Hier im Folgenden eine Zusammenfassung zweier Berichte aus Frankreich, die auf der französischen und englischen WSWS erschienen sind:
Seit Wochen protestieren Schüler, Lehrer und Eltern in ganz Frankreich gegen die Sparpläne der Regierung Sarkozy-Fillon. Diese hat vor, im kommenden Schuljahr 11.2000 Stellen an Grund- und Mittelschulen zu streichen.
Für den 6. Mai ist ein nationaler Schülerstreik geplant. Der 6. Mai ist der Tag, an dem die Frühlingsferien zu Ende sind. Diese Ferien haben in Frankreich je nach Region zu Anfang, Mitte oder Ende April begonnen. Als letzte sind die Schüler im Großraum Paris am 5. Mai zurückgekehrt.
Seit Ende März werden die Gymnasien sporadisch bestreikt. Begonnen haben die Aktionen im Großraum Paris, und an zwei Aktionstagen zogen Zehntausende Schüler aus der ganzen Region durch die Innenstadt. Am 15. April schlossen sich streikende Grundschullehrer den Schülern an. Eine Reihe von Gymnasien der Ile-de-France wurde besetzt.
Als die Pariser Schüler in die Ferien gingen, setzten jene aus der Provinz die Streiks an den Gymnasien fort. In Straßburg, Lille, Toulon, Rouen, Marseilles, Tours, Nizza, Orléans und Toulouse kam es zu Schulstreiks und Demonstrationen. In Rennes demonstrierten 3.500 Grundschullehrer gegen Klassenschließungen. Im Departement Gard befinden sich zwei Drittel aller Mittelschüler im Ausstand.
Die Schüler tragen phantasievolle Transparente und Plakate mit sich. Einige Slogans, die auf den Kundgebungen zu lesen und zu hören sind, lauten: " Touche pas à mon école" (Lass meine Schule in Ruh’) "Wir sind die Gymnasiasten - im Krieg mit dem Staat", "Die Straße muss bestimmen, wo die Vernunft scheitert", "Schule zerstört, Gymnasium verpfuscht", "Weniger Polizisten, mehr Lehrer" oder "Nicht die Lehrer, nicht die Sans papiers [Einwanderer ohne Papiere] - schmeißt die Regierung raus!"
Die Schüler fordern die Rücknahme von Maßnahmen, die Bildungsminister Xavier Darcos im März angekündigt hat. Dazu gehören die geplanten 11.200 Stellenstreichungen für das kommende Jahr. Schon dieses Jahr sind an den Schulen 8.700 Stellen abgebaut worden.
Bis zum Jahr 2012 sollen insgesamt 80.000 Lehrerstellen abgebaut werden. Und das, obwohl bekannt ist, dass sich im gleichen Zeitraum die Zahl der Gymnasiasten um 150.000 erhöhen wird. Die Regierung behauptet, die entstehende Lücke sei durch Mehrarbeit der Lehrer leicht aufzufangen, was von Lehrern und Eltern empört zurückgewiesen wird.
Die Gymnasiasten protestieren außerdem gegen Pläne, die Schulzeit für das so genannte baccalauréat professionnel oder "bac pro", eine berufsbezogene Version des französischen Abiturs, von vier auf drei Jahre zu verkürzen. Diese Maßnahme soll zudem das so genannte BEP, das Brevet d’étude professionnel, ersetzen, eine Qualifikation, die man auf der gymnasialen Oberstufe nach zwei Jahren erlangen kann.
Die Regierung hat vergangenen September den so genannten Pochard-Bericht vorgelegt, der eine Öffnung der Schulen für die Privatwirtschaft fordert. Auf Einladung des rechten Präsidenten Nicolas Sarkozy haben an diesem Bericht auch Jack Lang, der ehemalige Bildungsminister, und Michel Rocard, ein früherer Premierminister mitgearbeitet, beides prominente Politiker der Sozialistischen Partei (PS).
Die Umsetzung des Pochard-Berichts bedeutet, dass Gymnasien zueinander in Konkurrenz treten müssen, um private Investoren anzuziehen. In dem Bericht wird außerdem gefordert, dass Lehrer auch Fächer unterrichten, die sie gar nicht studiert haben.
Ausgefallene Fächer, wie zum Beispiel seltene Fremdsprachen oder Themen aus der Welt der Kunst, sollen künftig nicht mehr unterrichtet werden. Bildungsminister Darcos forderte, die Vermittlung von Lehrstoff aus dem Gesichtswinkel der Kosten zu betrachten. Er behauptete, man müsse die Bildung danach beurteilen, ob sie "der Nation diene". In Le Monde vom 18. April wird er mit den Worten zitiert: "Man muss berücksichtigen, was Bildung die Nation kostet, und was sie [die Nation] für ihre Ausgaben zurückbekommt."
