Neue Lancet -Studie

Amerikas Krieg tötete 655.000 Iraker

Eine am vergangenen Mittwoch im britischen Medizin-Fachjournal The Lancet veröffentlichte Studie geht davon aus, dass die amerikanische Invasion und Besatzung im Irak ungefähr 655.000 Irakern das Leben gekostet hat.

Die Untersuchung zu den irakischen Kriegsopfern führte ein Ärzteteam im Irak unter Leitung von Seuchenspezialisten des Instituts für Gesundheitswissenschaft an der John-Hopkins-Universität in Maryland durch.

Die Forscher kommen auf eine Zahl, die etwa dreizehn Mal höher liegt als die Angaben der britischen Gruppe Iraq Body Count, die von 44.000 bis 49.000 zivilen Opfern ausgeht. Die Schätzung übersteigt auch um fast das Zweiundzwanzigfache die Zahl von "mehr oder weniger" 30.000 Toten, die US-Präsident Bush bei einer Pressekonferenz im Dezember 2005 nannte.

Die geschätzte Anzahl der seit der Invasion getöteten Iraker entspricht 2,5 Prozent der irakischen Gesamtbevölkerung. Dieser Prozentwert würde sich in Bezug auf die US-Bevölkerung mit ihren insgesamt 300 Millionen auf eine absolute Zahl von 7,5 Millionen Menschen belaufen - und entspräche damit praktisch der Gesamtbevölkerung von New York.

Die Zahl von 655.000 Toten repräsentiert die "zusätzlichen" Todesfälle, die durch die amerikanische Invasion und Besatzung verursacht wurden. Sie entspricht dem Unterschied zwischen der Anzahl Todesfälle, die aufgrund von Vorkriegssterbeziffern zu erwarten waren, und den tatsächlichen Todesopfern seit März 2003.

Von der Gesamtzahl der kriegsbedingten Toten starben ungefähr 600.000 Menschen durch Gewalteinwirkung, wozu Erschießungen, Autobomben und andere Explosionen sowie Luftangriffe zählen. Schätzungsweise 31 Prozent oder 186.000 Tode sind nach der Studie unmittelbar den Koalitionskräften zuzuschreiben - das heißt, diese Iraker wurden direkt vom amerikanischen Militär oder dessen Verbündeten getötet. Laut der Studie starben 56 Prozent der Gewaltopfer an Schusswunden - eine ungewöhnlich hohe Zahl, die ebenfalls auf die direkte Beteiligung des US-Militärs hinweist.

Weitere 24 Prozent der kriegsbedingten Todesfälle werden anderen Ursachen zugeschrieben, zum Beispiel den ethnisch oder religiös motivierten Kämpfen und Selbstmordattentaten. Bei 45 Prozent konnten die näheren Todesumstände nicht festgestellt werden.

Diese Zahlen vermitteln einen Eindruck von den Folgen eines ungeheuren Kriegsverbrechens. Der US-Imperialismus hat ein ganzes Land zerstört und einen beträchtlichen Anteil der Bevölkerung getötet, um die gewaltigen Ölreserven des Iraks unter amerikanische Kontrolle zu bekommen und die Vorherrschaft im Nahen Osten zu übernehmen. Der Lancet -Bericht ist nicht nur eine Anklage gegen die Bush-Regierung, sondern gegen das gesamte politische Establishment in den Vereinigten Staaten.

Die tödlichen Konsequenzen der Invasion im Irak waren vorhersehbar. Der amerikanische Angriff hat eine gesellschaftliche Katastrophe von historischen Ausmaßen hervorgebracht.

Ganz abgesehen von den Lügen über Massenvernichtungswaffen und über eine irakische Verbindung zu al Qaida, widerlegt dieser von den USA verursachte Albtraum aus Tod und Zerstörung auch sämtliche anderen Behauptungen, die zur Rechtfertigung des Kriegs angeführt wurden. Es ging niemals darum, die irakische Bevölkerung zu befreien oder einen Krieg für Demokratie und Freiheit zu führen.

Dem Bericht zufolge hat die US-Intervention im Verlauf von dreieinhalb Jahren mehr als doppelt so viele Iraker getötet wie das Regime von Saddam Hussein im Verlauf seiner 24-jährigen Herrschaft. Nach Schätzungen von Human Rights Watch beläuft sich die Gesamtzahl der Todesopfer, die die gestürzte Regierung der Baath Partei zu verantworten hat, auf 250.000 bis 290.000 Menschen.

