Politische Spannungen verschärfen sich im östlichen Tiefland von Bolivien. Die erdgasreichen Provinzen Santa Cruz, Tarija, Beni und Pando, die vom bolivianischen Landadel, der Agrarindustrie und Gasinteressen beherrscht werden, stellen die Forderung nach größerer regionaler Autonomie auf und drohen damit indirekt mit einer Abspaltung vom Zentralstaat.
In dieser Region stieß der Gedanke einer Landreform oder der Verstaatlichung von Bodenschätzen schon immer auf starke Ablehnung. Diese Ablehnung hat noch zugenommen, seit Präsident Evo Morales am 3. Juni dieses Jahres 24.864 Quadratkilometer Regierungsland an landlose Bauern verteilte, obwohl bei dieser Landvergabe private Eigentumsrechte nicht im Mindesten angetastet wurden. Morales’ Maßnahme war nur eine Geste gegenüber seiner völlig verarmten Wählerbasis; sein leeres Versprechen vom 1. Mai, die Erdgasvorkommen zu verstaatlichen, hatte den gleichen Charakter. Die Landverteilung wurde als erste Phase eines forschen Planes präsentiert, nach dem private Ländereien an Millionen landlose Bauern zu verteilen sind.
Obwohl diese Landverteilung völlig harmlos war, provozierte sie den Zorn der mächtigen Agrarindustrie, die das östliche Tiefland beherrscht. Diese Agrarindustriellen werden in der Presse immer irreführend als "Bauern" bezeichnet. Diese "Bauern" argumentieren jetzt, die an die Landlosen vergebenen Ländereien in ihrer Umgebung liefen Gefahr, entwaldet zu werden, was die Produktivität ihres Landes beeinträchtigen werde. In Wirklichkeit befürchten sie in erster Linie, dass die Empfänger des verteilten Landes - verarmte indigene Bauern aus dem westlichen Hochland - die politischen Mehrheitsverhältnisse in der Region verändern und schließlich möglicherweise ein eigenes, erweitertes Landverteilungsprogramm durchsetzen könnten - mit oder ohne Zustimmung von Morales und seiner Partei MAS.
Unmittelbar nach der Landverteilung verurteilten die Interessenvertreter der Agrarindustrie Morales’ "ideologisches Vorgehen" und warfen im vor, "ausländischen Einfluss" auf die Politik des Landes zuzulassen, weil er sich mit Venezuelas Nationalem Landinstitut beraten hatte. Reaktionäre Grundbesitzerkreise in Santa Cruz reagierten auf die Schenkung vom 3. Juni mit der Drohung, bewaffnete "Selbstverteidigungsgruppen" zu bilden. Morales verurteilte die privaten bewaffneten Truppen als illegal, versuchte aber, seine Gegner mit dem Versprechen zu beruhigen, er werde ihre Forderung nach Autonomie prüfen.
Bei seiner Wahl im Januar hatte Morales eine Verfassungsreform durch eine gewählte Volksversammlung angekündigt. Im Juni führte die MAS Wahlkampf, um in dieser Versammlung die Mehrheit zu erlangen und die Verfassung entsprechend ihres Programms zu gestalten. Die Versammlung begann ihre Beratungen am 6. August, geriet aber bald über die Frage ins Stocken, welche Mehrheit erforderlich sein soll, um den endgültigen Verfassungsentwurf zu verabschieden.
Die MAS verfügt über eine Mehrheit von sechzig Prozent in der Versammlung und damit über wesentlich weniger Gewicht, als vorher erwartet wurde. Mittlerweile vertritt die Partei den Standpunkt, dass der Entwurf mit einfacher Mehrheit zu verabschieden sei, was ihr erlauben würde, entscheidenden Einfluss auf die künftige Verfassung zu nehmen. Dieser Versuch, die für Verfassungsfragen übliche Zweidrittelmehrheit zu umgehen, hat den Zorn der ökonomisch mächtigen Ostprovinzen weiter angeheizt.
Santa Cruz und seine Vertreter in der Verfassungsversammlung - in erster Linie von der rechten Partei Podemos - verlangen jetzt, die Landreform von ihrer eigenen Regionalverwaltung umsetzen zu lassen. Sie soll nur ihren eigenen landlosen Bauern aus der Region zu Gute kommen. Sie wollen im Wesentlichen die Umverteilung ihres Landes selber kontrollieren. Die Verabschiedung der Verfassung mit einfacher Mehrheit würde praktisch ihre Versuche zunichte machen, die dringend erforderliche Landreform auf juristischem Wege abzuwenden. In der Zwischenzeit haben gewalttätige Zusammenstöße im Kampf um Land zugenommen, und es ist auch schon zu vereinzelten Landbesetzungen organisierter Gruppen von landlosen Bauern gekommen, die unabhängig von der MAS vorgehen. Neunzig Prozent des Landes in Bolivien befindet sich in der Hand von 50.000 Familien.
