Die New York Times und Gaza: Rechtfertigung von Völkermord

Am vierten Tag des israelischen Bombenkriegs gegen die Bevölkerung von Gaza hat sich die New York Times, das Sprachrohr des liberalen amerikanischen Establishments, zum ersten Mal mit einem Kommentar zu Wort gemeldet.

In einem Leitartikel machte die Times ihre Position kurz und knapp deutlich. "Israel muss sich verteidigen", begann sie. "Und Hamas trägt die Verantwortung für das Ende des sechsmonatigen Waffenstillstands, weil sie seit diesem Monat wieder einen Hagel von Raketen auf Israel abgefeuert hat."

Wenig unterscheidet die Darstellung der Ereignisse dieser "Qualitätszeitung" von der verlogenen Berichterstattung der übrigen amerikanischen Medien: Die Palästinenser sind die Aggressoren und Israel das Opfer. Die schreckliche und unverhältnismäßige Gleichung in diesem Konflikt wird übergangen: etwa hundert tote Palästinenser auf einen Israeli.

Die zusammen geschusterte Erklärung der Times für den Krieg wird präsentiert, als wäre sie Allgemeingut und eine unbestreitbare Tatsache. Dabei ignoriert sie praktischer Weise die Tatsache, dass das israelische Militär den Waffenstillstand gebrochen hat. Israelische Soldaten machten einen provokativen Vorstoß in den Gaza-Streifen, bei dem sechs Mitglieder der Sicherheitskräfte der Hamas getötet wurden. Der Überfall fand nicht zufällig am 4. November statt, dem Tag der Präsidentschaftswahl in den USA. Der Zeitpunkt weist darauf hin, dass der Angriff eine politisch kalkulierte Provokation Israels war, die es solange zurückgehalten hatte, bis der Wahlkampf in den USA, seiner unverzichtbaren Stütze, beendet war.

Presseberichte in Israel lassen vermuten, dass der Angriff auf Gaza seit sechs Monaten aktiv vorbereitet wurde. Das zionistische Regime hatte dem Waffenstillstand nur zugestimmt, um seiner Armee genug Zeit für die Vorbereitung zu geben. Eines der wesentlichen Ziele der Operation ist die Wiederherstellung der Abschreckungskraft der israelischen Armee, die durch die erniedrigende Niederlage im Libanon vor zweieinhalb Jahren stark gelitten hat. Man hofft so, alle potentiellen Gegner in der Region einzuschüchtern.

Nicht Selbstverteidigung ist der Zweck der gegenwärtige militärischen Operation Israels, sondern sie ist von klaren geopolitischen Zielen motiviert und eine Reaktion auf seine inneren politischen und gesellschaftlichen Widersprüche.

Der Times treten ein paar Schweißperlen über die Frage auf die Stirn, ob die Schlächterei in Gaza wirklich gut für Israel sei, und sie richtet einen heuchlerischen Appell an das israelische Regime "zivile Opfer gering zu halten". Dabei verliert sie kein Wort der Sympathie für die toten und verstümmelten palästinensischen Männer, Frauen und Kinder.

Auch die brutale israelische Blockade wird mit Schweigen übergangen, die Gazas Bevölkerung in Elend und Hunger gestürzt und ihr Lebensmittel, Medizin, Elektrizität, Trinkwasser und andere grundlegende Dinge des täglichen Lebens vorenthält. Der Waffenstillstand sollte diese verzweifelte Lage erleichtern, aber Israel zog die Schlinge um Gaza nur noch enger zu. Auch wird nicht erwähnt, warum überhaupt anderthalb Millionen Menschen auf diesem winzigen Streifen Land im Elend zusammengepfercht sind. Es ist das Ergebnis von sechzig Jahren israelischer Besatzung und Vertreibungen.

