungspflicht für dieses Krankenhaus. Diese Pflicht der Krankenkassen - Kontrahierungszwang genannt - fällt künftig weg.
Denn ab dem Jahr 2008 finanzieren sich die Krankenhäuser ausschließlich über die Pflegesätze. Dadurch, daß zusätzlich die Krankenhaustagessätze abgeschafft und durch ein Festpreis- oder Richtpreissystem ersetzt werden, bei dem das Krankenhaus einen festgelegten Betrag für eine Leistung erhält, unabhängig davon wieviel Arbeitszeit, Medikamente usw. wirklich verausgabt werden, werden die einzelnen Krankenhäuser wie jedes Unternehmen im Dienstleistungsbereich Kunden bzw. Kranke "gewinnen" müssen, um die Kapazitäten auszulasten und rentabel zu sein. Je mehr Kranke, desto besser. Operationen und stationäre Behandlungen wie am Fließband wären "wirtschaftlich" und werden daher angestrebt. Unter diesen Bedingungen eines Richtpreissystems wird sich in Zukunft kein Krankenhaus erlauben können, einen Patienten mit Blinddarmentzündung länger als unbedingt nötig in einem seiner Betten verweilen zu lassen. Nicht optimale Behandlung und Pflege, sondern optimale Wirtschaftlichkeit, durch kürzeste Liegezeiten lautet dann die Devise.
Diese monistisch genannte Art der Finanzierung war übrigens bereits schon vor 1972 gültig gewesen. Damals konnte diese Finanzierungsform die erheblichen Modernisierungsrückstände und den Substanzverfall der Krankenhäuser nicht überwinden. Die sozialdemokratische Regierung unter Willy Brandt entschloß sich daher, aus Steuermitteln die alten Krankenhäuser zu sanieren und neue Kliniken zu bauen.
Jörg Röbbers, Hauptgeschäftsführer der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG) erklärte zu den Plänen im Krankenhausbereich: "Für die DKG steht [...] außer Zweifel, daß Richtpreise in kurzer Zeit zu einem ruinösen Wettbewerb führen würden. Viele Krankenhäuser würden dem Kostendruck erliegen." Es "kämen die Verdrängungsmechanismen der puren Marktwirtschaft zur Entfaltung, wie man dies aus dem Ausland kennt. Wenn die Koalition allerdings Überkapazitäten im deutschen Gesundheitswesen durch Amerikanisierung beseitigen will, dann - bitte schön - soll sie es deutlich sagen. Die DKG hat ein anderes Verständnis von Sozialstaatlichkeit. Wenn Richtpreise und Aufhebung des Kontrahierungszwangs, warum dann nicht auch Aufhebung der Behandlungspflicht der Krankenhäuser? Warum keine Waffengleichheit?"
Hier zeigt sich bereits wohin der Weg geht. Was vordergründig wie eine polemische Antwort der DKG auf die Pläne der Bundesregierung erscheint, ist offensichtlich ernster gemeint. Wenn schon "Förderung des Leistungs- und Qualitätswettbewerbs der Krankenhäuser" durch die "Stärkung der Eigenverantwortlichkeit des einzelnen Krankenhauses", dann fordert die DKG das Recht der Krankenhäuser, sich die "lukrativsten Kunden" zu suchen und "unrentable" abzuweisen.
Noch ist es nicht soweit. Aber im Krankenhausbereich wurden die weitaus größten "Einsparpotentiale" ausgemacht. Hier setzten sich die Krankenkassen mit ihrer Forderung nach "Ausschöpfung der Wirtschaftlichkeitsreserven" sowie Bettenabbau durch. Ziel der Krankenkassen ist es, von den 600.000 Krankenhausbetten in Deutschland 10 Prozent abzubauen und von den 1 Million Beschäftigten in Krankenhäusern 60.000 Stellen zu streichen.
4. Globalbudget
In diesem Bereich gab es die vehementesten Proteste von allen Seiten. Die Kassenärztliche Bundesvereinigung hat für eine Gegenkampagne eine Million DM investiert. Das Motto: "Die heile Welt der Medizin: bald nur noch im Fernsehen?" Mehrere Fernsehsender und Zeitungen verweigerten allerdings die Ausstrahlung bzw. den Druck der Anzeigen und Spots.
