Der Berliner Stadtforscher und Soziologe Andrej H. saß drei Wochen lang in Untersuchungshaft, weil ihm die Bundesanwaltschaft in Karlsruhe unter fadenscheinigen Vorwänden die "Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung" vorwirft.
Erst am Mittwoch wurde Andrej H. gegen Zahlung einer Kaution und unter strengen Auflagen vorläufig frei gelassen, nachdem zuvor Tausende Wissenschaftler und Studenten aus Deutschland und der ganzen Welt gegen die beispiellose Kriminalisierung eines Wissenschaftlers protestiert hatten. Wie H.s Anwältin Christina Clemm mitteilte, bedeutet die Haftverschonung aber keine Aufhebung des Haftbefehls. Außerdem will die Bundesanwaltschaft gegen die Entscheidung des Ermittlungsrichters Beschwerde einlegen.
Die Bundesanwaltschaft beschuldigt den an der Berliner Humboldt-Universität beschäftigten Wissenschaftler sowie drei weitere Berliner, die sich weiterhin in Haft befinden, der "militanten gruppe" (mg) anzugehören. Diese soll laut Bundeskriminalamt (BKA) für rund zwei Dutzend Fälle geringfügiger Sachbeschädigung und das Anzünden von Privat-PKWs sowie von Polizeifahrzeugen verantwortlich sein. Durch solch sinnlose Vandalenakte, so das BKA, wolle die mg die "Struktur der Gesellschaft zerschlagen und eine kommunistische Weltordnung errichten".
Andrej H., der am 1. August in seiner Wohnung festgenommen wurde, wird vorgeworfen, er habe mit seinen wissenschaftlichen Arbeiten der mg das theoretische Rüstzeug geliefert. Unter dem gleichen absurden Vorwand ermittelt die Bundesanwaltschaft auch gegen den Leipziger Politologen Matthias B. sowie einen weiteren Wissenschaftler und einen Journalisten, die bisher nicht festgenommen wurden.
Die drei anderen Inhaftierten, Florian L., Oliver R. und Axel H., sollen laut Polizeiangaben in den Morgenstunden des 31. Juli versucht haben, in Brandenburg/Havel drei Bundeswehrfahrzeuge in Brand zu setzen. Sie waren seit geraumer Zeit von der Polizei observiert worden und wurden auf dem Weg zum angeblichen Tatort festgenommen.
Dabei soll die Polizei, wie das "Bündnis für die Einstellung des § 129a-Verfahrens" jetzt bekannt gab, mit großer Brutalität vorgegangen sein. Die Drei hätten sich im fahrenden Auto befunden, das in einem "blitzartigen Überfall" zum Stehen gebracht worden sei. Dann seien "die Scheiben eingeschlagen und die Insassen durch die herausgebrochenen Fensterscheiben nach draußen gezerrt" worden, wobei sie "Schnittstellen an verschiedenen Körperstellen" erlitten hätten. Anschließend seien den Verhafteten wie Guantanamo-Häftlingen "Säcke über die Köpfe gezogen" worden. Alle drei seien "in dünne, weiße Plastik-Overalls gesteckt" worden und hätten "gefesselt über einen langen Zeitraum auf der Straße liegen" müssen.
Obwohl der Versuch der Brandstiftung nach geltendem Recht nur ein Ermittlungsverfahren der örtlich zuständigen Staatsanwaltschaft in Potsdam gerechtfertigt hätte und die Beschuldigten nicht vorbestraft sind, riss die Bundesanwaltschaft in Karlsruhe das Verfahren an sich, legte den drei Männern die Mitgliedschaft in der "militanten gruppe" zur Last und leitete ein Verfahren nach Paragraph 129a ein, der die "Bildung terroristischer Vereinigungen" unter Strafe stellt.
Um diesen Vorwurf zu untermauern brachte die Bundesanwaltschaft den Soziologen Andrej H. ins Spiel, der zwei Tage später in seiner Wohnung festgenommen, per Hubschrauber nach Karlsruhe geflogen und dort ebenfalls dem Haftrichter vorgeführt wurde. Andrej H. soll nach Ansicht der Bundesanwaltschaft einer der theoretischen Köpfe und Rädelsführer der "militanten gruppe" sein.
Fadenscheinige Vorwürfe
Die Indizien, mit denen die Bundesanwaltschaft ihre Vorwürfe begründet, sind allerdings äußerst fadenscheinig. Alles deutet darauf hin, dass hier unter dem Vorwand der Terrorbekämpfung elementare demokratische Grundrechte angegriffen und kritische Wissenschaftler und Journalisten mundtot gemacht werden sollen.
