Ungeachtet aller ursprünglichen Erklärungen des neuen russischen Premierministers Sergej Stepaschin, daß die Bildung der neuen Regierung entsprechend der Verfassung innerhalb einer Woche beendet sein würde, dauerte dieser Prozeß wesentlich länger. Während dieser Zeit kam es hinter den Kulissen zu scharfen Auseinandersetzungen und Intrigen, in denen es darum ging, wer, in welchem Ausmaß und in wessen Interesse die wichtigsten Regierungsposten und Finanzströme vor den bevorstehenden Wahlen unter seine Kontrolle bringen kann. Die Parlamentswahlen im kommenden Dezember und die Präsidentschaftswahlen im Juni des Jahres 2000 dominieren bereits die öffentliche Debatte.
Die wichtigste Besonderheit der neuen Regierung ist, daß sie ohne Beteiligung von politischen Kräften gebildet wurde und vollständig von der Präsidentenadministration abhängig ist. Darin unterscheidet sie sich von der vorhergehenden Regierung Primakow, die sich auf eine Parlamentsmehrheit, größtenteils bestehend aus Kommunisten und Nationalisten, stützte.
Politisch gesehen unterscheidet sich die neue Regierung nicht von der alten. Sie ist weder eine konsequent "liberale Mannschaft", noch eine Regierung der nationalistischen Opposition. Wie schon beim Kabinett Primakow handelt es sich um eine innerlich instabile Koalition von Lobbyisten und Vertretern verschiedenster Interessengruppen. Das bestätigt die Vermutung, daß das einzige Motiv Jelzins, die alte Regierung zu entlassen, darin bestand, persönliche Sicherheit für sich und für den kleinen Kreis von Leuten anzustreben, mit denen er aufs engste verbunden ist und von denen er abhängt.
Eine weitere wichtige Besonderheit der neuen Regierung ist der dominierende Einfluß von Vertretern der Oligarchen und der größten russischen Konzerne, der sogenannten "natürlichen Monopole". Der Posten des ersten Vizepremierministers, verantwortlich für die Überwindung der Krise in der gesamten Industrie, wurde mit dem ehemaligen Eisenbahnminister Nikolai Aksjonenko besetzt. Eine Reihe weiterer Ämter sind in den Händen von Leuten, die von Anatoli Tschubajs, Chef der "Vereinigten Energiesysteme", unterstützt werden. Medieninformationen zufolge soll er unter anderem die Kandidatur von Stepaschin unterstützt haben. Schließlich ist Wiktor Tschernomyrdin, verbunden mit Gazprom, eine der Schlüsselfiguren in der Regierung und spielt als Sonderbeauftragter für Jugoslawien faktisch die Rolle des Außenministers.
Eine überproportionale Rolle bei der Regierungsbildung spielte erneut der Finanzmagnat Boris Beresowski. Bereits in den letzten Jahren hatte er bei der Verteilung der höchsten Regierungsämter die Finger im Spiel. Doch dieses Mal übte er Einfluß aus wie niemals zuvor. Nach den Worten des Journals Kommersant Wlast agierte Beresowski als "Personalchef der Präsidentenfamilie". Nicht nur der neue Vizepremier Aksjonenko wird als sein Mann angesehen, auch Energieminister Wiktor Kaljushny, der Chef der Zollbehörde M. Wanin, der Innenminister W. Ruschailo und der Chef des Rentenfonds M. Surabow.
Das sind nur die wichtigsten Figuren. Der Verlust an Einfluß auf Personalentscheidungen und die unsanfte Verdrängung der anderen Interessengruppen von der Postenverteilung löste in den russischen Medien Diskussionen über den Begriff "Beresowskis Mann" aus, der mittlerweile zum geflügelten Wort avancierte. Dieser Begriff wurde zum Symbol für Intrigen und versteckte Machinationen. "Beresowskis Mann" schreibt Kommersant Wlast, "ist kein Mensch, sondern eine Diagnose. Das ist keine individuelle, sondern eine gesellschaftliche Krankheit."
Die Prinzipienlosigkeit der Dumaopposition
Der neue Premierministers kam im Zusammenhang mit dem Amtsenthebungsverfahren gegen den Präsidenten an die Macht. Nachdem es der Duma nicht gelungen war, auch nur bei einer der fünf Anschuldigungen gegen den Präsidenten die erforderliche Mehrheit zu erzielen, hatte sie den Präsidentenvorschlag für die Kandidatur des neuen Premierministers angenommen. Wie in all den vergangenen Jahren verhielt sich die Duma äußerst zynisch und demonstrierte nur ein weiteres Mal den extrem heuchlerischen Charakter aller Erscheinungen des herrschenden Regimes.
