Rund 5000 Soldaten in Uniform haben am 11. September in Berlin gegen die Kürzungen im Verteidigungshaushalt demonstriert. Entgegen der ursprünglichen Absicht, durch die Straßen der Hauptstadt zu marschieren, fand die Kundgebung zwar im Saale, dem Internationalen Congress Centrum statt. Dennoch kennzeichnet sie einen Wendepunkt in der Geschichte der Bundesrepublik, wo Angehörige der Armee in Uniform bisher zu strikter politischer Neutralität verpflichtet waren.
Mit den Worten: "Die Zeit des stummen Erduldens politischer Willensbildungsprozesse ist vorbei; wir werden uns nicht länger veräppeln lassen," stellte der Hauptredner und Organisator der Kundgebung, der Bundeswehrverbandsvorsitzende Oberst Gertz, das Primat der Politik deutlich in Frage. Soldaten schwenkten dazu Transparente, auf denen das Motto der Versammlung zu lesen war: "Erst schicken sie uns in den Krieg, dann treten sie uns in den Hintern."
In seiner dreiviertelstündigen Rede griff Gertz die Bundesregierung scharf an. Finanzminister Eichel warf er vor, er habe "den beschränkten landespolitischen Horizont des ehemaligen hessischen Ministerpräsidenten noch nicht abgelegt". Verteidigungsminister Scharping wurde auf einer Großleinwand als Penner eingeblendet, der bettelt: "Haste ma‘ ne Mark für mich." Ein anderer Kundgebungsredner, der sicherheitspolitische Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion Günther-Friedrich Nolting, klagte unter dem Gejohle der Anwesenden, die Bundesrepublik sinke auf das sicherheitspolitische Niveau einer Bananenrepublik ab.
Es wurde schnell deutlich, dass es den Organisatoren nicht vorrangig "um die soziale Sicherheit der Soldaten und ihrer Angehörigen" ging, sondern um die militärische Schlagkraft der Bundeswehr. Eine "aktive, gestaltende Außenpolitik", erklärte Gertz, erfordere "auch einen substanziellen Beitrag in Form einer Armee, die in Stärke, Ausrüstung, Bewaffnung und Ausbildungsstand dem politischen und wirtschaftlichen Gewicht der Bundesrepublik Deutschland in Europa und im Bündnis entspricht."
Das sind bemerkenswert offene Worte, verbinden sie doch die Aufgaben der Bundeswehr direkt mit außenpolitischen und wirtschaftlichen Zielen. Bis zur Wiedervereinigung hatte die offizielle Doktrin gelautet, die Bundeswehr diene allein der Verteidigung. Noch im Frühjahr wurde die Teilnahme am Kosovokrieg mit humanitären Zielen begründet und jedes nationale Eigeninteresse in Abrede gestellt. Nun wird unumwunden ausgesprochen, dass Deutschland eine starke Armee braucht, um seinem politischen und wirtschaftlichen Gewicht auf der Welt Geltung zu verschaffen.
Als letzter sprach trotz der teilweise beleidigenden Attacken gegen ihn Verteidigungsminister Scharping zu den versammelten Soldaten. Seine Rede begann unter Pfiffen und endete unter Applaus. Scharping machte deutlich, dass er mit den Zielen der Kundgebung weitgehend übereinstimmt und sie als willkommene Unterstützung für seine eigenen Pläne betrachtet, die Rüstungsausgaben massiv zu erhöhen. Oberst Gertz seinerseits ließ die Presse hinterher wissen, dass er "in 98,5 Prozent aller Fragen" mit Scharping einverstanden sei.
Der Verteidigungsminister stimmte in den Chor über den miserablen Zustand von Waffenarsenal und Ausrüstung ein und führte zahlreiche konkrete Beispiele an. Die Verantwortung schob er seinem Amtsvorgänger von der CDU zu, der Investitionen zusammengestrichen und "über Jahre hinweg ziellos, planlos" umstrukturiert habe. Er sprach von einem "enormen Investitionsschub, der kommen muss, um die Bündnisfähigkeit zu behalten".
Die für das Jahr 2000 vorgesehenen Einsparungen von 3,5 Milliarden Mark ließen sich zwar nicht mehr rückgängig machen, sagte Scharping und bedauerte, dass so ein weiteres Jahr verloren gehe. Aber die für die kommenden Jahre geplanten Kürzungen seien vom Kabinett nur "unter Vorbehalt" beschlossen worden. Er glaube, bemerkte er unter Hinweis auf Finanzminister Eichel, dass "sich der Horizont wieder weiten kann". Anders ausgedrückt: Hat sich die Empörung über die Kürzung von Renten und Sozialausgaben erst einmal gelegt, hält Scharping eine Steigerung der Rüstungsausgaben wieder für durchsetzbar.
Drei Tage vor der Berliner Kundgebung hatte sich Scharping in einer Grundsatzrede, die er an der Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg hielt, noch wesentlich deutlicher geäußert. Vor 440 Teilnehmern eines Generalstabskurses und Vertretern der Presse ließ er nicht die geringsten Zweifel aufkommen, dass er eine nachdrückliche Steigerung der Rüstungsausgaben für unumgänglich hält.
Seit dem ersten Golfkrieg 1990–1991 führen die Vereinigten Staaten ununterbrochen Krieg. Gestützt auf ein marxistisches Verständnis der Widersprüche des US- und des Weltimperialismus analysiert David North die Militärinterventionen und geopolitischen Krisen der letzten 30 Jahre.
"Die Bundeswehr hat seit Jahren von der Substanz gelebt," sagte er. "Es sind nun hohe Anschubfinanzierungen erforderlich, um diese Versäumnisse der Vergangenheit auszugleichen und die notwendigen Investitionen in die Zukunft tätigen zu können." Er nannte einen Investitionsstau von 20 Milliarden Mark, der sich in den vergangenen Jahren aufgebaut habe - das entspricht fast der Hälfte des gegenwärtigen Jahresetats.
Gemessen am jeweiligen Bruttosozialprodukt, führte Scharping aus, wende Deutschland "für die Verteidigung nur rund die Hälfte dessen auf, was unsere europäischen Partner Frankreich und Großbritannien ihrerseits für notwendig halten. Gäbe es für die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik Konvergenzkriterien wie für die Teilname an der Europäischen Währungsunion, so bliebe Deutschland draußen vor der Tür."
Ein aufschlussreicher Vergleich. Das deutsche Bruttosozialprodukt ist um ein Drittel höher als das französische und mehr als doppelt so hoch wie das britische. Macht man es zum Maßstab für die Militärausgaben, wäre der deutsche Verteidigungshaushalt annähernd gleich groß wie der britische und der französische zusammen genommen, Deutschland wäre nicht nur wirtschaftlich, sondern auch militärisch die dominierenden Macht in Europa - eine Vision, die in Paris und London kaum auf Begeisterung stoßen dürfte.
Scharping machte in seiner Rede wiederholt deutlich, dass er eine solche herausgehobene militärische Rolle Deutschlands anstrebt. "Deutschland fällt auf Grund seiner geostrategischen Lage in der Mitte Europas, seiner Größe und Wirtschaftskraft eine Schlüsselrolle für die Gestaltung eines sicheren europäischen Umfelds zu," sagte er eingangs, um gegen Ende erneut zu betonen: "Als eine der führenden Wirtschaftsmächte, als bevölkerungsreichstes Land der Europäischen Union in geostrategischer Schlüssellage, als Pfeiler der transatlantischen Sicherheitsbrücke trägt Deutschland besondere Verantwortung."