Mit der Forderung nach höheren Milchpreisen sind am vergangenen Dienstag Tausende deutsche Landwirte in einen Lieferstreik getreten. Sollten die Landwirte auch in dieser Woche ihren Lieferboykott fortführen, könnte die Versorgung mit Frischmilchprodukten in nächster Zeit deutlich eingeschränkt werden.
Die hohe Beteiligung an dem Streik hat selbst die Organisatoren des Bundesverbandes Deutscher Milchviehalter (BDM) überrascht. Nach eigenen Angaben haben fast alle 32.000 Mitglieder des BDM ihre Lieferungen eingestellt. In einigen Gebieten Bayerns, Baden-Württembergs und Hessens erreichte die Beteiligung hundert Prozent.
Auch die nicht organisierten Milchbauern solidarisieren sich in immer größerer Zahl. Schätzungen zufolge werden derzeit bis zu 60 Prozent der täglich produzierten 47.000 Tonnen Milch in Deutschland nicht verarbeitet.
Die Bauern erhalten auch wachsende Unterstützung aus dem europäischen Ausland. In den Niederlanden, Belgien, Österreich und der Schweiz sind inzwischen Landwirte in den Ausstand getreten. In Österreich rief die IG-Milch ihre Mitglieder auf, in dieser Woche nur die Hälfte der ansonsten üblichen Menge an die Molkereien auszuliefern.
In Frankreich blockierten etwa 500 Milchbauern eine Molkerei bei Straßburg, um Milchlieferungen nach Deutschland zu stoppen. "Wir versuchen zu verhindern, dass die Bewegung in Deutschland mit französischer Milch geschwächt wird", erklärte dazu der Präsident der Organisation der Milchproduzenten, Jean-Louis Niveau. Auch andernorts in Frankreich gab es Proteste gegen die niedrigen Milchpreise, die teilweise noch geringer sind als in Deutschland.
Mit dem Lieferstreik wollen die deutschen Milchviehalter einen Abnahmepreis von mindestens 43 Cent pro Liter Milch durchsetzen. Derzeit erhalten sie je nach Region zwischen 27 und 35 Cent. Dabei sind die geforderten 43 Cent für viele noch immer ein Verlustgeschäft. Ein typischer Familienbetrieb braucht 44 Cent, um die Milch überhaupt erzeugen zu können. Darin ist kein Cent Gewinn zum Bestreiten des Lebensunterhalts eingerechnet.
Die finanzielle Lage der Landwirte in Deutschland und Europa wird seit Jahren zunehmend schlechter. In Deutschland hat sich der Widerstand dagegen bisher auf symbolische Protestaktionen beschränkt, die völlig wirkungslos blieben. Wenn heute große Teile der Landwirte zu drastischen Mitteln greifen und ihre Milch in die Güllegrube kippen, macht dies deutlich, in welcher Zwangslage sie sich befinden.
Die streikenden Bauern können ihre Ausfälle durch nichts kompensieren. Für Milch, die nicht an die Molkereien geliefert wird, erhalten die Landwirte kein Geld. Eine Streikkasse existiert nicht. Die Neue Westfälische kommentierte treffend: "Mangels Streikkasse ist ein Streik für die Bauern ruinös. Mangels Margen führt aber auch der Weiterbetrieb in den Ruin. Da verdient das Aufmucken auf den Höfen Verständnis."
Die Milchbauern wehren sich vor allem gegen das Preisdiktat der großen Lebensmittelkonzerne, die die Preise stetig nach unten drücken, um die Konkurrenz im Preis unterbieten zu können. Zuletzt gab es in den großen Einzelhandelsketten wie Aldi, Lidl und Rewe kräftige Preissenkungen auf Milchprodukte. Nach Angaben des BDM ist der Milchpreis seit Anfang des Jahres um 30 Prozent gesunken. Noch im vorigen Herbst hatten die Bauern kurzfristig durch eine weltweit wachsende Nachfrage teilweise mehr als 40 Cent erhalten.
Die Preise für die Milch - und damit auch die Erlöse für die Milcherzeuger - handeln die führenden Einzelhandelsketten und die Molkereien unter sich aus. In Deutschland gibt es fünf bis sechs große Unternehmen, die die Preise diktieren. Sämtliche Preissteigerungen, die in den vergangenen Jahren die Verbraucher belasteten, wanderten zu einem guten Teil in deren Taschen. Die Erzeuger hatten davon nichts.