Die Besatzungstruppen sind nicht nur verantwortlich für die Todesfälle, die sie direkt verursacht haben, sondern auch für all die Gewalt, die durch die Invasion entfesselt wurde. Die amerikanische Taktik, abwechselnd verschiedene Bevölkerungsgruppen zu unterstützen und sie gegeneinander aufzuhetzen, hat im letzten Jahr zu einer scharfen Zunahme der ethnisch-religiös motivierten Gewalt geführt. Verantwortlich für all diese Toten und zahllosen Verletzten ist letztlich die Entscheidung, den Krieg zu führen.

55.000 weitere Tode ohne Gewalteinwirkung sind nach der Studie auf Herzinfarkte, Krebs, eine erhöhte Kindersterblichkeit und andere Krankheiten zurückzuführen. Diese Zunahme steht in unmittelbarem Zusammenhang mit der Zerstörung der sozialen Infrastruktur im Irak, wie zum Beispiel dem Mangel an sanitären Anlagen und der fehlenden oder eingeschränkten Versorgung mit Strom, sauberem Trinkwasser, Medikamenten und medizinischer Ausstattung.

Wie nicht anders zu erwarten war, reagierte die Bush-Regierung umgehend mit einer Mischung aus Verachtung und Gleichgültigkeit auf den Bericht im Lancet. Anlässlich einer Pressekonferenz am 11. Oktober bezeichnete Bush die Größenordnung von 655.000 Toten als "unglaubwürdig" und sagte, es gebe Zweifel an der Untersuchungsmethode. Er ersparte sich jede weitere Erläuterung, warum der Bericht wertlos sei.

Das Pentagon seinerseits erklärte, dass die US-Regierung "den Verlust jedes unschuldigen Lebens im Irak und anderswo bedauert". Diese rein formale und inhaltsleere Stellungnahme zeigt in Wirklichkeit die totale Gleichgültigkeit des amerikanischen Militärs. Das Pentagon behauptete außerdem, "es würde den USA schwer fallen, die exakte Zahl derjenigen Zivilisten zu bestimmen, die im Irak infolge der Aktivitäten von Aufständischen getötet wurden".

Wie fast alle anderen offiziellen amerikanischen Erklärungen zu Toten im Irakkrieg weist auch diese Stellungnahme die Schuld an den irakischen Todesopfern ausschließlich dem Widerstand zu und nicht der Gewalt, die von den Vereinigten Staaten und ihrem Militär ausgeht. Das ist lediglich eine weitere Lüge, um den Krieg zu rechtfertigen.

Seit der Invasion weigert sich die amerikanische Regierung, Zahlenmaterial zu den Todesopfern herauszugeben, die sie zu verantworten hat. Die irakische Regierung von Amerikas Gnaden setzt die Zahl der Todesopfer systematisch zu gering an. Sie verschleiert sie, je mehr die US-Angriffe zunehmen und immer mehr Menschen durch Todesschwadronen und Selbstmordattentate ihr Leben verlieren. Seit Anfang September hindert die irakische Regierung unter Ministerpräsident Nuri al Maliki das Bagdader Leichenschauhaus und das Gesundheitsministerium daran, eigene Berichte über Todesfälle zu veröffentlichen.

Die Studie im Lancet ist von allen verfügbaren Schätzung zum Sterben im Irak die glaubwürdigste und methodisch einwandfrei. Die Zahl von 655.000 Toten übertrifft bei weitem die Ergebnisse anderer Erhebungen, auch der von Iraq Body Count, wo nur die Toten aufgenommen werden, die in der Presse Erwähnung finden. Durch diese Methode wird bekanntlich die tatsächliche Zahl der Todesfälle weit unterschätzt, denn über die meisten berichtet die Presse nicht. Auch berücksichtigt Iraq Body Count nur getötete Zivilisten, während der Bericht im Lancet alle Toten umfasst.

Die Washington Post zitierte in einem Artikel vom Mittwoch verschiedene Wissenschaftler, die die Studie und ihre Ergebnisse als zuverlässig beurteilen. So der Epidemiologe Ronald Waldman von der Universität Columbia, der die Untersuchungsmethode als "bewährt und korrekt" bezeichnete und zu den Ergebnissen sagte, es sei die "beste Schätzung zur Mortalitätsrate [im Irak], die wir haben". Sarah Leah Whitson von Human Rights Watch sagte, es gebe "keinen Grund", die Ergebnisse des Berichts in Zweifel zu ziehen.

Die Washington Post merkte an: "Sowohl diese als auch die frühere [John-Hopkins-] Studie sind die einzigen, welche die Mortalitätsrate im Irak auf der Basis wissenschaftlicher Methoden angeben. Die als ‚cluster sampling’ bezeichnete Technik wird zur Schätzung der Sterbeziffer bei Hungersnöten und nach Naturkatastrophen angewendet."