So müssen Andrej H. und die drei anderen Inhaftierten durch einen abenteuerlichen Zirkelschluss und abstruse Konstruktionen gegenseitig für die gegen sie erhobenen Beschuldigungen herhalten.
Die Bundesanwaltschaft argumentiert, der fehlgeschlagene Anschlag auf Bundeswehrfahrzeuge weise "Parallelen zu Anschlägen der terroristischen Vereinigung militante gruppe (mg)’ in der Vergangenheit" auf. Insbesondere die Tatzeit während der Nachtstunden sei auffällig. Mit dieser Begründung könnte jeder nächtliche Brandanschlag zu einem terroristischen Akt stilisiert werden.
Weiter soll der dabei festgenommene Florian L. "umfassende konspirative Kontakte und Treffen" mit Andrej H. gehabt haben. Tatsächlich gab es zwei Treffen. Deren konspirativen Charakter leitet die Bundesanwaltschaft daraus ab, dass die beiden keine Handys dabei hatten. Nach dieser Logik macht sich jeder verdächtig, der sein Handy nicht immer dabei hat.
Ferner wird Andrej H. und Matthias B. vorgeworfen, ihnen stünden als "Mitarbeiter eines Forschungszentrums Bibliotheken zur Verfügung", die sie "unauffällig nutzen können, um die zur Erstellung der militanten gruppe erforderlichen Recherchen durchzuführen". Damit wird jeder Bibliotheksnutzer zum potentiellen Terroristen!
Als promovierte Wissenschaftler verfügten die beiden außerdem über "die intellektuellen und sachlichen Voraussetzungen", die "für das Verfassen der vergleichsweise anspruchsvollen Texte der militanten Gruppe erforderlich" seien. Intellektuelle Kenntnisse als Verdachtsmoment - das erinnert schon an die finstersten Diktaturen!
Schließlich wird gegen Andrej H. vorgebracht, seine wissenschaftlichen Abhandlungen enthielten Schlagwörter und Phrasen, die auch in Texten der mg verwendet worden seien. Daraus schließen die Fahnder des Bundeskriminalamtes, dass Andrej H. Urheber der Texte der mg sein müsse.
Dabei geht es vor allem um den Begriff "Gentrification". "Gentrification" ist ein weit verbreiteter Fachbegriff der soziologischen Stadtforschung. Die internationale soziologische Aufsatzdatenbank Sociological Abstracts weist zum Stichwort "Gentrification" 452 Einträge von 174 Wissenschaftlern aus, und beim Online-Buchhändler Amazon werden 64 Titel zum Thema "Gentrification" gelistet. Allein die New York Times hat den Begriff in den letzten Jahren 1.770 Mal benutzt.
Mit einer solchen Indizienkette kann jede x-beliebige Person unter Terrorverdacht gestellt werden. Das unterstreicht auch die Methode, mit der die Fahnder des Bundeskriminalamtes auf die beiden Wissenschaftler aufmerksam wurden.
Der tageszeitung berichtete H.s Anwältin Christina Clemm, die mittlerweile Einsicht in die 29 Ordner umfassenden Ermittlungsakten erhalten hat, das BKA habe einfach in einer Internetrecherche mit dem Suchportal "Google" nach Begriffen gesucht, die von der mg in ihren Bekennerschreiben verwendet wurden, darunter auch "Gentrification" und "Prekarisierung".
Andrej H. und Matthias B. forschen zu diesen Themen, was sie "höchst verdächtig" gemacht habe und den Ermittlungsbehörden ausreichte, um eine einjährige Observation mit Videoüberwachung der Hauseingänge, Lauschangriff und Handyortung durchzuführen.
Kritische Wissenschaft
Andrej H. und Matthias B. haben beide ihre Doktorarbeit über den Prozess der Gentrifizierung am Beispiel der Umstrukturierung des Ostberliner Bezirkes Prenzlauer Berg nach 1990 geschrieben und sind in Deutschland Spezialisten auf dem Gebiet des innerstädtischen Strukturwandels. Dass sie diesen Wandel dabei kritisch durchleuchten und in jüngeren Arbeiten insbesondere die Vertreibung von Arbeitslosen und Hartz IV-Empfängern aus dem Bezirk Prenzlauer Berg analysieren, rückte sie in den Augen der Bundesanwaltschaft offensichtlich bereits in die Nähe des "Linksextremismus".
