Von den neun Filmen des italienischen Politikwissenschaftlers und Regisseurs Roberto Faenza sind drei dem deutschen Publikum zugänglich gemacht worden. Der letzte in Deutschland gezeigte Film Copkiller liegt 15 Jahre zurück. Erklärt Pereira nach dem gleichnamigen Roman des ebenfalls in Italien geborenen Autors Antonio Tabucchi ist bereits 1995 entstanden. Es ist tragischerweise wohl nicht zuletzt Marcello Mastroiannis Tod zu "danken", daß Erklärt Pereira, in dem der große italienische Schauspieler seine vorletzte Rolle spielt, nun nach und nach in die deutschen Kinos kommt. Roberto Faenza und Antonio Tabucchi, der auch beim Schreiben des Drehbuchs mitwirkte, liefern sowohl im Buch als auch im Film eine schöne und ermutigende Geschichte. Der Film, der sich relativ strikt an Tabucchis Romanvorlage hält, ist - gänzlich unprätentiös - eine Hommage an die großen Menschheitsideale: an die Freiheit und Gleichheit der Menschen, an den Glauben in die Kraft der Wahrheit und an die Liebe. Und dennoch: Film und Buch werfen Fragen auf, die sich Autor und Regisseur womöglich nie gestellt haben.
Der alternde Journalist Pereira (Marcello Mastroianni) ist im Jahre 1938 der Kulturredakteur einer katholischen Abendzeitung, der Lisboa. Seit sechs Jahren regiert der faschistische General Oliviera Salazar Portugal. Mit dem Leben hat Pereira fast abgeschlossen. Er unterhält sich mit dem Bild seiner einige Jahre zuvor verstorbenen Frau und seine Gedanken drehen sich häufig um den Tod. So erfahren wir zum Beispiel, daß Pereira an die Auferstehung der Seele, nicht aber an die Auferstehung des Fleisches glaubt, nicht zuletzt wegen seiner eigenen Leibesfülle. Seine einzige Leidenschaft, die er sich bewahrt hat ist - neben seiner Vorliebe für stark gesüßte Limonaden - die Literatur, insbesondere die französische des 19. Jahrhunderts.
Als er einen Artikel über den Tod liest, möchte er unbedingt den Autor kennenlernen. Die Bekanntschaft mit diesem, einem jungen Mann namens Monteiro Rossi (Stefano Dionisi), verändert jedoch nach und nach sein ganzes Leben. Denn Rossi, der für Pereiras Kulturseite im voraus Nachrufe auf wichtige Literaten schreiben soll, hat seine Doktorarbeit über den Tod, die die Grundlage seines Artikels war, abgeschrieben. "...teilweise von Feuerbach, teilweise von einem französischen Spiritualisten", erklärt Rossi. Er müsse sich trotzdem sehr für den Tod interessieren, fragt Pereira. "Aber was sagen Sie da, Doktor Pereira", antwortet der junge Rossi, "ich interessiere mich für das Leben."
Pereira stellt den jungen Mann trotzdem ein. Doch seine Nachrufe, etwas ungestüme, aber leidenschaftliche Kurznachrufe, sagen aus, wie es ist. Faschistenfreunde werden Faschistenfreunde genannt, Lumpen wahrheitsgemäß Lumpen. Sie sind für eine portugiesische Zeitung im Jahre 1938, erst recht für eine katholische, unbrauchbar. Rossi erklärt, er habe die Stimme des Herzens sprechen lassen. Obwohl Pereira am liebsten sagen würde, daß das Problem weniger die Nachrufe, sondern die Welt selbst ist "und wir es gewiß nicht lösen werden", sagt er: "Es gibt nichts Wichtigeres als die Stimme des Herzens, man sollte immer der Stimme des Herzens folgen, aber man sollte trotzdem die Augen offenhalten, lieber Monteiro Rossi." Warum er dies sagte, das wisse er nicht.
So wird Pereira immer weiter in das Leben des jungen Rossi hineingezogen, der, wie sich später herausstellt, im Widerstand gegen General Franco in Spanien aktiv ist. Pereira sträubt sich nach Kräften gegen die Politik. "Mich interessiert die Politik nicht, ich bin nur an Literatur interessiert", beteuert er immer wieder gegenüber Rossi, dessen Freundin Marta (Nicoletta Braschi) und auch gegenüber sich selbst. Denn er gerät immer weiter ins Schwanken. Als er dann auf einer Zugfahrt in seine Kur eine Jüdin (Marthe Keller) kennenlernt, ist er völlig verunsichert. Sie sagt ihm: "Nun, Sie sind ein Intellektueller, sagen Sie, was in Europa vor sich geht, machen Sie von Ihrer Meinungsfreiheit Gebrauch, mit einem Wort, tun Sie etwas."
