Die extremen Sozialkürzungen, mit denen die polnische Regierung die Bedingungen für einen EU-Beitritt erfüllen wollte, haben seit Jahresbeginn immer wieder starke Proteste ausgelöst. Einmal gingen die Bauern auf die Straße, ein anderes Mal die Bergarbeiter, Stahlarbeiter oder Krankenhausbeschäftigten. Erst vor einer Woche protestierten 30.000 in Warschau gegen die Wirtschafts- und Sozialpolitik der Buzek-Regierung, die sich aus einer Koalition von AWS (Wahlaktion Solidarnosc) und UW (Freiheitsunion) zusammensetzt. Beide Organisationen bestehen fast ausschließlich aus ehemaligen Mitgliedern und Führern der Gewerkschaft Solidarnosc.
1997 hat die Koalition aus AWS/UW die Regierung übernommen und sich das Ziel gesetzt systematisch alle Wirtschaftsbereiche zu sanieren. Heute ist die soziale Lage in allen Bereichen so angespannt wie noch nie und die Regierung so verhasst wie keine ihrer Vorgängerinnen seit 1989. Nach jüngsten Meinungsumfragen wünschen 45 Prozent der Polen den Rücktritt Buzeks. Sein Wahlbündnis AWS, das in den vergangenen Wahlen 33,8 Prozent erhielt, steht heute bei 17 Prozent. Die Freiheitsunion würde heute statt 13,4 nur noch 10 Prozent der Stimmen erhalten.
Von den Kandidaten für die EU-Osterweiterung wurde Polen in der Vergangenheit stets am positivsten beurteilt, nun aber macht sich Skepsis breit. Anlässlich eines Besuchs des Präsidenten der EU-Kommission Prodi vergangene Woche in Polen erklärte Jan Kulakowski (Chefunterhändler mit der EU), dass Polen nun nicht mehr unbedingt einen Beitritt zum Ende des Jahres 2002 anstrebe. Man sei schon zufrieden, wenn der EU-Gipfel in Helsinki im Dezember irgend ein festes Datum nenne. Ungenannte "westliche Diplomaten" werden mit den Worten zitiert, der wirkliche Grund für diese Kehrtwende seien die extremen inneren Spannungen in Polen infolge des Versuchs, den EU-Beitrittskriterien gerecht zu werden.
Schaut man sich die Situation in der Landwirtschaft, der Stahlindustrie, dem Bergbau oder dem öffentlichen Dienst genauer an, so schwebt alles über dem Abgrund.
Für den größten Teil der Polen ist die Lage alles andere als rosig: Arbeitslosigkeit, Löhne, von denen man sein Leben nicht bestreiten kann, Zusammenbruch der Gesundheitsversorgung, Verschlechterung der Schulausbildung, völlige Perspektivlosigkeit auf dem Lande.
In nahezu jedem Wirtschaftszweig gibt es fast unüberwindliche Probleme, da Polen mit seiner veralteten Landwirtschaft, dem Bergbau, der Stahl- und Werftindustrie nicht konkurrenzfähig produzieren kann, und jede Maßnahme, die Wirtschaft zu modernisieren um die Anforderungen des Weltmarktes zu erfüllen, heftige soziale Konflikte auslöst.
Immer wieder hat die Buzek-Regierung angesichts anhaltender Proteste großer Teile der Bevölkerung Zugeständnisse gemacht. So ist die von der Weltbank geforderte Sanierung des Steinkohlebergbaus noch nicht annähernd erreicht worden, weshalb die Weltbank in dieser Woche bekannt gab, ihre Kreditzahlungen an Polen vorläufig auszusetzen. Sie fordert einen umfassenden Stellenabbau, vor dem Polens Regierung aus Angst vor der Reaktion der Bergleute bisher zurückgewichen ist. Von den ursprünglich 67 Gruben sind immer noch 53 in Betrieb. Im Juni diesen Jahres gab die Regierung einen Abfindungsplan bekannt. 44.000 Zloty (ca. 22.000 Mark) wurde den Bergleuten angeboten, die ihren Arbeitsplatz freiwillig aufgeben. Mit der Annahme dieser Prämie, deklariert als Starthilfe in die Selbständigkeit, sollte jeder Anspruch auf Arbeitslosenunterstützung verwirkt sein. Trotzdem meldeten sich 17.000 Bergleute, worauf das Programm sofort gestoppt wurde, mit der Begründung, dass gar nicht genügend Geld für die Auszahlung der Abfindungen vorhanden sei. Viele erhielten daher statt des Geldes einen Wechsel auf einen Teilwert der Grube.
