Das heutige Treffen der europäischen Staats- und Regierungschefs in Brüssel findet unter Bedingungen einer fortschreitenden Krise der Europäischen Union statt.
Im Mittelpunkt der wachsenden Spannungen zwischen Berlin, Paris und London steht die Frage, wie auf die internationale Finanzkrise und globale Rezession reagiert werden soll. Während die französische und die britische Regierung gemeinsam mit EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso auf ein groß angelegtes Konjunkturprogramm drängen, hält sich die Bundesregierung mit zusätzlichen Finanzmitteln zurück.
Er lehne es ab, "gegen die Rezession mit Staatsknete anfinanzieren" zu wollen, ließ der deutsche Finanzminister Peer Steinbrück verlauten. Am Wochenanfang trafen sich daraufhin Sarkozy, Brown und Barroso ohne die Kanzlerin in London und versuchten den Druck auf die Bundesregierung zu erhöhen.
Hintergrund des Streits sind die verheerenden Auswirkungen der internationalen Wirtschaftskrise auf Europa. Die Konjunkturprognosen werden von Monat zu Monat düsterer. Eine gemeinsame Voraussage von zehn europäischen Forschungsinstituten rechnet für 2009 mit einem Rückgang des realen Bruttoinlandsprodukts (BIP) um 0,4 Prozent und einem deutlichen Anstieg der Arbeitslosigkeit. Auch eine wesentlich ungünstigere Entwicklung schließen die Forscher nicht aus.
Die meisten EU-Länder befinden sich bereits mitten in der Rezession. In Deutschland, wo das BIP im ersten Quartal 2008 noch mit einer Jahresrate von 5,7 Prozent wuchs, sank es im zweiten Quartal um 1,7 und im dritten um 2,1 Prozent. Die OECD sagt für die nächsten zwei Jahre einen deutlichen Anstieg der Arbeitslosigkeit voraus.
Doch es geht bei den Meinungsverschiedenheiten in Brüssel nicht nur um Umfang und Gestaltung eines Konjunkturprogramms. Unter dem Druck der Krise droht das gesamte Projekt der europäischen Einigung auseinander zu brechen. Selbst die Gemeinschaftswährung gerät mehr und mehr unter Druck. Seit Januar verlor der Euro gegenüber dem US-Dollar rund 13 Prozent. Im Vergleich zum Höchststand von 1,60 Dollar im Frühjahr büßte der Euro sogar über 20 Prozent ein. Der Kurs lag zeitweise unter 1,25 Dollar.
Unter diesen Bedingungen brechen alle ungelösten historischen Probleme in Europa wieder auf.
Das europäische Dilemma besteht darin, dass die gegenwärtige Finanz- und Wirtschaftskrise eine engere Zusammenarbeit in Europa dringender macht, diese aber gleichzeitig schwieriger und in wachsendem Maße unmöglich wird. Denn der historische Niedergang der USA - ausgedrückt in der Wirtschaftskrise und der gigantischen Verschuldung des Landes - verschärft nicht nur die Konflikte zwischen den USA und Europa, sondern auch innerhalb Europas selbst.
Das europäische Einigungsprojekt, begonnen mit den Römischen Verträgen vor fünfzig Jahren, war eng mit der Vorherrschaft der USA im westlichen Bündnis verbunden. Die USA unterstützten eine enge wirtschaftliche und politische Zusammenarbeit der westeuropäischen Staaten. Ein einheitlicher europäischer Wirtschaftsraum mit freiem Waren-, Dienstleistungs-, Personen- und Kapitalverkehr kam auch amerikanischen Unternehmen zugute, die in Europa investierten und ihre Waren absetzten. Und ein geeintes Westeuropa diente als politisches und militärisches Bollwerk gegen die Sowjetunion.
Der Zusammenbruch der Sowjetunion und des Warschauer Pakts veränderte die Lage. Die europäischen Mächte, allen voran Deutschland, sahen nun die Chance, die amerikanische Vorherrschaft zu überwinden und den USA ebenbürtig entgegen zu treten.
Die Gründung der Europäischen Union im Jahr 1992, die Ausdehnung der EU nach Osteuropa und die Einführung einer gemeinsamen Währung dienten diesem Zweck. Der Euro war als Konkurrenz zum Dollar und als alternative Leitwährung gedacht. Im Jahr 2000 setzte sich die EU in Lissabon sogar das Ziel, "bis 2010 zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum in der Welt zu werden" - d.h. die USA zu überholen
Die USA ihrerseits nutzten ihre Machtstellung in Europa, um die innereuropäischen Konflikte zu schüren. Das zeigte sich während des Irakkriegs, als der damalige US-Verteidigungsminister Rumsfeld den Gegensatz zwischen dem "alten" und "neuen" Europa anheizte.
Gleichzeitig spitzten sich die sozialen und nationalen Gegensätze in Europa zu. Vor allem in den letzten fünf bis sechs Jahren hat der gesellschaftliche Niedergang ein enormes Tempo angenommen.