Die Schüleraktionen werden zurzeit hauptsächlich von zwei Schülergewerkschaften, der FIDL und der UNL organisiert, die beide der Sozialistischen Partei nahe stehen. Die Perspektive beider Organisationen ist äußerst begrenzt. Sie verbreiten die Illusion, dass einzelne Protestaktionen die Regierung zur Umkehr zwingen könnten.
Die Führer dieser zwei Schülerverbände haben am 11. und am 16. April an offiziellen Treffen mit Darcos teilgenommen. Der Bildungsminister ging aber nicht von den geplanten Stellenstreichungen ab, sondern schlug lediglich vor, kleinere Schönheitskorrekturen das Abitur und den BEP-Abschluss betreffend vorzunehmen.
Die Schülerfunktionäre klammern sich an diese Aussagen und geben sie als Beweis für eine veränderte Haltung des Ministers aus. Alix Nicolet, nationale FIDL-Sekretärin, sagte: "Wir haben eine Aufweichung [der Haltung des Ministers] erreicht." In einem Brief vom 20. April auf der Website der UNL schreibt deren Sekretär, Florian Lecoultre: "Die UNL hat die Absicht des Ministers zur Kenntnis genommen, die Reformen des Bac pro mit Gymnasiasten zu diskutieren. ... Wir haben erste, ermutigende Anzeichen erhalten, wie zum Beispiel die Zusicherung, dass der BEP erhalten bleibt."
Dagegen erklärte Bildungsminister Xavier Darcos selbst: "Ich bin kein Minister, der zurückweicht", und: "Ich bin ein Minister, der die Reformen bis zum Ende durchsetzen wird".
Die großen Gewerkschaften, die alle auch eine eigene Abteilung für das Schulwesen haben, beteuern ihre Solidarität mit den Schülerdemonstrationen. Aber sie vermeiden es tunlichst, andere Berufssparten in die Proteste einzubeziehen, obwohl die Maßnahmen die Kinder der ganzen arbeitenden Bevölkerung betreffen.
Die Gewerkschaften betonen bei jeder Gelegenheit, sie hätten die Absicht, "konstruktiv zusammen zu arbeiten", sie suchten den Dialog mit der Regierung, usw. Das bestärkt Darcos nur in seiner starren Haltung. Bisher haben die französischen Gewerkschaften keinen einzigen Angriff auf das Bildungssystem ernsthaft zurückgewiesen, obwohl laut den letzten Umfragen zwei Drittel der Bevölkerung die Präsidentschaft von Nicolas Sarkozy offen ablehnen.
Die Gewerkschaften fordern vor allem das so genannte collectif budgétaire, einen alternativen Haushaltsvorschlag, den sie anstelle des im November 2007 verabschiedeten Haushalts sehen möchten. Der verabschiedete Haushalt ist die Grundlage für die Kürzungen des Bildungsministers. Die Forderung, ihn zu ersetzen, ist reine Augenwischerei, denn die regierende UMP (Union für eine Volksbewegung) kann sich auf eine satte Mehrheit im Parlament stützen.
Seit Jahren haben Schüler und Studenten ihre Entschlossenheit unter Beweis gestellt, gegen die Angriffe der Regierung zu kämpfen. Im Jahr 2003 wurde acht Wochen lang gegen die Pläne gestreikt, die Bildung zu dezentralisieren und die Hilfslehrerstellen abzuschaffen. 2005 kämpften die Schüler gegen das unternehmerfreundliche Bildungsgesetz Loi Fillon, das seinen Namen dem heutigen Premierminister verdankt, der damals Bildungsminister war. Ein Jahr später kam es zur Massenmobilisierung von Schülern und Studenten gegen den CPE (Contrat premier employ). Im Jahr 2007 wurden die Universitäten monatelang gegen das Loi Pécresse bestreikt und besetzt, ein Gesetz für mehr Autonomie an den Hochschulen. Es stärkt den Einfluss der Wirtschaft auf die Unis und schränkt den Zugang zu höherer Bildung ein.
Alle diese Schüler- und Studentenaktionen, wie auch die Streiks der Arbeiterklasse zur Verteidigung des Rechts auf Bildung, der Renten, der Gesundheitsversorgung und der Arbeitsplätze und -errungenschaften wurden von den Gewerkschaften und "linken" Parteien ausverkauft und erdrosselt. Die Regierung hat höchstens taktische Rückzüge vorgenommen.