Am Freitag, den 8. September organisierten die Oppositionsführer der Ostprovinzen eine 24-stündige Blockade der Regierung in vier der neun bolivianischen Provinzen - in Santa Cruz, Tarija, Beni and Pando. Die regionale Elite verfügte einen Streik von oben, indem sie Verkehr und Handel lahm legte. Wie zu erwarten, nahmen die Regionalführer die Gasexporte von dem Streik aus. Der "Streik" wirkte sich am meisten in Santa Cruz aus, der wirtschaftlich stärksten und am höchsten entwickelten Provinz des Landes. Santa Cruz verfügt über den Löwenanteil an den Gasvorkommen und produziert ein Drittel des Reichtums Boliviens.
Morales warf mehreren Oppositionspolitiker und regionalen Interessengruppen vor, gemeinsam mit internationalen Öl- und Gaskonzernen hinter dem Streik zu stecken. Am 20. September kam es in Santa Cruz aus zu Demonstrationen und Straßensperren, die sich gegen die Manöver richteten, mit denen die Opposition die Landverteilung sabotieren will.
Die an Brasilien grenzenden östlichen Provinzen verfügen nach Venezuela über die größten Gasvorkommen Lateinamerikas, aber Bolivien ist nach wie vor das ärmste Land in Südamerika. Mehr als ein Drittel der Bevölkerung leidet den Vereinten Nationen zufolge an Unterernährung. Die Bevölkerung des westlichen Hochlands ist am stärksten von Armut betroffen.
Die östliche Tiefebene ist nicht nur reich an Gas, dort befindet sich auch das fruchtbarste Land. 75 Prozent der Bolivianer leben in diesen Provinzen. Ohne die natürlichen Reichtümer dieser Region wäre jede Landreform oder Verstaatlichung der Gasindustrie sinnlos.
Brasilianische Muskelspiele
Morales musste zusehen, wie die öffentliche Zustimmung zu seiner Regierung in den ersten hundert Tagen ihrer Amtszeit von achtzig auf fast sechzig Prozent schrumpfte. Er reagierte auf den wachsenden Druck, indem er am 1. Mai großspurig ankündigte, die Energieindustrie Boliviens zu verstaatlichen.
Gleichzeitig inszenierte er eine Show und ließ 56 Erdgasfelder, die von einem Konsortium unter Führung des spanischen Konzerns Repsol YPF und British Petroleum ausgebeutet werden, von Truppen besetzen. Obwohl Repsol auf dem bolivianischen Gasmarkt stark vertreten ist, spielt das Unternehmen im Vergleich zum brasilianischen Exporteur Petrobras nur eine Nebenrolle.
Petrobras ist durch seine Steuerzahlungen nicht nur die größte Einnahmequelle der bolivianischen Regierung, der Konzern raffiniert auch neunzig Prozent des bolivianischen Öls und kontrolliert dadurch Schlüsselbereiche der Wirtschaft wie zum Beispiel die Benzinversorgung. Im März war Petrobras von einem Plan zurückgetreten, fünf Milliarden Dollar in die Entwicklung der bolivianischen Gasinfrastruktur zu stecken, weil die Politik der bolivianischen Regierung dem Unternehmen zu unwägbar schien. Dennoch konnte der Konzern seine Geschäfte ungehindert fortsetzen.
In Brasilien wird seit 1990 Strom nicht nur aus Wasserkraft, sondern auch aus Erdgas gewonnen. Fast die Hälfte des brasilianischen Erdgasbedarfs stammt aus Bolivien und gelangt durch eine über dreitausend Kilometer lange Pipeline ins Land, deren Bau zum größten Teil von Petrobras finanziert wurde. In geringerem Ausmaß ist auch die argentinische und chilenische Volkswirtschaft von bolivianischem Erdgas abhängig. Zwar hat Petrobras auch in Brasilien Gasvorkommen entdeckt, die nach Expertenmeinung die Abhängigkeit vom bolivianischen Gas verringern könnten, doch muss für die Förderung erst eine Infrastruktur geschaffen werden, deren Aufbau ebenso kostspielig wie langwierig ist.
