"Geld regiert die Welt!" sagt man oft leicht dahin. Doch die Ereignisse der vergangenen Wochen geben diesem Ausspruch neue konkrete Bedeutung. In den Tagen seit Lafontaines spektakulärem Rücktritt von allen politischen Ämtern wurden immer neue Einzelheiten bekannt, die belegen, welch ungeheuren Druck die Spitzenvertreter der Arbeitgeberverbände, Konzernchefs und die Wirtschaftslobby insgesamt ausgeübt haben, um ihren Kurs in der Regierung durchzusetzen.
Sechs Monate nach den Wahlen hat die Wirtschaft das Wahlergebnis in ihrem Sinne korrigiert. Die Entwicklung enthält viele Elemente eines Putsches. Leute, die von niemandem gewählt wurden und nichts weiter vertreten, als ihre eigenen engstirnigen Interessen und die ihres Wirtschaftsverbandes, setzen eine gewählte Regierung massiv unter Druck und bestimmen den politischen Kurs des Landes.
Am vergangenen Dienstag berichtete die amerikanische Zeitung Detroit News über ein privates Treffen des Vorstandsvorsitzenden von DaimlerChrysler, Jürgen Schrempp mit Gerhard Schröder, in dem dieser den Kanzler eindringlich gewarnt habe: "Wenn Sie die Sache mit Lafontaine nicht bereinigen, werden Sie einige ihrer stärksten Unterstützer verlieren." Kurz danach schrieb der Finanzchef von DaimlerChrysler, Manfred Gentz, einen Brief an Schröder, in dem er mit der Verlegung des Firmensitzes von Stuttgart nach Detroit drohte, falls die von Lafontaine geplante Steuererhöhung nicht zurückgenommen werde.
Doch die Konzernleitung des größten deutschen Industrieunternehmens stand mit ihren Drohungen und Erpressungsversuchen nicht allein da. Anfang März richteten 22 Spitzenmanager einen sogenannten "Brandbrief" an die Regierung, in dem sie ultimativ die Rücknahme der Steuerreform forderten. Zu den Unterzeichnern gehörten neben Krupp-Thyssen-Chef Gerhard Cromme auch Deutsche-Bank-Aufsichtsrat Hilmar Kopper. Der Vorstandsvorsitzende des Versicherungskonzerns Gerling, Jürgen Zech teilte auf einer Pressekonferenz mit, er lasse Modelle prüfen, wie einzelne Gesellschaften des Unternehmens ihren Standort ins Ausland verlagern könnten.
Die Energiekonzerne kündigten einen Boykott der sogenannten Konsensgespräche an, in denen die Weiterentwicklung der Energiewirtschaft diskutiert werden sollte, nachdem die Betreiber bereits einen Ausstieg aus der Kernenergie verhindert hatten. Gemeinsam mit den Versicherungsunternehmen verfügen sie über besondere Steuerprivilegien. Sie müssen die Risikorücklagen in Milliardenhöhe nicht versteuern und nutzen sie für Großinvestitionen in anderen Unternehmensbereichen. Die Energiewirtschaft stieg mit diesen Geldern in das lukrative Geschäft der Telekommunikation ein. RWE und Veba schufen Otelo, während Viag Interkom aufbaute. Auf die Forderung des Finanzministeriums, einen Teil dieser Rücklagen zu versteuern, reagierten die Konzernvorstände mit vehementem Widerstand. Sie behaupteten, daß dadurch eine Mehrbelastung von 40 Milliarden Mark entstünde, während die Regierung von 9 bis 13 Mrd. ausging.
Als selbst unabhängige Experten die Unternehmensangaben als völlig überhöht bezeichneten, eskalierte der Streit. Am 3. März wurden Provinzial-Chef Bernd Michaels, Allianz-Chef Henning Schulte-Noelle und dessen Finanzvorstand Helmut Perlet im Kanzleramt vorstellig und verlangten ultimativ die Aufrechterhaltung der steuerfreien Rücklagen. Lafontaines Ablehnung quittierten sie mit der unverhohlen Drohung, Standorte zu schließen und Massenentlassungen durchzuführen.