Die Kandidatur von Stepaschin wurde mit großer Mehrheit unterstützt, trotzdem dieser zu einem der Symbole des unrühmlichen und schmutzigen Krieges in Tschetschenien geworden und der Krieg die Anschuldigung im Amtsenthebungsverfahren war, die mit der größten Wahrscheinlichkeit zur Absetzung des Präsidenten hätte führen können. Während der Parlamentssitzung am 19. Mai stimmten von den 395 anwesenden Deputierten 301 für die Bestätigung Stepaschins, wobei lediglich 226 ausgereicht hätten.
Eine derartige Unterstützung ist in der neueren Geschichte Rußlands nahezu beispiellos. So scheiterte die Bestätigung Kirijenkows im vergangenen Jahr zweimal und konnte beim dritten Mal nur deshalb durchgesetzt werden, weil die Duma bei einer weiteren Ablehnung hätte aufgelöst werden können. Nur Jewgeni Primakow fand im Herbst vergangenen Jahres bei seiner Bestätigung zum Premierminister ähnlich große Unterstützung unter den Deputierten (317 Stimmen).
Njesawisimaja Gaseta kommentierte dieses Verhalten höhnisch: "Die Entscheidung der Staatsduma bedeutet faktisch, daß "Sergej Stepaschin einerseits endgültig nicht mehr zu den Begünstigten des Jelzinregimes und zu den Verantwortlichen für den Konflikt in Tschetschenien gezählt wird, andererseits aber als Garant für politische Stabilität gelten soll, als den man bereits seinen Vorgänger bezeichnet hatte."
Sjuganow versucht wie immer die gesamte Verantwortung für die Entscheidung der Dumaopposition seinen politischen Gegnern in die Schuhe zu schieben. Auf einer speziellen Pressekonferenz erklärte er: "Wir haben uns für eine offene Abstimmung entschieden, weil wir im Laufe eines Jahres acht Mal für einen Premierminister stimmen mußten. All das wird zu einer Tragikomödie und ergibt keinen tieferen Sinn, solange jemand das Ruder in der Hand hat, der für seine Handlungen kaum Rechenschaft ablegt und sich weder für das Land noch seine Ämter verantwortlich fühlt. Wer in dieser Situation ernannt oder abgelehnt wird, ist ohne reale Bedeutung."
Auf die Bemerkung, daß die KPRF Jelzin für den Tschetschenienkrieg verantwortlich gemacht hat, sich aber andererseits in der Duma an der Bestätigung Stepaschins aktiv beteiligte, antwortete Sjuganow: "Das ganze Land hat an diesem Krieg teilgenommen. Das war ein schändlicher, schmutziger Krieg, an dem sich alle beteiligt haben. Jelzin hat diesen Krieg gemeinsam mit Burbulis und Gaidar angefangen. Sie haben ihre Berater zu Dudajew geschickt und ihn überredet, loszuschlagen und zu zerstören. Sie gaben ihm Berge von Waffen, bezogen die Armee, die Polizei und die OMON-Truppen ein. Danach statteten sie die Opposition mit Waffen aus... Sie haben die Sache begonnen und dann alle mit Blut und Schmutz beschmiert. Dieser Krieg ist unser Schmerz und unser Leiden. Wir alle tragen dafür die Verantwortung."
Sjuganow versucht offensichtlich, die Verantwortung für den Krieg in Tschetschenien auf das gesamte russische Volk abzuwälzen, um seine eigene schändliche Beteiligung daran zu verschleiern.
Besorgt um ihre warmen Plätzchen in der Duma und um das Anwachsen ihres Einflusses im Regierungsapparat steht die Dumaopposition nun vor der Notwendigkeit, das Maßnahmenpaket zu verabschieden, auf deren Durchsetzung der IWF für die Vergabe neuer Kredite besteht. Die Vorankündigungen der verschiedenen Oppositionsführer bestätigen, daß sie bereit sind, diese Entscheidungen durchzusetzen und ihre Verantwortung bei der Durchführung der Politik des "gegen das Volk gerichteten Regimes" auch weiterhin fortzusetzen.
Der Kurs der neuen Regierung
Noch vor seiner Bestätigung durch die Duma gab Stepaschin seine Vorstellungen über die neue Regierung und deren Politik bekannt. Vor allem sei er kategorisch dagegen, daß die neue Regierung nur Übergangscharakter haben solle. "Man darf nicht einfach nur über die Fortsetzung des Kurses der Primakowregierung sprechen, sondern über die Fortsetzung des Kurses der Primakowregierung, der zur Stabilisierung der Gesellschaft geführt hat", erklärte er.
Stepaschin befürwortet seinen eigenen Worten zufolge "eine Koalitionsregierung, wobei die Koalition aus Leuten besteht, die etwas verstehen und die unabhängig von politischen Leidenschaften sind." Weiter sagte er, er hätte "nicht die Absicht, irgendwelche außergewöhnlichen Maßnahmen zu ergreifen". "Der Weg gewaltsamer Entscheidungen kann nicht beschritten werden", erklärte er.