Eine wichtige Rolle spielte dabei die Osterweiterung der EU. Den europäischen Unternehmen stehen auf engstem Raum eine große Menge billiger, gut ausgebildeter Arbeitskräfte zur Verfügung, die systematisch eingesetzt werden, um den Lebensstandard auch im übrigen Europa zu senken.
Das Lohngefälle innerhalb der EU ist enorm. Eine Arbeitsstunde in Skandinavien, Deutschland Großbritannien und Frankreich kostet zwischen 25 und 30 Euro, in Polen 5 Euro, in den baltischen Staaten und der Slowakei 4 Euro und in Bulgarien, das Anfang vergangenen Jahres in die EU aufgenommen wurde, 1,40 Euro.
Dieses Lohngefälle besteht auf engstem Raum. Von der deutschen Hauptstadt bis zur polnischen Grenze sind es nur 100 km, bis in die lettische Hauptstadt Riga etwas mehr als 1000 km. Auf einer Distanz von 1000 km gibt es also ein Lohngefälle von über 90 Prozent.
Um unter diesen Bedingungen die Währungs- und Wirtschaftsunion aufrecht zu erhalten, versucht die Bundesregierung den Stabilitätspakt zu verteidigen, der seit Anfang der neunziger Jahre das Rückgrat der deutschen Europa-Strategie bildet.
Damals hatten Kanzler Helmut Kohl (CDU) und sein Finanzminister Theo Waigel darauf beharrt, die Einführung des Euro an strenge finanzpolitische Auflagen zu binden, die jede Regierung zu strikter Haushaltsdisziplin zwingen und die Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank (EZB) von politischer Einflussnahme sicher stellen. Die Neuverschuldung eines Landes durfte maximal drei Prozent und die Gesamtverschuldung 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts betragen.
Der Stabilitätspakt sollte die Stabilität des Euro garantieren und diesen in die Lage versetzen, mit dem Dollar zu konkurrieren. Damit sollte auch die Dominanz der deutschen Wirtschaft in Europa gesichert werden, die wegen ihrer Exportstärke besonders von einer stabilen Währung profitiert.
Angesichts der Wirtschaftskrise und der globalen Rezession zeigt die gemeinsame Wirtschafts- und Währungspolitik zunehmend Risse. Jede europäische Regierung versucht nach Kräften, die eigene Industrie und Wirtschaft zu retten. Die Gegensätze zwischen den europäischen Regierungen nehmen in allen Fragen zu. Selbst die gemeinsame Währung kann unter diesen Bedingungen wieder auseinander brechen.
Alle ungelösten Fragen, die Europa zwischen 1914 und 1945 zwei Mal in ein Trümmerfeld verwandelt haben, brechen wieder auf: Wer dominiert Europa? Wie kann das wiedervereinte Deutschland unter Kontrolle gehalten werden? Bricht die deutsch-französische "Erbfeindschaft" wieder aus? Wie können die kleineren Mitgliedstaaten ihre Interessen gegenüber den Großen wahren? Wie kann Polen verhindern, dass es zwischen Deutschland und Russland erdrückt wird?
Die europäischen Regierungen beobachten sich misstrauisch. Keine traut der anderen über den Weg. Die einzige Form der Zusammenarbeit, die gegenwärtig in Europa Fortschritte macht, richtet sich gegen die Arbeiterklasse. Es sind immer neue soziale Angriffe und die Errichtung eines europäischen Polizeistaats.
Die EU-Kommission ist zum Synonym für Deregulierung, Liberalisierung und den Abbau von Arbeitnehmerrechten geworden. Anstatt die sozialen und regionalen Gegensätze auszugleichen, verschärft sie diese. Der bürokratische Koloss mit 40.000 Mitarbeitern, der keiner demokratischen Kontrolle, dafür aber den Einflüsterungen zahlreicher Wirtschaftslobbyisten unterworfen ist, tritt immer unverblümter als Werkzeug der europäischen Großmächte und einflussreichsten Wirtschaftsgruppen in Erscheinung.
Trotzki hatte Recht, als er 1915 schrieb: "...ein einigermaßen vollständiger wirtschaftlicher Zusammenschluss Europas von oben herab, durch Verständigung zwischen kapitalistischen Regierungen [ist] eine Utopie. Weiter als zu Teilkompromissen und halben Maßnahmen kann hier die Sache niemals kommen. Daher wird eine wirtschaftliche Vereinigung Europas, welche sowohl für die Produzenten wie für die Konsumenten und für die kulturelle Entwicklung überhaupt von größtem Vorteil ist, zu einer revolutionären Aufgabe des europäischen Proletariats in seinem Kampf gegen den imperialistischen Protektionismus und dessen Waffe, den Militarismus." (Leo Trotzki, "Das Friedensprogramm")