Für einen Liter Milch beispielsweise erhält der Landwirt derzeit 2 Cent weniger als 1993. Die Verbraucher zahlen dagegen um bis zu 30 Cent mehr. Für das Kilo Brotgetreide erhalten die Landwirte etwa drei Cent weniger als vor 15 Jahren. Im Geschäft kostet es aber um bis zu ein Euro mehr. Ähnlich verhält es sich bei Fleischprodukten.
Das Verständnis, das einige Politiker wie Verbraucherminister Horst Seehofer (CSU) für die Aktionen der Milchbauern heucheln, kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Politik der Europäischen Union und der europäischen Regierungen die Rahmenbedingungen für die immer schärfere Ausbeutung der Landwirte und die steigenden Profite der Konzerne geschaffen hat.
Die EU strebt an, den Milchpreis künftig völlig dem Markt überlassen. Für zahlreiche Kleinbetriebe bedeutet dies das sichere Aus. Bei einem Absinken des Preises auf einem globalen Markt können nur noch riesige Agrarbetriebe im Wettbewerb bestehen.
Bis die bestehende Reglementierung im Jahr 2015 ausläuft und nach dem Willen der EU "freier Markt" vorherrscht, soll die bisherige Milchquote weiterhin schrittweise gelockert werden, was die Preise weiter sinken lässt.
Die so genannte Milchquote wurde 1984 eingeführt, um die ausufernde Produktion von Milchprodukten zu bremsen. Jedem Land wurde ein gewisses Kontingent an Milchproduktion zugeteilt, das wiederum auf die einzelnen Landwirte aufgeteilt wurde. Auf diese Art und Weise wurden die Preise relativ stabil gehalten sowie kleinen und mittleren landwirtschaftlichen Betrieben zumindest teilweise das Überleben gesichert.
In jüngster Zeit sind vor allem aufgrund der explodierenden Energiepreise die Erzeugerkosten massiv gestiegen. Die Kosten für die Erzeugung eines Liters Milch sollen derzeit um etwa sieben Cent höher liegen als zu Jahresbeginn. Der Preis für Diesel zum Betrieb der landwirtschaftlichen Maschinen kostet heute zweieinhalb Mal so viel wie noch vor 15 Jahren.
Der gegenwärtige Streik der Milchbauern ist Bestandteil einer Protestwelle gegen die Folgen des enormen Anstiegs des Ölpreises, die eine ganze Reihe europäischer Staaten erfasst hat. Der Ölpreis hat vergangene Woche mit 135 US-Dollar pro Barrel einen neuen Höchststand erreicht.
Im Mai haben französische Fischer zwei Wochen lang gegen die steigenden Preise für Dieseltreibstoff bei gleichzeitig sinkenden Abnehmerpreisen gestreikt. In Spanien und Portugal traten die Fischer am Freitag in einen unbefristeten Streik. Tausende Fischer forderten in Madrid Sonderhilfen von der Regierung. Aus Lastwagen wurde tonnenweise frischer Fisch an die Einwohner verteilt, anstatt in den Verkaufsregalen zu landen.
Die Existenz der europäischen Fischer ist ähnlich bedroht, wie die der deutschen Milchbauern, und auch hier lehnt die Europäische Union jede staatliche Hilfe als eine "Verzerrung" des Marktes ab. Die rasant steigenden Energiepreise haben explosive soziale Konsequenzen. In den vergangenen fünf Jahren stieg der Preis für Dieselkraftstoff um 230 Prozent, die Fischer erhalten für das Kilogramm Fisch aber genauso viel wie vor 20 Jahren.
Die spanische Regierung lässt der drohende Ruin zahlreicher Fischer kalt. Sie lehnt die Forderung nach einer Senkung der Mineralölsteuer mit dem Hinweis ab, die Steuersätze auf Treibstoff zählten in Spanien zu den niedrigsten in der EU.
Am Freitag ging auch der Protest in mehreren portugiesischen Häfen weiter. Sie wurden von Regierungsvertretern mit der Bemerkung abgewiesen, die Fischer genössen in Portugal schon jetzt Steuervergünstigungen beim Kauf von Treibstoff. Weitere Hilfen seien wegen der angespannten Haushaltslage ausgeschlossen.
Gegen die hohen Spritpreise protestierten auch Bus- und LKW-Fahrer in Bulgarien. Fast 200 Lastwagen blockierten einen Teil der Ringautobahn in der Hauptstadt Sofia. Auch in anderen bulgarischen Städten kam es zu ähnlichen Protesten.