Stepaschin hob die Notwendigkeit hervor, Bedingungen für die Wiederbelebung der russischen Wirtschaftsmacht zu schaffen, und erklärte, daß "Rußland nicht zur Rohstoffquelle des Westens wird". Er konstatierte, daß sich Rußland "im Zustand einer langwierigen Wirtschaftskrise und unter Bedingungen äußerster sozialer Anspannung befindet" und gab zu, daß das Bank- und Finanzsystem große Schwierigkeiten habe und es Probleme bei der Auszahlung von Löhnen und Renten gebe.
In Wirklichkeit sind die wichtigsten Ziele der neuen Regierung andere. Vor allem soll sie der näheren Umgebung des Präsidenten die besten Möglichkeiten bei der Vorbereitung auf die kommenden Wahlen einräumen. Dabei geht es nicht nur um die Konzentration der Finanzmittel in den richtigen Händen, sondern auch um die Möglichkeit, bestimmte Leute vor der Strafverfolgung zu schützen, die unter anderen Bedingungen vor Gericht gestellt würden (Beresowski u.a.).
Außerdem soll die Regierung weitere Angriffe auf die Rechte und das Lebensniveau der Mehrheit der Arbeitenden durchführen. Vor dem Hintergrund von massenhafter Verarmung und einer tiefen Entfremdung der Massen vom herrschenden Regime ist letzteres in immer größerem Maße auf "außergewöhnliche Maßnahmen" angewiesen. Nicht zufällig erwähnte Stepaschin bei den "Regierungsvorhaben mit Priorität" die notwendige Stärkung der "vertikalen Machtstrukturen".
Die unbeirrte Stärkung gewaltsamer und repressiver Elemente in der Staatspolitik ist eine der Hauptcharakteristika des neuen russischen Staates, was sich immer stärker nicht nur bei inneren Angelegenheiten, sondern auch in der Außenpolitik zeigt.
Trotz aller öffentlicher Erklärungen Stepaschins zeigt sich schon bei den ersten Regierungsentscheidungen der tiefgehende Clancharakter der neuen Regierung. So gehörte zu den ersten Dokumenten, die der neue Energieminister W. Kaljushny unterzeichnete, eine Bewilligung für die Ölfirma Sibneft, deren Vorsitzender der Beresowski nahestehende Roman Abramowitsch ist, die Vermittlung von Ölgeschäften mit dem Irak zu übernehmen. Bis dahin waren diese Rechte dem staatlichen Unternehmen Transneft vorbehalten.
Es handelt sich hierbei um das UNO-Projekt "Öl gegen Lebensmittel", in dessen Rahmen billiges irakisches Öl im Tauschhandel erworben werden kann. Sibneft kann der Meinung einiger russischer Zeitungen zufolge jetzt das große Geld verdienen, ohne viel dafür tun zu müssen.
Beresowski und Tschubajs - Partner und Feinde
Die wichtigste Rolle bei der Bildung des neuen Kabinetts spielten zwei Leute: Boris Beresowski und Anatoli Tschubajs. Sie sind die Vertreter der mächtigsten politischen und Wirtschaftsclans. Die gegenwärtigen Beziehungen ihrer Clans kann man nicht anders umschreiben als ein Bündnis von Feinden.
Während aller wichtigen Ereignisse in den vergangenen Jahren sind Tschubajs und Beresowski immer gemeinsam aufgetreten. So war es während der Beschießung des Parlaments im Herbst 1993, bei Jelzins Wahlkampagne 1996, und so ist es auch jetzt wieder. Die Grundlage, auf der sie immer wieder eine gemeinsame Sprache gefunden haben, ist in ihrem unversöhnlichen Antikommunismus und ihrer Überzeugung zu suchen, daß man in kürzester Zeit eine neue Klasse kapitalistischer Eigentümer schaffen könne. Heute verkünden sie ihre Einigkeit darüber, daß die Duma auseinandergejagt und die Kommunistische Partei verboten werden müsse.
Doch je weiter die Entwicklung voranschreitet, desto weniger ist diese Grundlage geeignet, ein Mittel ihrer Übereinkunft zu sein. Der Zusammenbruch aller Erwartungen auf eine schnelle kapitalistische Wiedergeburt der russischen Wirtschaft führte zur Zersplitterung der herrschenden Eliten und zu einer Verschärfung der Konflikte zwischen ihnen. Bei den Auseinandersetzungen geht es darum, wie die kapitalistischen Reformen weiter durchgeführt werden können.