Die Forscher ermittelten den Schätzwert, indem sie Bevölkerungsstichproben aus verschiedenen Gebieten des Iraks nahmen und bei den zufällig ausgewählten Haushalten eine Erhebung zur Zahl der Verstorbenen seit der Invasion des Irak im März 2003 durchführten. Insgesamt wurden 1.849 Haushalte aufgesucht und jeweils ein Familienmitglied gebeten, über Todesfälle in der Familie zu berichten, die sich im Zeitraum von vierzehn Monaten vor der Invasion bis zum Tag der Erhebung ereignet hatten.

Um die angegebenen Todesfälle zu verifizieren, verlangten die Interviewer in 87 Prozent der Fälle einen Blick auf die Sterbeurkunden. 92 Prozent der Befragten konnten die erbetenen Dokumente vorlegen.

Nach einer Berechnung der Todesfälle, die sich nach der Invasion in den ausgewählten Haushalten ereigneten, wurde diese Zahl für eine Hochrechnung zur Gesamtzahl der Toten in der Bevölkerung benutzt. Auf der Grundlage von Sterbeziffern vor der Invasion ermittelten die Wissenschaftler die zu erwartenden Todesfälle für denselben Zeitraum. Die Differenz zwischen diesen beiden Zahlen ergab die "zusätzliche Zahl" an Toten, die Invasion und Okkupation verursacht haben. Die Zahl von 655.000 ist ein Mittelwert. Wie die Forscher angeben, besteht eine Wahrscheinlichkeit von 95 Prozent, dass die tatsächliche Zahl der Todesfälle zwischen 393.000 und 943.000 liegt.

Selbst wenn man davon ausgeht, dass die niedrigste Zahl der Schätzung zutrifft, ist die Sterberate erschütternd. Das amerikanische Militär wäre demnach für mehr als 110.000 gewaltsame Tode unmittelbar verantwortlich.

Schon einmal wurde behauptet, dass die Untersuchungsmethode der Forscher an der John-Hopkins-Universität nicht solide sei; um einen frühere Studie zu diskreditieren, die auf ein Mehr an 100.000 Toten zwischen März 2003 und September 2004 gekommen war. Die neue Studie liefert eine unabhängige Bestätigung dieser Zahl, da sie auf der Grundlage ihrer eigenen Zufallsstichprobe für den gleichen Zeitraum auf einen Wert von 112.000 Toten gelangt.

Als Bush sich auf der schon erwähnten Pressekonferenz nach einer Frage zum Lancet -Artikel äußerte, strotzte seine Stellungnahme vor Dummheit, Gleichgültigkeit und imperialer Arroganz. Bush bestätigte, dass "viele Unschuldige gestorben sind", und sprach dem irakischen Volk Anerkennung "für seinen Mut angesichts der Gewalt" aus.

"Dies ist eine Gesellschaft, die sich so sehr die Freiheit wünscht, dass sie ein bestimmtes Maß an Gewalt bereitwillig erträgt", sagte Bush. Das genaue Gegenteil ist wahr. Die Gewalt ist ein Ergebnis der kolonialen Unterwerfung einer Bevölkerung, die in ihrer überwältigende Mehrheit gegen die Anwesenheit fremder Truppen im Irak ist. Jüngste Meinungsumfragen haben ergeben, dass mindestens sechzig Prozent der Bevölkerung Angriffe auf amerikanische Militärkräfte gutheißen.

Gleichzeitig deutete Bush an, dass in der nächsten Zeit noch mehr gestorben wird. Er erklärte, es sei "Zeit für die irakische Regierung, sich für die Sicherheit von Stadtteilen ins Zeug zu legen" - ein Hinweis darauf, dass die Vereinigten Staaten verlangen, den irakischen Widerstand, besonders die anti-amerikanischen Schiitenmilizen, gewaltsam niederzuschlagen. Am ersten Oktoberwochenende führten US-Einheiten eine größere Aktion in Diwanijah durch; ihr Eingreifen in dieser Stadt südlich von Bagdad richtete sich gegen die Einheiten des schiitischen Geistlichen Muktada al Sadr.

Am 11. Oktober erklärte die US-Armee, sie plane die aktuelle Truppenstärke bis zum Jahr 2010 aufrechtzuerhalten. Armeestabschef Peter Schoomaker sagte, diese Entscheidung solle sicherstellen, dass "wir weiter schießen können, solange sie uns dazu provozieren".

Washington hat angebliche Tötungen durch andere Regierungen schon oft als Vorwand benutzt, um militärisch gegen diese Länder loszuschlagen. Die Clinton-Regierung und die Medien hatten beispielsweise im Frühjahr 1999 stark übertriebene und vollkommen haltlose Behauptungen über serbische Morde an Kosovo-Albanern benutzt, um einen amerikanische Bombenkrieg gegen das ehemalige Jugoslawien zu rechtfertigen. Damals kursierten Zahlen von hundert- bis zweihunderttausend Toten, und dem Regime von Slobodan Milosevic wurde rundweg ein Völkermord angehängt.