Zuvor hatten die Großkonzerne bereits die Ökosteuer abgeschmettert und durchgesetzt, daß gerade Betriebe mit hohem Energieverbrauch davon entweder vollständig oder zumindest weitgehend befreit werden.
Die Spitzenvertreter der Wirtschaft waren hell empört, daß im Finanzministerium nicht genau das getan wurde, was sie verlangten, und sie sind entschlossen, das nicht hinzunehmen. Mit den Worten: "Das ist ein echter Überzeugungstäter", zitierte Der Spiegel(Ausgabe 10/99), den Deutsche-Bank-Chef Rolf Breuer nach einem Treffen mit Lafontaine. Der Mann habe kaum zugehört: "Ich habe das mit noch keinem Politiker so erlebt."
Das Kesseltreiben gegen Lafontaine wurde immer heftiger, und als er schließlich zurücktrat, knallten in den Chefetagen die Sektkorken.
Der Vorsitzende des Arbeitgeberverbands der Versicherungsunternehmen, Hans Schreiber gab zu Protokoll, die Demission Lafontaines sei "der schönste Tag meines beruflichen Lebens". Gegenüber der Deutschen Presseagentur (dpa) fügte er hinzu: "Meine spontane Reaktion ist Begeisterung. Lafontaine war ein Kapital- und Arbeitsplatzvernichter." Der Bundesverband des Deutschen Groß- und Außenhandels (BGA)forderte einen sofortigen Stopp der Steuerreform. Der Deutsche Industrie- und Handelstag (DIHT) verlangte, daß die Regierung nun auf die Unternehmer zugehe und "eine Politik zur Stärkung der Investitionskraft betreibe". Und der Präsident des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI), Hans-Olaf Henkel sprach von einer dringend notwendigen Korrektur der Steuerreform.
Die Aktienkurse schnellten in die Höhe. Innerhalb weniger Stunden stieg der Dax um sechs Prozent. Besonders die Titel der Versicherungs- und Energiewirtschaft legten stark zu: Allianz (+14,0 Prozent), Münchner Rück (+13,1 Prozent), RWE (+11,6 Prozent) Veba (+10,0 Prozent) und Viag (+6,5 Prozent).
Auch auf der internationalen Bühne stieß Lafontaine auf wachsende und immer heftigere Opposition. Vor einem halben Jahr, zur Zeit der Wahl, hatten die Finanzkrisen in Asien, Rußland und Lateinamerika und der rasante Fall der Aktienkurse eine tiefe Verunsicherung ausgelöst. Von verschiedenen Seiten war die Forderung nach einer Kontrolle der internationalen Kapitalströme erhoben worden. Als aber die ersten Schockwellen vorüber waren und die Aktienkurse erneut stiegen, wurden derartige Kontrollen sofort wieder heftig zurückgewiesen. Die Murdoch-Presse in Großbritannien stempelte Lafontaine zum "gefährlichsten Mann Europas". Ähnlich urteilten die amerikanischen Medien über ihn, und US-Finanzminister Rubin kanzelte ihn auf dem jüngsten G7-Treffen in Bonn regelrecht ab.
Das Geheul, Lafontaine ruiniere die Wirtschaft und bringe Banken und Konzerne an den Bettelstab, drang durch sämtliche Medien. Die Tatsachen sprechen allerdings eine völlig andere Sprache. Nur eine Woche nach Lafontaines Rücktritt gab die Deutsche Bank Rekordgewinne bekannt. Nach Steuern habe sich im vergangenen Jahr der Gewinn mehr als verdreifacht und sei auf 3,4 Milliarden Mark gestiegen. Durch die Ausgabe neuer Aktien will die größte deutsche Bank weitere sechs Milliarden Mark aufbringen und dadurch ihre internationale Expansion beschleunigen.