Seinem Arzt Dr. Cardoso (Daniel Auteuil) vertraut er diese Hin- und Hergerissenheit an. Dieser ist auch kein Freund des Faschismus und rät ihm, abzuwarten und seine inneren Konflikte gelassen anzugehen. Doch Pereira graut es davor. Wenn Monteiro Rossi und Marta recht hätten, so glaubt Pereira, "hätte mein Leben keinen Sinn, es hätte keinen Sinn, daß ich Literatur studiert und immer geglaubt habe, die Literatur sei das wichtigste auf der Welt". Seine Arbeit als Kulturredakteur, nichts hätte mehr einen Sinn.
Doch so sehr er sich sträubt, er spricht bereits längst "mit der Stimme des Herzens". So hilft er - zunächst noch entgegen seiner Vorstellung von Vernunft - Rossis "Cousin", der in Portugal neue Kräfte für den Kampf gegen Franco rekrutiert. Auch ist er zerknirscht, als der Herausgeber der Lisboa ihn auffordert, einen Hinweis auf den "Tag der Rasse" zu machen. "Entschuldigen Sie", erklärt Pereira, "wir waren ursprünglich Lusitanier, dann kamen die Römer und die Kelten, dann kamen die Araber, was für eine Rasse sollen wir Portugiesen feiern?" Pereira weigert sich, einen Hinweis auf den "Tag der Rasse" zu verfassen. Auch sein Versprechen, etwas über den portugiesischen nationalistischen Literaten Camões zu schreiben, kann er, obwohl er es versucht, nicht einhalten.
Als Monteiro Rossi schließlich in Pereiras Wohnung von der Geheimpolizei erschlagen wird, entscheidet sich Pereira endgültig, seinem Leben einen anderen Sinn zu geben. Mit Hilfe seines Arztes Dr. Cardoso lanciert er an der Zensur vorbei einen Artikel auf die erste Seite der Lisboa. Es ist eine Würdigung des jungen Monteiro Rossi und eine Anklage an das Regime, unterzeichnet mit "Pereira". Noch bevor die Lisboa am Abend erscheint, macht sich Pereira mit einem Rucksack und falschem Ausweis bepackt, auf den Weg ins Exil - im Rucksack übrigens das Bild seiner Frau, mit dem er aber jetzt viel seltener spricht.
Das Buch endet an dieser Stelle. Der Film endet mit einem Monolog, der erklärt, daß sich Pereira nie frischer und jünger gefühlt habe. Das Kino ist zwar gezwungen, viel direkter den Zuschauer anzusprechen, als das Buch; die Wortkunst hat üblicherweise bessere Möglichkeiten, die Widersprüchlichkeit und Vielschichtigkeit ihrer Charaktere zu vermitteln. Aber die wenigen Änderungen des Drehbuchs im Vergleich zur Romanvorlage sind meiner Meinung nach nicht dem unterschiedlichen Medium geschuldet.
Film und Roman streuen immer wieder das "erklärt Pereira" des Erzählers ein, welches einerseits sich zwar direkt an Zuschauer und Leser richtet, gleichzeitig aber eine gewisse Distanz zum alternden Kulturredakteur aufbaut. Trotzdem nähert man sich immer weiter der Person Pereira. Doch Tabucchi gibt dem Leser dazu viel mehr Zeit und damit auch mehr Einsicht in die Person des Pereira. Der Autor erlaubt sich, uns seine Hauptcharaktere viel differenzierter und widersprüchlicher darzustellen. Im Buch sagt z. B. Pereira den Polizeischlägern, daß sich Rossi im Nachbarzimmer aufhält. Offensichtlich hat er entweder den Ernst der Situation immer noch nicht verstanden, oder er teilt es den Polizeischlägern aus Resignation mit - "Jetzt kann man nichts mehr machen", könnte Pereira denken. Im Film öffnet Rossi die Tür und sagt "Ich bin hier", nachdem Pereira trotz harter Schläge nichts sagte.