Die Landwirtschaft macht einen nicht unerheblichen Teil der polnischen Wirtschaft aus. Die landwirtschaftlich genutzte Fläche nimmt 18,5 Mio. Hektar ein, was etwa 59,1 Prozent der Gesamtfläche Polens ausmacht. Weit über ein Drittel der Bevölkerung lebt auf dem Land und die meisten sind mangels anderer Industriezweige von der Landwirtschaft abhängig. Das heißt aber nicht, dass es für sie Arbeit gibt, sondern gerade auf dem Land steigt die Arbeitslosigkeit unaufhörlich an. In einem Bericht des polnischen Handelsrates von 1996 heißt es dazu bereits: "Charakteristisch für den Arbeitsmarkt auf dem Lande ist die latente Arbeitslosigkeit unter den Landleuten..."
Die Lage der einfachen Landarbeiter und die der Bauern selbst unterscheidet sich in sozialer Hinsicht kaum voneinander. Millionen polnischer Bauern leben am Rande des Existenzminimums oder darunter. Das Durchschnittseinkommen auf dem Land ist um 60 Prozent niedriger als in der Stadt. Selbst die 10 Prozent der Landwirte, die in der Statistik als "gut verdienend" geführt werden, kommen gerade mal auf einen Gewinn von ca. 2.800 Mark im Jahr.
Die Aussicht auf einen EU-Beitritt Polens, verbunden mit der Hoffnung auf Subventionen, hatte unter den Großbauern zu Anfang Unterstützung gefunden. Nicht wenige von ihnen nahmen Kredite auf um ihre Höfe zu modernisieren. Nun droht ihnen jedoch der Konkurs, denn sie können die Kredite nicht mehr abbezahlen.
Die Hälfte der Höfe gehören zu der Kategorie Kleinbauern mit einem Hektar Land, auf dem Kartoffeln und Kohl angebaut werden, einer Kuh und ein paar Schweinen im Stall. Es gibt keine anständige Versorgung mit Wasser; Telefon besitzen in der Gemeinde nur der Pfarrer und der Ortsvorsteher.
Für die Kinder und Jugendlichen gibt es keinerlei Perspektive, denn es fehlt an Schulen und Arbeitsplätzen in anderen Wirtschaftszweigen. Als Folge davon wachsen Hoffnungslosigkeit, Verzweiflung und der Alkoholismus.
46 Prozent der polnischen Landwirte lehnen mittlerweile einen EU-Beitritt Polens ab. Sie fürchten ein Massensterben ihrer Höfe. Dies ist sicherlich realistisch, weil die EU nicht mehr bereit ist, die Subventionen für die Bauern in den alten Mitgliedsstaaten weiter zu bezahlen wie bisher, geschweige denn diese Art von Unterstützung für die Beitrittskandidaten aus dem Osten überhaupt erst einzuführen. Gleichzeitig überschwemmt die EU Osteuropa gegenwärtig mit billigen Lebensmitteln. Für die polnische Landwirtschaft sind im Zuge dessen die für sie so wichtigen Exportmärkte in der Ukraine und Russland völlig weg gebrochen, was zur Folge hat, dass die polnischen Bauern kaum noch etwas verkaufen können, die Preise in den Keller gefallen sind und sie ihre Kosten nicht mehr decken können.
Der Unmut über diese Zustände entlud sich zu Beginn dieses Jahres, als Bauern mit Straßen- und Grenzblockaden für eine Verbesserung ihrer sozialen Lage protestierten und sich dabei Schlachten mit der Polizei lieferten. Organisiert wurden die Proteste von der "Land-Solidarität", dem Bauernverband und Samoobrona (Selbstverteidigung). Sie forderten einen Import-Stopp von Fleisch, Getreide und Milchprodukten sowie höhere Preise für ihre Produkte. Der Preis für 1 Kilo Schweinefleisch war inzwischen auf umgerechnet 90 Pfennig gesunken, Käufer gab es trotzdem nicht. So war die Regierung gezwungen, selbst Schweinefleisch in großen Mengen aufzukaufen und eine Reform der Landwirtschaft zu versprechen, um die Bauern von der Straße zu bekommen.