Tschubajs ist Anhänger einer möglichst vollständigen und schnellen Unterwerfung von Rußlands Wirtschaft unter die Strukturen des Weltmarktes. Das bedeutet heute nichts anderes, als die Macht und den Einfluß der Oligarchengruppen zu untergraben. Beresowski ist jedoch eine Art gemeinsamer Interessenvertreter genau dieser Schicht. Beresowski erkennt die Gefahren weiterer liberaler Reformen und die Unmöglichkeit, sich auf die dem Kreml oppositionellen Kräfte zu stützen, und entschied sich für die einzige ihm mögliche Strategie: Einflußnahme auf die wichtigsten Regierungsentscheidungen, um die Unterhöhlung seiner eigenen Grundlage, seine Geschäfte, zu verhindern.
Den Inhalt ihrer Differenzen brachte A. Tschubajs folgendermaßen zum Ausdruck: "Sie betreffen das Zusammenwirken von Staat und Wirtschaft. Ich bin schon immer davon ausgegangen, daß der Staat über der Wirtschaft stehen muß und daß niemand, auch nicht das Großkapital, Minister stellen darf, um der Regierung die Spielregeln zu diktieren. Das ist nicht seine Aufgabe... Ich gehe in den Kreml oder in die Regierung nur dann, wenn man mich ruft. Ich wurde nicht gerufen - keine Fragen. Ich versuche keine Drucklinie auf Jelzin, Woloschin oder sonst jemanden aufzubauen, damit sie Entscheidungen treffen, die direkt auf die Geldpolitik wirken. Beresowski aber tut genau das Gegenteil" ( Argumenty i Fakty, Nr. 21, Mai 1999).
Diesmal ist es Beresowski scheinbar gelungen, Tschubajs auszuspielen. Doch das kam ihn teuer zu stehen. So sind mehrere Kommentatoren der Meinung, daß es zu Widersprüchen zwischen Beresowski und den Schlüsselfiguren des "kollektiven Jelzin" gekommen sei (Walentin Jumaschew, ehemaliger Chef der Kremlverwaltung und Memoirenschreiber, und Jelzintochter Tatjana Djachenko)
Informationen des Journals Kommersant Wlast zufolge sind Jumaschew und Djatschenko gegen eine Zuspitzung der Beziehungen mit den Kommunisten. "Sie denken", schreibt das Journal, "daß in Rußland Verfolgte zu sehr geliebt werden und daß ein Verbot der KPRF eine gegenteilige Wirkung haben kann". Wahrscheinlich ist die Zukunft des Präsidenten ebenfalls ein strittiger Punkt.
Aus diesen Gründen sah sich Beresowski gezwungen, außergewöhnliche Wege zu beschreiten. Entgegen seinem früheren Verhalten bekannte er sich in aller Öffentlichkeit zu seinen Beziehungen mit der Jelzinfamilie.
Auf einer Pressekonferenz am 4. Juni erklärte Beresowski, daß "er niemals verheimlicht hat, daß er sehr gute Beziehungen‘ zu Walentin Jumaschew, normale‘ zu Tatjana Djatschenko und gute‘ zu Alexander Woloschin [Nachfolger von Jumaschew als Chef der Kremlverwaltung] unterhält". Beresowski teilte ebenfalls mit, daß er sich mit früheren und jetzigen Führern der Präsidentenadministration und dem Präsidentenberater (Djatschenko) trifft und mit ihnen "Fragen diskutiert, die ihn bewegen, in erster Linie politische Fragen".
Jumaschew, Djatschenko, Woloschin und andere üben Beresowski zufolge Einfluß auf Regierungsentscheidungen aus, die allerdings "nicht immer sehr glücklich sind". Der Hauptmangel bestünde darin, daß man im Lande das "Defizit an Willen und Kraft verspürt, diese Entscheidungen zu realisieren".
Auf die Frage eines Journalisten über die Möglichkeit einer Kandidatur Jelzins bei den kommenden Präsidentschaftswahlen im Jahre 2000 antwortete er, daß das "absolut irreal ist". Auf die Frage, ob er Stepaschin als möglichen Präsidentschaftskandidaten unterstützen würde, sagte er: "Stepaschin war nicht meine Wahl. Meine Position zu Lebed hat sich nicht geändert. Auch hinsichtlich der Ernennung Stepaschins zum Premier gibt es von meiner Seite nichts Neues zu sagen."
Leute wie Beresowski wissen genau, was sie sagen. Wenn man den Einfluß einzelner Personen auf Regierungsentscheidungen betrachtet, kann man nur vermuten, zu welch unvorhersehbaren Folgen der Wille dieser Wenigen führen kann, die direkt oder indirekt eine unermeßliche Macht in ihren Händen halten. Es ist klar, daß diese Leute im Kampf ums "Überleben" und der Bewahrung der "Ordnung" bereit sind, die äußersten Mittel von Gewalt und Unterdrückung zu ergreifen.