Die Entwicklung der globalen Finanzkrise im Verlauf der letzten zwei Monate hat deutlich gemacht, welche enormen Auswirkungen die Veränderungen auf den Weltmärkten auf die russische Wirtschaft haben. Die Krise hat das Vertrauen der Kreml-Führer erschüttert, Russland habe sich von den Verheerungen und dem Chaos der Nach-Sowjet-Jahre erholt und sei dabei, nahezu unverwundbar zu werden.
Gleichzeitig hat die Krise den Klassencharakter der neuen russischen Regierung offenbart. Die bürokratischen und oligarchischen Cliquen, die die Schlüsselbereiche der Wirtschaft kontrollieren, sind entschlossen, die staatlichen Mittel zu nutzen um sich selbst zu retten, ohne Rücksicht auf die sozialen Folgen für die Zig-Millionen arbeitender Menschen. Es gibt keine wirkliche Hilfe für die breiten Schichten der Bevölkerung, auf deren Schultern die Last der Krise abgewälzt wird.
Die anfängliche Reaktion des Kremls auf die Finanzkrise war durch nationalistische Selbstzufriedenheit und Selbstgefälligkeit gekennzeichnet. Die Repräsentanten des Regimes glaubten, Russland sei dank seiner beträchtlichen Einkünfte - erzielt aufgrund der hohen Preise für russisches Öl, Gas und andere Rohstoffe - nicht von der Finanzkrise betroffen, die durch den Zusammenbruch der Immobilien- und Kredit-Blasen in den USA ausgelöst worden war.
Noch im September hieß es, gerade wegen der Finanzschocks sei Russland in der Lage, seine Rolle in der Weltwirtschaft zu stärken. Russland werde als "sicherer Hafen" für globale Investoren dienen und sich als eins der weltweit führenden Finanzzentren anbieten.
Selbst als der russische Aktienmarkt am 16./17. September ein Fünftel seines Werts verlor, machte man sich im offiziellen Russland noch keine größeren Sorgen. Die Regierung verkündete umfangreiche Maßnahmen zur Stützung des Bankensystems und meinte offensichtlich, das Problem sei damit gelöst.
Es wurde jedoch bald klar, dass diese Einschätzung genauso wie die russische Wirtschaft auf Sand gebaut war.
Weder die Ankündigung staatlicher Hilfe für die Banken in bisher nicht gekanntem Ausmaß von 1,5 Billionen Rubel (60 Milliarden US-Dollar), noch die Bereitschaft des Finanzministeriums und der Bank von Russland, bis zu drei Billionen Rubel in das Finanzsystem zu pumpen, reichten aus, um den Fall der Aktien aufzuhalten. In etwa sechs Wochen fielen sie auf den Stand von 1997, so dass Ende Oktober sämtliche "Errungenschaften" aus der Zeit der Präsidentschaft Wladimir Putins vernichtet waren.
Am 27. Oktober veröffentlichte der Wirtschaftsnachrichtendienst Bloomberg eine vergleichende Analyse über die Verluste an den Börsen in 48 führenden Wirtschaftsmächten und Schwellenländern seit Anfang dieses Jahres. Russland landete ganz unten am Ende der Liste: Sein Aktienmarkt war um den Faktor vier geschrumpft und hatte seit seinem Höchststand im Mai 2008 73 Prozent seiner Kapitalisierung verloren.
Das Ausmaß der Kapitalabwanderung und die Geschwindigkeit, mit der die Goldreserven des Landes schwanden, haben zur Folge, dass der "Stabilisierungsfonds" der Regierung gegen Ende des Winters oder Anfang Frühjahr aufgebraucht sein könnte.
Im Verlauf der letzten vier Monate wurde der Rubel im Verhältnis zum Dollar um 15 Prozent abgewertet. Allein im August und September wurden 30 Milliarden US-Dollar außer Landes geschafft. Die Gold- und Devisenreserven sind von fast 600 Milliarden US-Dollar Anfang August auf 487 Milliarden Dollar Anfang November gesunken - das sind mehr als 100 Milliarden US-Dollar weniger. Allein im Oktober gingen sie um 71,47 Milliarden US-Dollar zurück.
Trotz beruhigender Erklärungen von staatlichen Stellen, haben die russischen Bürger begonnen, ihre Ersparnisse von den Banken abzuheben. Im September wurden 180 Milliarden Rubel (etwa sieben Milliarden US-Dollar) von den Konten privater Banken abgezogen. Ein Teil des Gelds wurde bei Staatsbanken eingezahlt, die man wegen der direkten Unterstützung aus dem Staatshaushalt für sicherer hält. Zirka die Hälfte der Gelder wurde jedoch in Bargeld verwandelt und gehortet.