Indem die Bundesgesundheitsministerin die jährlichen Ausgaben der Krankenkassen von derzeit 250 Milliarden DM budgetiert, sprich begrenzt, und jährlich nur um die Steigerung der Grundlohnsumme (die Summe aller gezahlten Löhne, die aber z. B in Ostdeutschland sinkt) anheben möchte, entsteht verständlicherweise das Hauen und Stechen zwischen allen Beteiligten um ein möglichst großes Stück vom Kuchen. Die Krankenkassen und Andrea Fischer werfen den Ärzten und der Pharma-Industrie vor, sie würden nur an ihre Einnahmen bzw. Gewinne denken. Die Ärzte und Pharma-Konzerne werfen wiederum den Kassen wie auch Andrea Fischer vor, daß sie Arbeitsplätze vernichten, den Wirtschaftsstandort Deutschland gefährden, einen gesamten Berufsstand vernichten, die Gesundheitsvorsorge zerschlagen usw. Was hat es also auf sich mit dem "Globalbudget"?
Wie in allen Unternehmen stehen sich auch in der Gesetzlichen Krankenversicherung Einnahmen und Ausgaben gegenüber. Die Einnahmen stellen die Beiträge der arbeitenden Bevölkerung dar, die Ausgaben machen vor allem die Kosten für Medikamente, medizinische Anlagen und Geräte sowie die Honorare der Ärzte, Therapeuten, Apotheker, usw. aus.
Schon in den früheren Gesundheitsreformen wurde versucht, die ständig wieder aufreißende Kluft zwischen Einnahmen und Ausgaben zu schließen. Unter der Kohl-Regierung wurden die Patienten über Leistungskürzungen und Zuzahlungen bei Medikamenten ständig mehr belastet. Die jetzige Bundesregierung hat in den Worten von Ministerin Fischer großspurig angekündigt, daß zum ersten Mal die bisherigen Profiteure des Gesundheitswesen, allen voran die Pharma-Industrie, Kürzungen hinnehmen solle.
Sie begründet das damit, daß sie den Rahmen für die Ausgaben für Medikamente bewußt gering hält. Die Verantwortung für den Einsatz der Mittel aus dem Globalbudget von 250 Milliarden DM liegt bei den Landesverbänden der Krankenkassen. Dabei sind sie indes nicht frei in der Verteilung der Mittel. Für Medikamentenausgaben wird jeder der 23 existierenden Regionen ein Etat zugewiesen. Dieser wird im "Benchmarking"- Verfahren ermittelt, d. h. der Durchschnitt der drei Regionen mit den niedrigsten Arzneimittelausgaben gilt im nächsten Jahr für alle 23.
Wird das Globalbudget trotzdem überschritten sollen laut Gesetz die Mehrausgaben durch entsprechende Einsparungen bei den Ärzten im folgenden Jahr ausgeglichen werden. Dagegen laufen die Ärzte Sturm. Sie seien z.B. nicht für die bereits im ersten Quartal um 16 Prozent gestiegenen Ausgaben verantwortlich. Sie machen dafür vor allem die Teuerung der Arzneimittel und die Grippeepidemie Anfang des Jahres verantwortlich, die jeweils mit 5,5 Prozentpunkten bei der Steigerung zu Buche schlagen.
Die Ärzteverbände warnen, daß mit einer Budgetierung die Gesundheitsversorgung nicht mehr gesichert sei. Man wird sich das Szenario denken können (einige Patienten-Beratungs-Organisationen haben diese Versionen als bereits real bestätigt): Hat ein Arzt sein Budget für die Verschreibung von Medikamenten erreicht, wird er seinem Patienten raten, sich dieses oder jenes Medikament zu kaufen - verschreiben kann er es ihm leider nicht, erst wieder im nächsten Quartal.
Der Trend beim Instrument Globalbudget ist also vorprogrammiert: Eine weitere Verschiebung des Schwerpunktes vom gesetzlich-krankenversicherten hin zum privatfinanzierten Gesundheitswesen.