Man kann den Leitartikel der Times vielleicht noch als einfach zynisch abtun, aber der Meinungsartikel auf der nächsten Seite der Ausgabe vom Dienstag trägt eine eindeutig kriminelle Färbung.

Der Autor ist Benny Morris, ein prominenter israelischer Historiker, dessen Ansichten früher eher auf der israelischen Linken angesiedelt waren, der in den letzten Jahren aber mit großer Geschwindigkeit zur extremen Rechten gewechselt ist.

Der Titel von Morris’ Artikel lautet: "Warum Israel sich bedroht fühlt". Er liefert eine ausführlichere und ausgefeilte Rechtfertigung für das Blutbad in Gaza und stellt eine düstere Warnung vor schlimmeren Verbrechen in der Zukunft dar.

Er zeichnet Israel als ein Land, das von immer gefährlicheren Feinden umringt und immer weniger von seinen Freunden im Westen unterstützt wird. "Im Osten, Iran...im Norden, die fundmentalistische Hisbollah im Libanon... im Süden, die islamistische Hamas, die den Gaza-Streifen kontrolliert."

Als Folge dieser "düsteren Bedrohung", erklärt Morris, "haben die Israelis das Gefühl, dass Mauern - und die Geschichte - ihren 60-jährigen Staat erdrosseln".

Wer, bitte, bedroht hier wen? Israel ist der einzige Staat der Welt, der keine endgültigen Grenzen anerkennt. Im Norden fällt es immer wieder im Libanon ein. Zuletzt im Juli 2006 bombardierte Israel massiv den Süden des Landes und die Vororte von Beirut und tötete Tausende Zivilisten. Im Osten zwingt es den palästinensischen Bewohnern der Westbank unerträgliche Legensbedingungen auf, umringt sie mit einer Apartheid-Mauer, verhängt Reisebeschränkungen, errichtet Kontrollposten und übt Unterdrückung aus. Und im Süden traktiert Israel die übervölkerten Wohnviertel des Gazastreifens mit verheerenden Bomben und bereitet eine Bodeninvasion vor.

Zum Iran hat Morris schon vergangenen Juli in einem Gastkommentar für die Times die Meinung Israels formuliert. Er bedrohte im Wesentlichen die iranische Bevölkerung mit nuklearer Vernichtung. Morris befürwortete damals einen Angriff mit konventionellen Waffen auf die iranischen Atomanlagen und schrieb, die Operation würde "Tausende iranische Opfer fordern und zu einer Demütigung [des Iran] vor der Welt" führen. Er fügte hinzu, falls dieser Angriff das iranische Nuklearprogramm nicht aufhalten könne, "dann besteht die Alternative darin, den Iran zur nuklearen Wüstenei zu machen".

In seinem jetzigen Artikel spart Morris sich für den Schluss auf, was er als die schlimmste Bedrohung erachtet: die Demographie. Er warnt davor, dass allein schon die Existenz von 1,3 Millionen arabischer Bürger in den Grenzen Israels von vor 1967 "die Rezeptur für eine Zersetzung des jüdischen Staates" beinhalte.

Diese arabischen Israelis hätten sich "radikalisiert", wie er erklärt, und "unterstützen heute palästinensisch nationale Ambitionen". Außerdem bedeuteten höhere Geburtenraten bei den arabischen Israelis, dass sie schon 2040 die Mehrheit der Bevölkerung Israels ausmachten, wenn dieser Trend sich fortsetze. Betrachte man Palästina in den Grenzen von vor 1948 (d.h. Israel, das Westjordanland und Gaza), dann würden Araber schon in fünf Jahren die Mehrheit stellen.

"Die meisten Juden", versichert Morris, "sehen in der arabischen Minderheit eine potentielle fünfte Kolonne".