Extrem nationalistisch und dabei bemüht sich als der Wortführer aufzuspielen trat während der Proteste Andrzej Lepper auf. Er ist eine schillernde Figur, war vor 1989 Mitglied der Vereinigten Polnischen Arbeiterpartei und Leiter zweier landwirtschaftlicher Produktionsgemeinschaften. Lepper gründete 1991 zusammen mit anderen, wie er selbst hochverschuldeten Landwirten den Bauernverband "Samoobrona". Seitdem versucht er systematisch seinen Einfluss unter den Bauern, aber auch unter Berg- Stahl- und Werftarbeitern auszubauen, indem er sich als deren Verteidiger aufspielt. Er wettert gegen die Fremdbestimmung Polens und gegen den Ausverkauf Polens durch die gegenwärtige Regierung: "Beim Konzept der Rückkehr Polens nach Europa geht es um nichts anders als um die fortschreitende Degradierung Polens auf den Rang eines EU-Hinterlandes." "Was Bismarck und Hitler mit Gewalt nicht geschafft haben, wird den Deutschen jetzt mit Samthandschuhen gereicht: Polen."
Sein Programm mit dem Titel "Der dritte Weg" orientiert sich stark an China. Dort blieben die Unternehmen trotz Privatisierung in nationaler Hand, d.h. Ausländer können nur 49 Prozent an Aktienbeteiligungen erwerben.
Im Laufe diesen Jahres hat er einige Unterstützung unter den Bauern gewonnen, "Somoobrona" soll mittlerweile 500.000 Mitglieder haben, und Lepper strebt sogar an bei den nächsten Präsidentschaftswahlen zu kandidieren.
Die Buzek-Regierung steckt seit Wochen in einer tiefen Krise. Im Bankrott dieser Regierung liegt auch die Gefahr, dass solche Figuren wie Lepper aufsteigen und weitere Unterstützung gewinnen können.
Unter dem Druck der gesellschaftlichen Opposition zersplittert das regierende Wahlbündnis in seine Einzelteile, was zunächst die Form des "polnischen Stasi-Skandals" annahm. Die gesamte Spitze des Innenressorts wurde inzwischen ausgewechselt. Innenminister Janusz Tomaszewski (AWS) musste im September zurücktreten, nachdem herausgekommen war, dass er vor seinem Amtsantritt Kontakte zum Geheimdienst (Stasi) SB verschwiegen hatte. Danach übernahm Janusz Palubicki (AWS), der als Oppositioneller unter dem Stalinismus mehrfach inhaftiert war, kommissarisch das Amt. Palubicki entließ sofort den stellvertretenden Innenminister Wojciech Brochwicz sowie General Slawomir Petelicki, den Kommandeur einer Spezialeinheit namens "Grom" ("Donner"). Ausgerechnet führende Politiker der Freiheitsunion nennen Palubicki einen "jedes Augenmaß verlierenden antikommunistischen Eiferer", der zu einem Stabilitätsrisiko werde. Denn offenbar wartet die Presse täglich mit neuen Einzelheiten in einer Schlammschlacht auf, wer früher alles Stasi-Kontakte hatte.
Im Zusammenhang mit den schlechten Meinungsumfragen und Protesten fordert die Freiheitsunion nun ultimativ eine Regierungsumbildung und die Entlassung des Vorsitzenden der Sozialbehörde Stanislaw Alot, der von der AWS unterstützt wird. Wenn dies in einer Woche nicht gelinge, müsse Buzek abgelöst werden.
An fast jeder Regierung seit 1989 waren die Führer der damaligen Gewerkschaft Solidarnosc beteiligt, die Anfang der achtziger Jahre die Proteste und Streiks gegen das stalinistische Regime Polens angeführt hatten. So hatte der heutige Finanzminister Leszek Balcerowicz (UW) schon in vier Regierungen dieses Amt inne, so auch in der ersten von Solidarnosc geführten Regierung unter Mazowiecki, als er mit seiner Politik der Schocktherapie weite Teile der Bevölkerung an den Rand des Existenzminimums brachte, um die Schulden an die westlichen Banken zu begleichen.