Zusammenfassung
Fassen wir also noch einmal die Implikationen der Reform zusammen. Beim Lotsensystem wird die freie Arztwahl aufgeweicht und die Versorgung durch Fachärzte eingeschränkt. Bei der Positivliste ist noch völlig unklar, ob tatsächlich alle für die Patienten notwendigen Arzneimittel enthalten sind, oder ob wie schon in vorherigen Reformen, weitere Medikamente aus der eigenen Tasche bezahlt werden müssen. Die Stärkung der Krankenkassen hat unübersehbar fatale Folgen für die arbeitende Bevölkerung: als Patienten bei einer Fließbandabfertigung im Krankenhaus sowie als Beschäftigte beim dortigen Arbeitsplatzabbau. Das Globalbudget wird dazu führen, daß mehr Medikamente privat gekauft werden müssen, weil die Ärzte sie nicht mehr verschreiben.
Alles in allem setzt die jetzige Gesundheitsreform in all ihren Vorschlägen einen Mechanismus in Gang, der zwangsläufig - trotz aller gegenteiligen Beteuerungen - das Solidarprinzip aufweicht und letztlich abschafft. Der Markt und Wettbewerb wird als dominierendes Element im Gesundheitswesen eingeführt.
Mit rund 250 Milliarden DM stellt die Gesetzliche Krankenversicherung bereits jetzt nur noch etwa die Hälfte der Gesundheitsversorgung dar. Ein noch etwas größerer Anteil der sog. Ausgaben im Gesundheitswesen sind die Ausgaben der Bevölkerung, die sie schon länger direkt aus der eigenen Tasche bezahlen müssen. Diese Ausgaben sollen und werden durch die Gesundheitsreform steigen.
Das private Gesundheitswesen "ist die Zukunftsbranche Nummer eins", glaubt nicht nur der Bochumer Professor und Regierungsberater Rolf Heinze. Derzeit arbeiten über vier Millionen Menschen im Gesundheitswesen, in den nächsten zehn Jahren sollen eine Million Beschäftigte hinzukommen. Der private Gesundheitsmarkt ist inzwischen mit einem Umsatz von über 250 Milliarden DM einer der bedeutendsten Wirtschaftszweige Deutschlands, Tendenz steigend.
Der Spiegel(23/1999) mahnte daher bereits an: "Sollen die Patienten von höheren Beiträgen und Zuzahlungen verschont bleiben, bietet sich nur ein Ausweg: Wachstum in den Bereichen, die nicht über die Gesetzliche Krankenversicherung finanziert werden." Die Umstellung sei längst im Gange, heißt es weiter im Spiegel, der sogleich die Richtung aufzeigt, in der die private Gesundheitsversorgung sich entwickeln soll, nämlich in einen Dienstleistungsbereich für Reiche.
"Kurkliniken bieten neben dem Standardprogramm Entspannungswochenenden für gestreßte Manager, Psychotherapeuten offerieren Trommeltherapien und Bewegungstrainings." Das Nachrichtenmagazin zitiert auch den ehemaligen baden-württembergischen Ministerpräsidenten und jetzigen Jenoptik-Chef Lothar Späth: ",Wenn ein reicher Araber nach Deutschland kommt, um sich einen Mercedes zu kaufen, freuen sich alle über den Exporterfolg, will er sich aber in einer Luxusklinik, die nicht jedem Kassenpatienten zugänglich ist, die Hüfte operieren lassen, ist der Sozialstaat in Gefahr.'" Ärzteverbände und Politiker unterstützen diese Tendenz zur Zwei-Klassen-Medizin.
Nur noch das Allernotwendigste wird von der Gesetzlichen Krankenversicherung übernommen werden. Der Großteil der Gesundheitsvor- und fürsorge wird aus der eigenen Tasche beglichen werden müssen. Gesundheit wird mehr und mehr zu einer Ware degradiert.
Doch Gesundheit ist keine Ware. "Gesundheit ist individuelles und soziales Gut, Krankheit individuelles und soziales Problem. Das Gesundheitssystem ist Bestandteil der gesellschaftlichen Kultur", formuliert Ellis Huber. Recht hat er. Die enorme Steigerung der Arbeitsproduktivität und die großen Fortschritte in der medizinischen Forschung könnten für ein Gesundheitswesen genutzt werden, in dem alle Menschen auf hohem Niveau versorgt werden. Doch die Fischer-Reform leitet das genaue Gegenteil ein. Darüber kann auch die groß angelegte Propagandakampagne des Ministeriums nicht hinweg täuschen.