Er kommt zum Schluss, dass den Gefahren für Israel "schwer zu begegnen" sei, weil Israel sich zur "westlichen Demokratie und freiheitlichen Normen" bekenne. Düster fügt er hinzu, das Gefühl von Bedrohung aus all diesen Entwicklungen habe "in der letzten Woche zu einer gewaltsamen Reaktion geführt. In Anbetracht der neuen Realitäten wäre es keine Überraschung, wenn noch stärkere Explosionen folgen würden".

Allen, die die Times nicht regelmäßig lesen, sei gesagt, dass mit diesem Artikel von Morris eine politische Linie vorgegeben wird, die im Namen der "Selbstverteidigung" Israels noch größere Grausamkeiten in Kauf nimmt.

Die Politik von Benny Morris

Dabei weiß die Times ganz genau, dass Morris ein glühender und bekennender Befürworter ethnischer Säuberungen ist, wenn es um die Palästinenser geht. Wer mit seiner politischen Geschichte vertraut ist, der weiß, dass seine Argumente unweigerlich auf Völkermord hinauslaufen.

Anfangs machte sich Morris einen Namen als einer von Israels so genannten "neuen Historikern", die in den 1980er Jahren die Gründungsmythen des zionistischen Staates entlarvten und dokumentarische Beweise vorlegten, dass Israel durch die gewaltsame und erzwungene Vertreibung von bis zu einer Dreiviertel Million Palästinensern von ihrem Grund und Boden entstand. Heute sind diese staatenlosen Flüchtlinge zu einer Bevölkerung von fast vier Millionen angewachsen.

Damals wurde Morris als Linker betrachtet. Doch seit dem Jahr 2000, als die zweite Intifada begann und die Camp-David-Gespräche zum Abschluss kamen, vollzog er eine scharfe Rechtswende. Er hielt seine früheren Entdeckungen aufrecht und machte neue, die zeigten, dass das israelische Militär vorsätzliche Massaker und Vergewaltigungen verübt hatte, um die Palästinenser zu vertreiben - aber jetzt verteidigte er diese Verbrechen als notwendig und berechtigt.

In einem Interview mit dem Ha'aretz Magazine vom Januar 2004 formulierte Morris dies in klaren Worten: "Unter gewissen Umständen ist Vertreibung kein Kriegsverbrechen. Ich bin der Meinung, dass die Vertreibungen von 1948 keine Kriegsverbrechen darstellen. Wo gehobelt wird, fallen Späne. Man muss sich die Hände schmutzig machen."

Morris ging noch weiter und erklärte, der Gründer Israels, David Ben-Gurion, "hätte die Arbeit zu Ende führen" und "das ganze Land [von den Arabern] säubern müssen". Als historische Rechtfertigung fügte er hinzu: "Selbst die große amerikanische Demokratie konnte nur durch die Vernichtung der Indianer geschaffen werden."

"Es gibt Umstände in der Geschichte, die ethnische Säuberungen rechtfertigen", fuhr er fort. "Ich weiß, dass dieser Ausdruck im Sprachgebrauch des 21. Jahrhundert vollkommen negativ klingt, aber wenn die Alternative besteht zwischen ethnischer Säuberung und Völkermord - der Vernichtung unseres Volkes -, dann ziehe ich ethnische Säuberung vor."

Diese Meinung vertrat Morris nicht nur bezüglich der Vergangenheit. In seinem Interview von 2004 betonte er: "Unter anderen Umständen ... die in fünf oder zehn Jahren leicht Realität werden könnten", in denen Krieg und Krise herrschen, "werden Vertreibungen vollkommen vernünftig sein. Sie könnten sogar lebenswichtig werden."

An einer andern Stelle in seinem Ha'aretz -Interview beschreibt er die palästinensische Bevölkerung als "ein wildes Tier, das man auf die eine oder andere Weise einsperren muss", und er kommt zum Schluss: "Wenn die Wahl besteht zwischen Vernichten und selbst vernichtet Werden, dann ist es besser, zu vernichten."

