60 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und 15 Jahre nach der Wiedervereinigung des geteilten Deutschlands steigt das deutsche Militär wieder selbstbewusst in den Kampf um die Neuaufteilung der Welt ein. Das ist die Kernaussage des "Weißbuchs zur Sicherheitspolitik Deutschlands und zur Zukunft der Bundeswehr", das die Bundesregierung Ende Oktober veröffentlicht hat.
Auf 150 Seiten legt das Weißbuch die Ziele der deutschen Sicherheitspolitik dar und leitet daraus Schlussfolgerungen für die Aufgaben und die Struktur der Bundeswehr ab. Seit 1970 sind wiederholt derartige Weißbücher erschienen, das letzte 1994 unter der Regierung von Helmut Kohl (CDU). Doch seither hat sich, wie es in der Neuauflage einleitend heißt, "das internationale Umfeld tiefgreifend verändert". Daraus zieht das neue Weißbuch weitgehende Konsequenzen.
Von Landesverteidigung im traditionellen Sinne - der Abwehr eines äußeren Angriffs auf das eigene Territorium - ist kaum mehr die Rede. Das Weißbuch beruft sich zwar weiterhin auf die "Werte des Grundgesetzes", das einen Angriffskrieg ausdrücklich verbietet. Doch die "Sicherheitspolitik Deutschlands" wird in einer Weise definiert, die präventive Militärschläge, die Einmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Länder und die gewaltsame Verteidigung wirtschaftlicher Interessen ausdrücklich mit einschließt.
Für "eine wirksame Sicherheitsvorsorge" bedürfe es "eines präventiven, effektiven und kohärenten Zusammenwirkens im nationalen wie internationalen Rahmen, einschließlich einer wirksamen Ursachenbekämpfung", heißt es schon in der Einleitung. "Dies erfordert, Risiken und Bedrohungen für unsere Sicherheit vorzubeugen und ihnen rechtzeitig dort zu begegnen, wo sie entstehen."
Zu den "Interessen unseres Landes", die es mit den Mitteln der Sicherheitspolitik zu wahren gelte, zählt das Weißbuch unter anderem die Vorbeugung gegen "regionale Krisen und Konflikte", die Begegnung "globaler Herausforderungen, vor allem der Bedrohung durch den internationalen Terrorismus und die Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen", sowie die Förderung des "freien und ungehinderten Welthandels als Grundlage unseres Wohlstands".
Später wird noch ausführlicher auf den präventiven und globalen Charakter der neuen Sicherheitspolitik eingegangen: "Deutsche Sicherheitspolitik ist vorausschauend. Die neuen Risiken und Bedrohungen für Deutschland und Europa haben ihren Ursprung in regionalen und globalen Entwicklungen oftmals weit jenseits des europäischen Stabilitätsraums. Sie sind vielgestaltig, dynamisch und breiten sich aus, wenn ihnen nicht frühzeitig entgegengewirkt wird. Sicherheitsvorsorge kann daher am wirksamsten durch Frühwarnung und präventives Handeln gewährleistet werden und muss dabei das gesamte sicherheitspolitische Instrumentarium einbeziehen."
Zu diesem sicherheitspolitischen Instrumentarium zählt das Weißbuch neben diplomatischen, wirtschaftlichen und entwicklungspolitischen "polizeiliche und militärische Mittel" und, "wenn geboten, auch bewaffnete Einsätze".
Die Bundesregierung nimmt sich damit das Recht heraus, auf der ganzen Welt militärisch zu intervenieren, wenn sie dies im eigenen Interesse für geboten hält. Grundsätze wie staatliche Souveränität und Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Länder, die für die internationalen Beziehungen lange Zeit als grundlegend galten, wirft sie kurzerhand über Bord. Sie werden im Weißbuch nicht erwähnt. Mit der Befürwortung präventiver Militärschläge rechtfertigt sie implizit auch Angriffskriege, obwohl diese seit den Nürnberger Prozessen als Kriegsverbrechen gilt.
Das Weißbuch der Bundesregierung unterscheidet sich in dieser Hinsicht nicht von der Bush-Doktrin, der Nationalen Sicherheitsstrategie, mit der sich die Bush-Administration 2002 zu präventiven Militärschlägen bekannt und den völkerrechtswidrigen Krieg im Irak gerechtfertigt hatte.
Die deutsche Regierung legt im Gegensatz zur amerikanischen zwar Wert auf internationale Bündnisse. Das ganze zweite Kapitel des Weißbuchs ist diesem Thema gewidmet - der Rolle von Nato, EU, OSZE und Vereinten Nationen. Doch die Zustimmung internationaler Organisationen verändert den Charakter präventiver Kriege nicht. Sie dienen auch dann imperialistischer Interessen, wenn sie den Segen der Vereinten Nationen, der EU oder der Nato haben.
Die deutsche Regierung legt vor allem deshalb Wert auf internationale Unterstützung, weil sie weder über die wirtschaftliche noch über die militärische Stärke verfügt, um ihre Interessen im Alleingang militärisch zu verfolgen. Nachdem Deutschland zwei Weltkriege verloren hat, fürchtet sie nichts so sehr wie die internationale Isolation.