Nach dem Ende des Luftkriegs erklärte das Kriegsverbrechertribunal jedoch, die Zahl der Kosovo-Albaner, die durch serbische Angriffe sowie durch Nato-Bombardements getötet wurden, liege bei etwa zwei- bis dreitausend. Diese Zahl wirkt geradezu verschwindend gering verglichen mit der Sterberate, die der amerikanische Krieg im Irak verursacht hat. Aber niemand im politischen Establishment der USA spricht von Völkermord - weder Vertreter der zwei etablierten Parteien noch die Medien.

Milosevic wurde damals auf Geheiß Washingtons vor das Haager Kriegsverbrechertribunal gestellt. Aber jeder würde als Verräter gelten, der heute vorschlägt, Bush und die Architekten seiner Politik - Cheney, Rumsfeld, Rice, Powell, Wolfowitz - einem ähnlichen Schicksal zuzuführen, weil sie einen Angriffskrieg gegen den Irak vom Zaun gebrochen haben.

Das Ausmaß an Tod und Zerstörung im Irak wird vor der amerikanischen Bevölkerung systematisch verheimlicht, und daran wirken sowohl die Massenmedien als auch die Demokratische Partei mit.

Sehr wenig wird über die jüngsten Militäraktionen im Irak berichtet, und zwar sowohl in Bezug auf schiitische wie auf sunnitische Gebiete. Amerikanische Soldaten haben Razzien in ganzen Stadtteilen durchgeführt und eine unbekannte Anzahl von Menschen festgenommen. Wie viele tausend Menschen sind während der jüngsten Welle militärischer Aggression getötet worden? Ohne unabhängige Berichte über das Geschehen kann man das unmöglich wissen.

Das Schweigen der Medien und beider Parteien zeigt die Verachtung der herrschenden Elite in den Vereinigten Staaten für das menschliche Leben überhaupt und das Leben der Iraker im Besonderen.

Die Haltung der Bush-Regierung und der Demokraten steht in scharfem Gegensatz zur Stimmung breiter Schichten der US-Bevölkerung. Diese reagieren auf die Brutalität, die im Namen des amerikanischen Volkes verübt wird, immer stärker mit Abscheu, Scham und Entsetzen.

Die einzige Partei, die bei den Kongresswahlen im November diese wachsende Opposition vertritt, ist die Socialist Equality Party (SEP). In ihrem Wahlprogramm ruft die SEP dazu auf, alle amerikanischen Soldaten unverzüglich und bedingungslos aus dem Irak abzuziehen, was die erste Vorbedingung ist, um das anhaltende Blutbad zu beenden.

Die SEP fordert, die Verantwortlichen für diesen Krieg als Kriegsverbrecher zu behandeln. In ihrem Wahlprogramm heißt es außerdem, dass die US-Regierung Entschädigung zahlen muss: an das irakische Volk für die Zerstörung und das Leiden, das die Vereinigten Staaten verursacht haben, wie auch an die Familien der amerikanischen Soldaten, die im Krieg getötet wurden, und die Männer und Frauen, die der Krieg körperlich und geistig geschädigt hat.

Der Krieg im Irak wird im Interesse der herrschenden Elite Amerikas geführt, nicht im Interesse der amerikanischen Bevölkerung. Die SEP ruft dazu auf, mit den beiden unternehmerfreundlichen Parteien zu brechen und eine neue sozialistische Arbeiterpartei aufzubauen. Ein Kampf gegen imperialistischen Krieg kann nur dann geführt werden, wenn sich in den USA eine sozialistische Massenbewegung gegen das kapitalistische Zweiparteiensystem entwickelt.

Wer gegen die Besatzung des Iraks ist, sollte seine Stimme den SEP-Kandidaten geben, wo diese zur Wahl antreten. Studiert unser Programm, spendet für unseren Wahlfond und nehmt Kontakt mit der SEP auf, um an unserem Wahlkampf teilzuhaben. Tretet der SEP bei und unterstützt uns im Kampf für eine sozialistische Alternative zu Krieg und gesellschaftlichem Rückschritt.

Siehe auch:
Provokative US-Angriffe auf Schiitenmiliz im Irak
(17. Oktober 2006)
Folgt auf US-Wahlen ein Putsch im Irak?
( 7. Oktober 2006)
Festhalten an der Irak-Lüge: Bush und Cheney ignorieren Senatsbericht über Widerlegung der Irak-al Qaida-Verbindung
( 19. September 2006)
Für eine sozialistische Alternative in den US-Wahlen 2006 - Erklärung der Socialist Equality Party (USA)
( 19. Januar 2006)
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