Im Oktober ging der Umfang der Spareinlagen noch weiter zurück. Bei manchen Privatbanken wurde - laut Zahlen von Vertretern der Citibank in Moskau - bis zu 30 Prozent abgehoben. Zusätzlich haben die Russen auf ihren Konten Rubel im Wert von fast 3,5 Milliarden US-Dollar in Dollar eingetauscht.
Die Behandlung dieser Probleme in den Massenmedien hat sich deutlich geändert. Zeichen von Selbstgefälligkeit sind Nervosität und Bestürzung gewichen. So schrieb die Zeitung Iswestija, eine de-facto-Organ des Kreml, am 7. Oktober, einen Tag nach einem starken Kursverfall an der Börse: "Was gestern an der Börse zusammenbrach, waren nicht nur die Aktienindizes, sondern die Überzeugung, dass die Welt-Finanzkrise an unseren Handelsplätzen,vorbeiziehen’ werde."
Alexander Lifschitz war Finanzminister unter Jeltsin, und hat jetzt eine führende Position in einer der Organisationen der Oligarchen inne. Am 22. Oktober schrieb Lifschitz in seiner Kolumne in der Iswestija : "Die globale Krise hat unsere Industrie fast erreicht. Sie klopft schon an. Und sie tut das auf schmerzhafte Weise. Sie schlägt von zwei Seiten gleichzeitig zu. Die erste ist die finanzielle Seite und die zweite die Märkte."
Er fährt fort: "...Die Krise von jenseits des Ozeans hat unseren Aktienmarkt nach unten gezogen. Dann folgten die Banken, zusammen mit ihren Krediten. Der Fluss der Finanzen ist vor unseren Augen sehr viel seichter geworden. Das droht unser gesamtes Wirtschaftsschiff zum Halten zu bringen."
Anfang November stabilisierten sich die Börsenindizes etwas. Nach sechs aufeinander folgenden Tagen mit Gewinnen fielen sie am 6. November jedoch wieder: der RTS-Index fiel um 6,3 Prozent auf 777 und der MMVB um 9,62 Prozent auf 700 Punkte. Am 7. November kam es zu einer erneuten Talfahrt.
Die Finanzkrise war aller Wahrscheinlichkeit nach der Hauptgrund dafür, dass der Zeitpunkt für die Rede des neu gewählten russischen Präsidenten Dimitri Medwedew vor beiden Häusern des Parlaments verlegt wurde. Ursprünglich war sie für den 23. Oktober geplant, wurde dann aber am 5. November gehalten. Obwohl er in seiner Ansprache insgesamt einen optimistischen Ton bewahrte, konnte man in den Äußerungen eine Gereiztheit darüber feststellen, dass sich der Kreml nicht sicher fühlen kann, falls die Schocks an den Weltfinanzmärkten weitergehen.
Medwedew machte Washington für die Krise verantwortlich und erklärte: "Ich glaube, die Vorstellung, die sich nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion entwickelt hat, dass die individuelle Meinung die einzig gültige und nicht anfechtbare ist, hat die US-Verantwortlichen zu einer massiven Fehleinschätzung auf wirtschaftlichem Gebiet verleitet. Durch das Aufblähen der Finanzblase, mit dem der private Verbrauch angekurbelt wurde, machten sie es nicht nur schwieriger ihre Entscheidungen mit anderen Teilnehmern des globalen Marktes abzustimmen, sondern sie ignorierten auch ein elementares Gefühl der Mäßigung. Zusätzlich ignorierten sie zahlreiche Warnungen ihrer Partner (darunter übrigens auch unsere). Infolgedessen schadeten sie sich selbst und anderen."
Es ist jedoch nicht schwierig nachzuweisen, dass die russischen Verantwortlichen die Vorgehensweise der amerikanischen Regierung auf dem Finanzsektor unterstützt haben und stolz darauf waren, dass ein bedeutender Teil der globalen Finanzspekulationen auf dem russischen Markt stattfand.