In letzter Zeit sehen sich die Schüler immer häufiger staatlichen Repressionen ausgesetzt. Wenn sich Gymnasiasten vor ihrer Schule versammeln, rufen die Schulleiter rasch die Polizei zu Hilfe, weil sie einer Schulbesetzung zuvor kommen wollen.
Viele Schüler wurden schon festgenommen und wegen geringer Vorwürfe vor Gericht gezerrt, einige sogar einem DNA-Test unterzogen. Die Demonstrationen werden von schwer bewaffneten Polizeieskorten umkreist und systematisch gefilmt. Am Rande der Demonstrationen kam es schon zu Auseinandersetzungen zwischen Schülergruppen und der Polizei.
Die World Socialist Web Site (WSWS) sprach am 29. April in Amiens, in der nordfranzösischen Pikardie, mit Teilnehmern einer Demonstration. Die WSWS, Internetzeitung der Vierten Internationale, kämpft für eine politische Bewegung der gesamten Arbeiterklasse gegen die Sarkozy-Regierung, unabhängig von Gewerkschaften und "linken" Parteien und auf der Grundlage eines sozialistischen Programms.
In Amiens waren trotz Regenwetters gut 200 Schüler auf der Straße. Sie wurden von Eltern, Lehrern und Studenten unterstützt. Zum Schluss der Aktion versammelten sich alle vor dem Gebäude der regionalen Schulbehörde, wo die Grundschullehrer eine Kundgebung gegen Klassenschließungen durchführten.
Die WSWS sprach mit Maélyse, Clémentine und Justine vom Gymnasium Madeleine Michelis. Die drei Mädchen sagten: "Mit weniger Lehrern wird es größere Klassen geben. Sie müssen verstehen, dass wir das nicht akzeptieren können." "Sarkozy denkt nur an die Reichen. Das nennt er demokratisch - das ist mir eine schöne Demokratie." Clémentine fügte hinzu: "Die Gewerkschaften müssen auf unsrer Seite stehen, die Arbeiter müssen uns doch unterstützen."
Auch ein Literaturstudent im zweiten Jahr, Aurélien Delaporte, war zugegen. "Ich bin aus Solidarität mit den Gymnasiasten hier. Ich unterstütze ihren Kampf für vernünftige Arbeitsbedingungen für Schüler und Lehrer, gegen den Mangel an schulischen Hilfsmitteln, gegen zu große Klassen und Einschränkung der Wahlfächer, und für eine Bildung, die tatsächlich Kultur vermittelt."
Er fuhr fort: "Ich möchte Lehrer werden. Ich habe den Eindruck, meine Karriere ist bedroht, und ich möchte vernünftige Arbeitsbedingungen. Vergangenes Jahr habe ich mich an den Protesten gegen das Loi Pécresse beteiligt. Eine große soziale Bewegung, zusammen mit den Eisenbahnern, die gleichzeitig um ihre Renten kämpften, wäre nötig gewesen. Die Gewerkschaften müssten die Gymnasiasten unterstützen.
Man versucht die Schüler hinzustellen, als wüssten sie selbst nicht, wofür sie eigentlich demonstrieren. Das ist nicht wahr: Sie wissen genau, dass sie es in Zukunft sehr schwer haben werden. Es braucht eine Sturmflut. Die Kämpfe sind zu sehr auf ein Thema bezogen, dadurch leidet die Solidarität. Wir brauchen ein anderes System."
Francis Guésou, ein Facharbeiter im Ruhestand, nahm ebenfalls an der Demonstration teil. Er erklärte der WSWS, er sei Vizesekretär des Dachverbandes der Eltern-und-Schüler-Räte der Region Somme, das ist der größte Elternverband in Frankreich. Er stehe für den Grundsatz seiner Organisation ein, nämlich "Verteidigung der Kinder und der öffentlichen, säkularen und kostenlosen Bildung".
"Die Gymnasiasten haben Recht, gegen Darcos zu demonstrieren", sagte er. "Die Abschaffung des BEP ist für Kinder, die Schwierigkeiten haben, ein Verlust. Damit können sie immerhin einen Arbeitsplatz bekommen. Man muss Sarkozy zurückschlagen, wie wir es 1968 getan haben. Damals war die Revolution möglich, aber die politischen Parteien waren nicht dazu bereit. Die Gewerkschaften waren einfach überfordert; sie waren nicht bereit."