Ins Visier der Terrorfahnder gerieten Andrej H. und Matthias B. aber nicht alleine wegen ihrer wissenschaftlichen Arbeiten. Diese sind in zahlreichen Bibliotheken öffentlich zugänglich und unterscheiden sich auch kaum von der Vielzahl ähnlicher soziologischer Abhandlungen. Zum Verhängnis wurde ihnen, dass sie ihre Erkenntnisse auch bei Aktivitäten in Bürgerinitiativen und bei ihrer journalistischen Tätigkeit in diversen Publikationen radikaler Gruppierungen einsetzten.
Geboren in der DDR machten beide ihre ersten politischen Erfahrungen während des Zusammenbruchs der DDR in der "Vereinigten Linken", die eng mit dem damals von Ernest Mandel geführten pablistischen Vereinigten Sekretariat zusammenarbeitete.
In den 1990er Jahren waren Andrej H. und Matthias B. zunächst noch in der autonomen und der Hausbesetzerszene Ost-Berlins aktiv, die gegen die Privatisierung kommunalen Wohneigentums, Mieterhöhungen und die Vertreibung der eingesessenen Bevölkerung protestierte. Sie schrieben Artikel für die junge Welt und für den telegraph, eine Zeitung, die unter dem Namen Umweltblätter noch zu DDR-Zeiten gegründet worden war und nach 1990 vor allem die Wiedervereinigung und Aneignung des gesellschaftlichen Vermögens der DDR-Bevölkerung durch die Elite Westdeutschlands kritisierte. Durch die eigene wissenschaftliche Karriere und Familiengründungen entfernten sie sich aber immer mehr von der autonomen Szene.
Andrej H.s Doktorvater Hartmut Häußermann, Professor an der Humboldt-Universität, sagte gegenüber der Online-Ausgabe der Wochenzeitung Die Zeit, Andrej H. habe sich "immer der linken Szene zugerechnet, was ja aber kein Verbrechen ist." Das sah das Bundeskriminalamt aber offensichtlich völlig anders.
Der Paragraph 129a diente seit seiner umstrittenen Einführung im Jahr 1976 weniger der Kriminalitäts- und Terrorismusbekämpfung, als der Ausforschung, Kriminalisierung und Verfolgung unliebsamer Gruppierungen und Bewegungen. Der jüngste Fall geht aber noch einen Schritt weiter.
Das Vorgehen gegen Andrej H. und Matthias B. unterscheidet sich von früheren Verfahren, weil ihnen nicht die unmittelbare Werbung und Unterstützung für die "militante gruppe" vorgeworfen wird, sondern die Verwendung der gängigen Wissenschaftssprache. Mit einer derartigen Argumentation kann praktisch jede wissenschaftliche und journalistische Tätigkeit, die missliebige Fakten und Analysen präsentiert, unter Terrorismusverdacht gestellt werden.
Hartmut Häußermann erklärte gegenüber der Zeit : "Wenn zwischen wissenschaftlicher Demokratiekritik und illegalen Aktivitäten ein direkter Zusammenhang konstruiert wird, wie jetzt bei Andrej H., und uns Wissenschaftlern zur Last gelegt wird, unsere Kritik sei die Grundlage für das terroristische Handeln anderer, dann sind wir doch völlig vogelfrei. Dann dürfen wir doch gar nichts mehr veröffentlichen."
Ähnliches musste auch die World Socialist Web Site schon erfahren, als ihr im Herbst 2003 vom Brandenburger Verfassungsschutz vorgeworfen wurde, terroristischen Aktivitäten den Weg zu ebnen, nur weil bei Schmierereien an der Ausländerbehörde in Frankfurt/Oder ein Artikel der WSWS hinterlegt worden war, der die ausländerfeindliche Politik der damals amtierenden Rot-Grünen Bundesregierung anprangerte.
Derart gegenstandslose und abstruse Verdächtigungen zielen darauf ab, kritische Meinungsäußerungen einzuschüchtern und als geistige Brandstiftung zu denunzieren.
Internationale Proteste
Die Verfolgung von Andrej H. ist weltweit auf Protest gestoßen. Nahezu täglich sind Protestbriefe bei der Generalbundesanwältin Monika Harms eingegangen.
Der Soziologe Hartmut Häußermann initiierte ein Protestschreiben, das mittlerweile über 2.300 Wissenschaftler und Studenten aus ganz Deutschland unterzeichnet haben. Das Schreiben appelliert an die Bundesanwaltschaft, die Unterstellung fallen zu lassen, die wissenschaftlichen Arbeiten von Andrej H. "begründeten eine intellektuelle Täterschaft in einer terroristischen Vereinigung".