Während Tabucchis Roman also eher betrachtend den alten Redakteur porträtiert und es so dem Leser selbst überläßt, sich sein Urteil zu bilden, ist der Film darauf ausgerichtet dem Zuschauer sein Urteil abzunehmen: "Folge der Stimme des Herzens", heißt die Botschaft. Doch was ist die Beziehung zwischen der "Stimme des Herzens", d. h. der Emotionen, und dem Aufbegehren gegen politische Unterdrückung? Warum war Pereira alt, müde und einmütig geworden? Weil er keine Emotionen, keine Empörung gegen die Salazar-Diktatur zuließ? Aber warum nicht? Weil er nicht verstand, was in Portugal, Europa und der Welt vor sich ging? Weil er erst recht nicht wußte, wie die Probleme der Welt zu lösen waren?
Pereira flüchtete sich und seine Emotionen in Gespräche mit seiner verstorbenen Frau und in die Literatur. Erst nachdem er durch die Bekanntschaft mit Rossi wieder ins Diesseits zurückgeholt, mit den Problemen der Gesellschaft konfrontiert wurde und sie ihm - zumindest teilweise und bruchstückhaft - bewußt wurden, erst dann entschied er sich, seine Emotionen auch gegen die politische Unterdrückung zu wenden.
Aber selbst dies tat er sehr unbewußt. In einer Schlüsselszene des Films, in der Pereira die Jüdin im Zug trifft, fragt er sie, was er tun könne. Sie antwortet ihm, er solle halt etwas tun, wo ein Wille sei, sei auch ein Weg. Zum Schluß lanciert er seinen Artikel in die Lisboa. Ist dies das "etwas", das zu tun ist? Pereira muß dabei die Drucker der Lisboa überlisten. Welche Folgen hat dies für die Drucker? Verlieren sie nur ihren Job oder gar ihr Leben, weil sie sich von Pereira haben überlisten lassen? Eine wahrscheinliche Option angesichts einer Miltärdiktatur. Pereira stellt sich nicht diese Frage. Höchstwahrscheinlich haben sich weder Tabucchi noch Faenza diese Frage je gestellt.
Das Buch entstand in den Jahren 1992 bis 1993, der Film 1995. In dieser Zeit überzog ganz Europa eine nationalistische Welle. In Deutschland starben zahlreiche Menschen durch ausländerfeindliche Brandanschläge. In Frankreich gewann der Front National von Le Pen in Wahlen an Einfluß, auf dem Balkan tobte der nationalistische Bruderkrieg und in Italien befanden sich 1994 zum ersten Mal nach dem Zweiten Weltkrieg Faschisten der MSI unter Fini mit in der Regierung. Sicher hat diese reaktionäre Welle dazu beigetragen, daß Autor und Regisseur sich genötigt sahen, sich mit der Frage des Widerstands und der Rolle und den Aufgaben von Intellektuellen dabei auseinanderzusetzen.
Erklärt Pereira ist somit ein höchst politischer Film. Nicht direkt wie beispielsweise der ebenfalls beeindruckende Film Land and Freedom von Ken Loach, der die Geschichte eines britischen Arbeiters im Spanischen Bürgerkrieg schildert. Während Ken Loach die politischen Auseinandersetzungen innerhalb der Arbeiterbewegung thematisiert, behandelt Erklärt Pereira die Emotionen, die - so die Aussage des Films - zum Widerstand gegen die politische Unterdrückung führen. Wir erfahren in Erklärt Pereira nichts über die Politik der Stalinisten im Spanischen Bürgerkrieg, die einer der Hauptgründe für den Sieg Francos war. Unter anderem nutzten die Stalinisten auch die Empörung Millionen junger Menschen für ihre reaktionären Interessen aus. Offensichtlich auch die von Monteiro Rossi und seiner Freundin, die beide - das legt der Film nahe - Mitglied der von den Stalinisten geführten Internationalen Brigaden waren.
Doch ist dies legitim. Denn in Erklärt Pereira werden vielmehr die emotionalen Motive für ein politisches Handeln in bewegten Zeiten thematisiert. Film und Buch meistern so die selbst gesteckten Ziele, die Menschen "wachzurütteln", emotional "zu packen". Doch indem sie sich - der Film noch weitaus mehr als das Buch - auf diesen einen Aspekt beschränken, bleiben Fragen offen. Warum sind Menschen emotionslos? Warum sind sie angesichts offensichtlicher gesellschaftlicher Ungerechtigkeiten und Verbrechen nicht empört? Welche Rolle spielt das Verstehen der gesellschaftlichen Situation, das Bewußtsein? Was ist gegen politische Unterdrückung und Faschismus zu tun?