So erklärte der damalige Präsident Wladimir Putin am 14. Februar freudig: "Der Netto-Zustrom von privatem Kapital in die russische Föderation im letzten Jahr betrug 82,3 Milliarden Dollar, doppelt soviel wie im Jahr 2006 - doppelt soviel!... Der Aktienindex legte um 20 Prozent zu, was etwas mehr ist als letztes Jahr, obwohl das letzte Jahr im Allgemeinen schon ein Rekordjahr war. Und insgesamt wächst der russische Aktienmarkt sehr schnell: 20 Prozent - keine schlechte Zahl."
Was ist das anderes als prahlerischer Beifall für "das Aufblähen der Finanzblase" in Amerika? Diese Tatsache allein enthüllt, wie heuchlerisch die gegenwärtige Kritik des Kremls an den USA und dem kapitalistischen Finanzsystem ist.
Im Verlauf des Septembers und Oktobers war die Regierung gezwungen, eine Reihe von neuen Maßnahmen zu verkünden, um die russische Industrie und das Bankensystem zu retten. Der Vorsitzende der Rechnungskammer, Sergei Stepaschin, schätzt das Rettungspaket der Regierung auf mehr als 4 Billionen Rubel (150 Milliarden US-Dollar). Laut anderen Schätzungen beträgt die Gesamthöhe der versprochenen staatlichen Unterstützung für Banken und Unternehmen 6 Billionen Rubel (220 Milliarden US-Dollar) oder mehr als 13 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP).
Von dieser Gesamtsumme verteilte die Regierung 1,5 Billionen Rubel in Form von Bankeinlagen, 950 Milliarden in Form von Zehn-Jahres-Krediten an die Banken, 700 Milliarden Rubel als steuerfreie Kredite der Zentralbank, 175 Milliarden für den Ankauf von Aktien großer Unternehmen auf dem freien Markt und 75 Milliarden für den AIZhK -Fond, um Hypotheken-Kredite abzustützen.
Trotz dieser Maßnahmen könnte die Wachstumsrate der russischen Wirtschaft laut einer Prognose des Ministeriums für wirtschaftliche Entwicklung, die Anfang November veröffentlicht wurde, im vierten Quartal von 9,5 Prozent auf 6,5 Prozent fallen und das Wachstum des BIP könnte auf 7,3 Prozent im Vergleich zu 8,1 Prozent im Jahr 2007 zurückgehen. Die Inflation soll bei 15 bis 18 Prozent liegen.
Das Problem wird noch dadurch verschärft, dass russische Banken und Unternehmen enorme Kredite auf den Weltmärkten aufgenommen haben, die fast 450 Milliarden US-Dollar betragen. Allein bis Ende dieses Jahres müssen 50 Milliarden US-Dollar zurückgezahlt werden.
Der Rettungsplan, den die russische Regierung Ende dieser Woche verkündet hat, umfasst massive staatliche Unterstützung ganzer Branchen: Fluggesellschaften, Bauunternehmen, Öl- und andere Exporteure, Maschinenbauer, Organisationen für Industriebauten und Landwirtschaft.
In einer Stellungnahme der Nezavisimaia Gazeta vom 24. Oktober heißt es: "Die russische Industrie könnte bis zu einem Drittel ihrer Klein- und Mittel-Betriebe verlieren, und diejenigen, die überleben werden, könnten gezwungen sein, die Produktion zu drosseln."
Eine statistische Erhebung russischer Firmen, durchgeführt von VTB Evropa ergab, dass im Oktober die Zahl der Auftragseingänge stark zurückgegangen ist, was aussieht wie ein Vorbote eines allgemeinen Produktionsrückgangs. Die Umsätze im Industriebereich sind im dritten Monat in Folge zurückgegangen. Wenn sich diese Entwicklung fortsetzt, könnte sich der gegenwärtige Rückgang in eine umfassende industrielle Rezession verwandeln.
Die Unternehmen reagieren auf die sich verschlechternde Situation mit Produktionskürzungen, Lohnsenkungen und Entlassungen. Ein beträchtlicher Stellenabbau findet bei Finanzinstituten statt. Im Konsumbereich hat die X5-Einzelhandelskette, die größte in Russland, zu der auch Piatiorochka und Perekriostok (große Lebensmittel-Ketten) gehören, 1.000 Entlassungen angekündigt.
Grigorii Kulikow, ein Vertreter von Miel’-Nedvizhimost, meint, dass die Stagnation auf dem Immobilienmarkt die Zahl der Immobilienfirmen um ein Drittel reduzieren könnte.