Es weist darauf hin, dass eine solche Argumentation "eine fundamentale Bedrohung der Freiheit von Forschung und Lehre" darstellt: "Die Begründungen der Bundesanwaltschaft stellen eine direkte Bedrohung für alle dar, die kritische Wissenschaft, Publizistik und Kunst betreiben und für diese mit ihrem Namen in der Öffentlichkeit einstehen. Kritische Forschung, auch in Verbindung mit sozialem und politischem Engagement, darf nicht zum terroristischen Tatbestand erklärt werden."
Auch die US-amerikanische Soziologenvereinigung American Sociological Association (ASA), die sich äußerst selten zu aktuellen gesellschaftlichen und politischen Debatten äußert, hat auf ihrer diesjährigen Jahrestagung eine Petition verfasst. Dort heißt es unter anderem: "Wir verwahren uns aufs Schärfste gegen den unerhörten Vorwurf, die wissenschaftliche Tätigkeit und das politische Engagement von Andrej H. sei als intellektuelle Mittäterschaft in einer angeblichen terroristischen Vereinigung’ zu bewerten."
Zu den Unterzeichnern gehören u.a. die international renommierten Soziologen Richard Sennett, Saskia Sassen, Mike Davis, Craig Calhoun, Peter Marcuse und die Vorsitzende der ASA, Frances Fox Piven.
Richard Sennett und Saskia Sassen publizierten zudem in der englischen Zeitung Guardian einen Kommentar, in dem das Vorgehen der deutschen Ermittlungsbehörden mit Guantanomo verglichen wird, dem US-Militärgefängnis, in dem Gefangene ohne jede Anklage seit Jahren misshandelt werden. Die Gesetzgebung vormals liberaler Staaten, so schreiben sie weiter, habe einen permanenten Ausnahmezustand geschaffen. "Wie in Guantanamo scheint die Verfolgung an die Stelle der Strafverfolgung getreten zu sein."
Über seinen Rechtsanwalt Wolfgang Kaleck gab der Politologe Matthias B. zusammen mit den zwei weiteren noch auf freien Fuß befindlichen Beschuldigten eine Stellungnahme ab, in der sie das Bundeskriminalamt und den Verfassungsschutz anklagen, sie ohne ihr Wissen ausspioniert und ihre "Privatsphäre bis in intimste Bereiche detailliert ausgeforscht" zu haben.
Weiter heißt es: "So absurd das klingen mag, aber die Folgen für unseren Alltag sind verheerend: Seit einem Jahr werden unsere Telefone abgehört, alle E-Mails überwacht, unsere gesamte Internet-Nutzung protokolliert, unsere Wohnungen werden beobachtet, unsere Bewegungen anhand der Handy-Daten aufgezeichnet. Möglicherweise wurden Spitzel auf uns angesetzt."
Das Vorgehen gegen Andrej H. und die anderen angeblichen Mitglieder der mg steht in engem Zusammenhang mit den Großrazzien, die im Mai und Juni im Vorfeld des G8-Gipfels in Heiligendamm durchgeführt wurden. Damals durchsuchte ein polizeiliches Großaufgebot bundesweit mehrere Dutzend Wohnungen. Bei Vorbereitungstreffen der Gipfel-Gegner wurden außerdem alle Handys registriert, die an den Versammlungsorten eingebucht waren. Auch Andrej H. hatte sich an den Protesten gegen den G8-Gipfel beteiligt, was ihm jetzt ebenfalls zur Last gelegt wird.
Aber schon damals gab es keine konkreten Hinweise auf geplante Anschläge, wie selbst Innenminister Wolfgang Schäuble (CDU) zugeben musste. Trotzdem soll der Öffentlichkeit eingeredet werden, von politischen Gruppen in Deutschland selbst gehe eine akute terroristische Bedrohung aus.
Innenminister Schäuble (CDU) nutzte die Sicherheitshysterie um den G8-Gipfel, um eine weitere Ausweitung der Rechte von Polizei und Geheimdiensten vorzuschlagen. Dabei soll auch der Paragraph 129a durch weitere Straftatbestände ergänzt werden, wie die Tageszeitung Die Welt berichtete. Auch Einzeltäter sollen in Zukunft mit dem Instrumentarium des Terrorparagraphen verfolgt werden können.
Häußermann sagte dazu im Zeit -Interview: "Momentan schaffen einige Politiker das Szenario einer permanenten Bedrohung, um damit permanente Überwachung zu rechtfertigen. ... Kritisches Denken und kritische Aufklärung gibt es dann nicht mehr, weil jeder Gedanke gesammelt und dokumentiert wird und seine Wortführer bis in die Isolationshaft bringen kann."