In seiner Rede vom 1. Mai erklärte Morales pompös: "Die Zeit ist gekommen, der lang ersehnte Tag, ein historischer Tag, an dem Bolivien die absolute Kontrolle über seine Bodenschätze übernimmt.... Der Raubzug ausländischer Konzerne ist zu Ende." Darauf forderte er von den Konzernen, die täglich über 25 Millionen Kubikmeter Erdgas fördern, 82 Prozent ihrer Gasprofite abzutreten. Er räumte allen Konzernen einen Zeitrahmen von sechs Monaten ein, um den Bedingungen zuzustimmen, andernfalls müssten sie Bolivien verlassen.
Auch wenn sich Morales nach seiner Ankündigung monatelang als Revolutionär gebärdete, haben ausländische Firmen keine Mühe, das Verstaatlichungsdekret zu umschiffen. Die Profite bleiben unberührt. Während Morales sich darauf konzentrierte, aus seinem Privathaus eine nationale Gedenkstätte zu machen und eine Briefmarke zur Feier seiner Präsidentschaft zu kreieren, gab sein Energieminister Andrés Soliz Rada laut der chilenischen Zeitung El Mercurio bekannt, der mit der Nationalisierung der Erdgasvorkommen beauftragte Staatskonzern Yacimientos Petrolíferos Fiscales Bolivianos (YPFB) könne ohne millionenschwere Investitionen in die Infrastruktur unmöglich weiterarbeiten. Im August berichtete La Razon, die Tageszeitung der Hauptstadt La Paz, über ein weiteres Absinken der Umfragewerte für Morales, dieses Mal um sieben Punkte auf den Tiefstand von 61 Prozent.
Die Regierung nahm schließlich am 5. September Gespräche mit Petrobras auf, die ähnlich wie die verfassungsgebende Versammlung schnell an einen toten Punkt gelangten. Am 13. September unternahm La Paz die ersten ernsthaften Schritte in Richtung Verstaatlichung der Gasindustrie. Energieminister Soliz gab ein Dekret heraus, nach dem die Regierung festlegt, wie viel die ausländischen Konzerne von den Profiten aus ihren bolivianischen Operationen behalten dürften.
Diese Ankündigung provozierte sofort eine wütende Reaktion von Petrobras und dessen größtem Anteilseigner, der brasilianischen Regierung. Der brasilianischer Präsident Luiz Inácio Lula da Silva war außer sich wegen des Dekretes, das er "extrem" und "einseitig" nannte. Petrobras drohte, sofort alle Investitionen in Bolivien zu beenden, wenn der Erlass nicht außer Kraft gesetzt werde.
Am nächsten Tag ging der bolivianische Vizepräsident Alvaro Garcia Linera untertänig vor Petrobras in die Knie und gab bekannt, die Regierung werde das Dekret von Soliz aussetzen. Die Kapitulation zwang Soliz und drei andere Regierungspolitiker zum Rücktritt, wie La Razon berichtete.
Am 19. September garantierte Morales laut Bloomberg ausländischen Investoren das Recht, in Bolivien Profite zu machen. Zurzeit befindet sich Vizepräsident Garcia Linera in der US-Hauptstadt Washington, wo er mit dem amerikanischen Kongress und dem Außenministerium Gespräche über Handelsfragen führt.
Vom ersten Tag an standen Morales und die MAS-Führung unter einem gewaltigem Druck, die Versprechen einzulösen, die ihnen die Stimmen einer Mehrheit der indigenen und armen Bevölkerung Boliviens eingebracht hatten: Landreform, Verstaatlichung der Gasindustrie und größere soziale Investitionen. Vieles weist darauf hin, dass die Wähler Morales trotz seines populistischen Auftretens zunehmend skeptisch betrachten und immer stärker bezweifeln, dass er seinen Versprechen nachkommen wird.
Angesichts seines raschen Nachgebens gegenüber Brasilien in der Gasfrage scheint es mehr als wahrscheinlich, dass Morales auch vor den separatistischen Drohungen der herrschenden Schichten in Santa Cruz einknicken und jede wirkliche Landreform fallen lassen wird. Wenn Morales jedoch dieser Grundbesitzerschicht nachgibt, riskiert er seinen Sturz durch eine Revolte der verzweifelten bolivianischen Arbeiter und Armen - wie es bereits mehreren seiner Vorgänger ergangen ist.