In der Autoindustrie plant KamAZ eine zehnprozentige Verringerung der Belegschaft, während Spitzen der Gorki-Automobilfabrik beschlossen haben, die Produktion des Wolga einzustellen, des renommiertesten Modells aus der Sowjetzeit.
Führende Unternehmen berichten von einer möglichen Reduzierung der Produktion um 20 bis 30 Prozent im nächsten Jahr. Kürzlich gab die Metallurgische Fabrik Magnitogorsk ihren Plan für eine Kürzung der Produktion und Entlassungen bekannt.
Laut Experten könnte sich die Arbeitslosenquote in Russland im Jahr 2009 verdoppeln. Gleichzeitig erwartet man, dass sich der Prozentsatz der Sozialleistungsbezieher deutlich erhöht - von 25 auf 30 Prozent
Dies alles bedeutet eine grundlegende Verschlechterung der sozioökonomischen Bedingungen der breiten Masse der Bevölkerung. Gleichzeitig leitet die Regierung Milliarden von Dollar in die Rettung der oligarchisch-bürokratischen Institutionen der Wirtschaft. Sie hegt keinerlei Verlangen den einfachen Menschen zu helfen. Von den vielen Rettungsmaßnahmen ist nur eine - die Erhöhung der staatlichen Garantie für private Bankeinalgen von 100.000 (2.900 Euro) auf 700.000 Rubel (20.200 Euro) - auf die Lage breiter sozialer Schichten ausgerichtet.
Die strategischen Ziele der Regierung zeigen sich in den Anweisungen, die Ende Oktober an die Finanzminister der regionalen Regierungen verteilt wurden. Laut diesem Dokument "ist es im Jahr 2009 notwendig, neue Ausgaben zu begrenzen und jegliche Anhebung gegenwärtiger Verpflichtungen zu unterlassen, darunter die Anhebung der Mittel für die Löhne für Arbeiter, für die es keine garantierte Finanzierung gibt."
Diese zynische Gleichgültigkeit gegenüber dem Schicksal der Menschen und die egoistische Klassenpolitik im Interesse der "Offshore-Aristokratie" und ihrer korrupten Partner in der Regierung versetzen der sorgfältig kultivierten offiziellen Ideologie der letzten zehn Jahre einen Schlag. Nach dieser Ideologie hat sich die Regierung nach den "wilden 1990er Jahren" den normalen Menschen zugewandt.
In Wirklichkeit zeigt die Entwicklung der Krise in anschaulichster Weise die Rolle der Kreml-Politiker als Instrumente der herrschenden Elite - der Oligarchie, der Bürokratie und der Siloviki (Sicherheitsapparat) - deren Interessen in direktem Konflikt mit den Interessen der Arbeiterklasse und der Gesellschaft als Ganzer stehen.
Die Wirklichkeit wird das Bewusstsein breiter Schichten der russischen Arbeiterklasse beeinflussen. Schon jetzt beginnen sie anders auf wirtschaftliche Probleme des neuen russischen Kapitalismus zu reagieren. Laut einer Befragung, die das soziologische Zentrum VTsIOM durchgeführt hat, glauben 79 Prozent der Befragten, dass eine staatliche Regulierung der Preise helfen würde. 58 Prozent unterstützen eine Verstaatlichung der großen Unternehmen. Die Hälfte der Befragten glaubt, dass eine Verstaatlichung der Banken vorteilhaft wäre.
Laut VTsIOM gab es noch vor fünf Jahren bedeutend weniger Befürworter von Verstaatlichungen und einer Überprüfung der Folgen der Privatisierung. Im Jahr 2003 reagierte weniger als die Hälfte der Befragten (48 Prozent) positiv auf die Frage nach dem öffentlichen Nutzen einer Überprüfung der Privatisierung.
Fast 20 Jahre sind seit dem Untergang der Sowjetunion vergangen. Der postsowjetische Kapitalismus hat sich als unfähig erwiesen, eine Grundlage für die Entwicklung des Landes im Interesse der breiten Masse der Bevölkerung und nicht nur für die Interessen einer kleinen Gruppe von halb-kriminellen Geschäftsleuten zu schaffen. Nach der Periode der "fruchtbaren Jahre" ist die Putin-Ära des russischen Kapitalismus in eine Krise eingetreten, auf die sie mit skrupellosen Angriffen auf den Lebensstandard und die Rechte der Arbeiter reagieren wird. Ihr Schmarotzertum schafft die Grundlage für das Wiederaufleben von offenen Klassenkonflikten in Russland.