Das ist die Sprache des Faschismus. Hier wird eine pseudo-intellektuelle Rechtfertigung für die Politik angeboten, die in Israel "Transfer" heißt. Sie bedeutet gewaltsame Vertreibung der restlichen arabischen Bevölkerung aus dem israelischen Territorium, und potentiell auch aus dem Westjordanland und Gaza. Diese Argumente wurden zuerst nur von faschistischen Kräften wie dem verstorbenen Meir Kahane vertreten, doch die großen Parteien und Politiker in Israel haben sie mehr und mehr übernommen. Außenministerin Zipi Livni, aussichtsreiche Kandidatin für das Amt des Ministerpräsidenten, drückte die gleiche Politik etwas weniger grobschlächtig aus. Sie sagte, als Regierungschefin Israels werde sie "sich an die palästinensischen Einwohner Israels wenden... und ihnen sagen: ‚Eure nationale Zukunft liegt anderswo’."

Der Unterschied zwischen ethnischer Säuberung und Genozid, den Morris hier zieht, ist eine Täuschung. Eins zieht das Andere nach sich. Die "Endlösung" der Nazis begann ganz zuerst mit der erzwungenen Emigration, der Ausweisung der Juden aus Deutschland. Die Todeslager kamen später.

Die Tatsache, dass die Times Morris’ Kolumne veröffentlicht, unterstreicht nur ihre eigene opportunistische und zynische Haltung zu ethnischer Säuberung und Völkermord. Ob sie diese Methoden ablehnt oder stillschweigend akzeptiert, hängt allein davon ab, wer sie anwendet und wessen Interessen sie dienen.

Deshalb brachte sie am Sonntag einen Artikel ihres Kolumnisten Nicholas Kristof, worin dieser Obama auffordert, militärisch gegen den Sudan vorzugehen. Wie die Zeitung schreibt, sei der Sudan für einen Völkermord in Dafur verantwortlich. In ähnlicher Weise hat sich die Zeitung an vorderster Stelle für eine US-Intervention im ehemaligen Jugoslawien eingesetzt, um ethnischen Säuberungen in Bosnien und im Kosovo entgegenzutreten.

Wenn ethnische Säuberungen aber einer weiteren Konsolidierung der amerikanischen Kontrolle über ölreiche Länder in Afrika nützen, oder wenn sie der Ausweitung der NATO-Vorherrschaft nach Osten dienen, dann werden sie zum moralischen Gebot. Und wenn Verbündete der USA sie durchführen, werden ethnische Säuberungen stillschweigend unterstützt.

Das Gemetzel im Gaza und die noch schrecklicheren Verbrechen, die Leute wie Morris befürworten, sind ein klarer Hinweis auf die politische, soziale und moralische Sackgasse, in der sich das nationalistische Projekt des Zionismus befindet.

Im Jahr 1938 erklärte Leo Trotzki, der "Versuch, die jüdische Frage durch Einwanderung der Juden in Palästina zu lösen", mache sich "auf tragische Weise über das jüdische Volk lustig". Er sprach die hellsichtige Warnung aus: "Künftige militärische Verwicklungen können Palästina leicht in eine blutige Falle verwandeln", und betonte: "Die Rettung des jüdischen Volkes ist untrennbar mit der Überwindung des kapitalistischen Systems verbunden."

Siebzig Jahre später droht das zionistische Projekt zur "blutigen Falle" zu werden, nicht nur für die arbeitende Bevölkerung in Israel, sondern für die gesamte Region. Als einzige Alternative bleibt der Kampf zur Vereinigung der jüdischen und arabischen Arbeiterklasse im gemeinsamen Kampf gegen den Kapitalismus und für die Schaffung einer Sozialistischen Nahost-Föderation.

Siehe auch:
Die Gaza-Krise und die Perspektive der permanenten Revolution
(31. Dezember 2008)
Washington trägt Mitschuld an Kriegsverbrechen in Gaza
( 30. Dezember 2008)
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