Auch die Behauptung, das deutsche Steuersystem stranguliere die Wirtschaft, verhindere Investitionen und blockiere dadurch Arbeitsplätze, erweist sich bei näherer Betrachtung als realitätswidrige Propaganda. Gestützt auf eine vergleichende Studie der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) wurden am vergangenen Donnerstag in Bonn folgende Zahlen bekannt gegeben. Der Anteil der Unternehmen am gesamten Steueraufkommen sei in Deutschland seit dem Jahr 1980 von 5,5 auf 3,8 Prozent gesunken. Der Durchschnitt in Europa liege bei 7,5 Prozent, der in den OECD-Staaten insgesamt bei 8,2 Prozent. Während die großen Unternehmen in Deutschland nach der OECD-Statistik durchschnittlich mit acht Prozent ihres Umsatzes besteuert würden, falle die Belastung der Konzerne in Großbritannien und Japan mit 48 Prozent oder in den USA mit 24 Prozent viel größer aus. (Zitiert nach Frankfurter Rundschau vom 19. März 1999).
Der Rücktritt Lafontaines bedeutet eine tiefgreifende politische Zäsur.
Schon unter der Kohl-Regierung waren in den letzten beiden Jahren die Klagen der Wirtschaft lauter geworden. Obwohl diese Regierung in den anderthalb Jahrzehnten ihrer Amtszeit eine beispiellose Umverteilung von unten nach oben organisiert hatte, gingen die Veränderungen der Unternehmerseite nicht weit genug. Zwar waren die Unternehmergewinne in der Kohl-Ära um fast neunzig Prozent gestiegen, die Reallöhne um nur sechs Prozent. Zwar hatte sich das Lohnsteueraufkommen in den vergangenen zehn Jahren verdoppelt, während sich das Körperschaftseinkommen im gleichen Zeitraum halbiert hatte.
Doch all das stellte die Banken, transnationalen Konzerne und gigantischen Finanzkomglomerate, die das Wirtschaftsleben beherrschen, nicht zufrieden. Sie verlangen ein Ende jeder Art traditioneller Sozialpolitik, das Aufbrechen der Tarifverträge und die konsequente Einführung von Billiglohnarbeit. Die Kohl-Regierung war zu sehr in den alten, durch Konsens und Ausgleich geprägten Verhältnissen verhaftet, um diese Veränderungen durchzusetzen.
Die SPD bot sich an diese Aufgabe zu übernehmen. Hinter den nichtssagenden Phrasen des Wahlkampfs entwickelte sie ein Programm, das völlig auf die Interessen der Wirtschaft ausgerichtet war, und strebte eine große Koalition an. Doch das Wahlergebnis im September machte ihr fürs erste einen Strich durch die Rechnung. Meinungsforscher und Politiker waren gleichermaßen überrascht. Nicht Schröders "neue Mitte", sondern die Arbeiterklasse und die soziale Frage hatten die Wahl entschieden.
Die neue Regierung konnte also nicht einfach einen wirtschaftsfreundlichen Kurs einschlagen. Sie mußte bis zu einem gewissen Grad die gesellschaftliche Stimmung berücksichtigen, die das Ergebnis der Wahl bestimmte. Dieses Problem schlug sich im Spannungsverhältnis zwischen Kanzler und Parteivorsitzendem nieder.
Im Gegensatz zum Wirtschaftsflügel der SPD trat Lafontaine dafür ein, den negativen sozialen Auswirkungen der Globalisierung und dem ungehemmten Wirken des Marktes mit staatlichen Mitteln entgegenzutreten. Die Maßnahmen, die er dazu vorschlug - der Abbau von einigen Steuerschlupflöchern, eine Erhöhung der Einkommen zur Stärkung der Binnennachfrage, eine international etwas koordinierte Finanzpolitik - waren höchst bescheiden; sie gingen lange nicht so weit wie das, was in den vergangenen Jahrzehnten im Rahmen sozialdemokratischer Politik als selbstverständlich galt. Aber für die Wirtschaft waren sie völlig inakzeptabel.
Mit dem Rücktritt Lafontaines hat jetzt die Wirtschaft das Wahlergebnis in ihrem Sinne korrigiert.