Das Weißbuch gibt sich wenig Mühe, die imperialistische Zielsetzung der neuen Militärdoktrin zu bemänteln. Es enthält zwar wohlklingende Formeln über "Achtung der Menschenrechte und Stärkung der internationalen Ordnung auf der Grundlage des Völkerrechts" oder über das Ansinnen, "die Kluft zwischen armen und reichen Weltregionen überwinden zu helfen". Doch dann wird unmissverständlich Anspruch auf eine deutsche Großmachtrolle erhoben: "Aufgrund seiner Größe, Bevölkerungszahl, Wirtschaftskraft und seiner geografischen Lage in der Mitte des Kontinentes fällt dem vereinigten Deutschland eine wichtige Rolle bei der künftigen Gestaltung Europas und darüber hinaus zu."
Auch die Wirtschaftsinteressen, die hinter der neuen Sicherheitspolitik stehen, werden offen formuliert: "Deutschland hat aufgrund seiner immer engeren Verflechtung in der Weltwirtschaft besonderes Interesse an internationaler Stabilität und ungehindertem Warenaustausch. Wie viele andere Länder ist es in hohem Maße von einer gesicherten Rohstoffzufuhr und sicheren Transportwegen in globalem Maßstab abhängig."
Umbau der Bundeswehr
Um weltweit militärisch präsent sein zu können, wird die Bundeswehr völlig umgebaut und auf internationale Einsätze und deren logistische Unterstützung ausgerichtet. Dieser Prozess ist bereits weit fortgeschritten. "Über 200.000 Soldaten waren bereits im Auslandseinsatz", brüstet sich das Weißbuch.
Die Streitkräfte werden in drei Kategorien gegliedert: Eingreif-, Stabilisierungs- und Unterstützungskräfte.
Die Eingreifkräfte umfassen zukünftig 35.000 Soldaten. Es handelt sich um Spezialkräfte, "die zu besonders reaktionsschnellen Operationen in der Lage sind". Die Stabilisierungskräfte mit seiner Soll-Stärke von 70.000 Mann sind "für multinationale, streitkräftegemeinsame militärische Operationen niedriger und mittlerer Intensität und längerer Dauer im breiten Spektrum friedensstabilisierender Maßnahmen vorgesehen".
Die restlichen 147.500 Soldaten gehören zu den Unterstützungskräften. Ihre Aufgabe besteht darin, "Eingreif- und Stabilisierungskräfte in der Einsatzvorbereitung und -durchführung, sowohl in Deutschland als auch in den Einsatzgebieten, umfassend und effizient zu unterstützen".
Insgesamt soll die Bundeswehr in der Lage sein, "gleichzeitig bis zu 14.000 Soldatinnen und Soldaten, aufgeteilt auf bis zu fünf verschiedene Einsatzgebiete", einzusetzen.
Für diese Umstellung sind umfangreiche Investitionen in kostspielige High-Tech-Waffensysteme notwendig. Im Bundeshaushalt 2006 beläuft sich der Posten Verteidigung auf 27,87 Milliarden Euro; er ist damit der zweitgrößte Einzelposten im Haushalt. Der Wehretat für das kommende Jahr sieht noch einmal 480 Millionen Euro mehr vor. Zum ersten Mal seit 14 Jahren steigt damit der Verteidigungshaushalt.
Dieser widerspiegelt allerdings die realen Kosten des Militärs und der Investitionen nur bedingt. So werden zum Beispiel die Kosten für den Libanoneinsatz, die Verteidigungsminister Jung auf 147 Millionen schätzt, außerhalb des Verteidigungsetats abgerechnet. Einen Großteil der Investitionen in neue Waffensysteme will man außerdem durch Umschichtungen innerhalb des Wehretats gewinnen. So werden beispielsweise die Personalkosten durch den Abbau von 42.000 Stellen beim derzeit 117.000 Personen umfassenden Zivilpersonal erheblich gesenkt.
Zudem wird die gesamte Führungs- und Kommandoebene umstrukturiert. Die so genannte "vernetzte Operationsführung" verbindet "ressortübergreifend" zahlreiche "relevanten Personen, Truppenteile, Einrichtungen, Aufklärungs- und Waffensysteme". Nicht mehr die klassische Duellsituation auf dem Gefechtsfeld stehe künftig im Vordergrund, "sondern das Ziel, auf der Basis eines gemeinsamen Lageverständnisses Informations- und Führungsüberlegenheit zu erlangen", und zwar mittels digitaler Informationsübertragung und eines eigenen Satelliten. Ziel sei dabei neben dem "Erfolg auf dem Gefechtsfeld auch die Einwirkung auf die Willensbildung des Gegners".
Seit dem ersten Golfkrieg 1990–1991 führen die Vereinigten Staaten ununterbrochen Krieg. Gestützt auf ein marxistisches Verständnis der Widersprüche des US- und des Weltimperialismus analysiert David North die Militärinterventionen und geopolitischen Krisen der letzten 30 Jahre.
Der "ressortübergreifende Ansatz" bezieht ausdrücklich auch den Bundesnachrichtendienst (BND) mit ein. "Der Bundesnachrichtendienst wird künftig im Rahmen seiner gesetzlichen Aufgaben die zentrale Lagebearbeitung für das Bundesministerium der Verteidigung (BMVg) und die Bundeswehr gemäß deren Anforderungen übernehmen", heißt es dazu im Weißbuch.
Die Zusammenarbeit zwischen dem Auslandsgeheimdienst BND und dem Militärischen Abschirmdienst (MAD) ist bereits intensiviert worden. Der BND ist befugt, auch im Inland zu belauschen, wenn es um den "internationalen Terrorismus" geht. In der jüngsten Vergangenheit hat er deutsche Journalisten bespitzelt. Wenn nun MAD und BND eng zusammenarbeiten, hat dies zur Folge, dass das Militär auch im Innern eine wachsende Rolle spielt.
"Die Verflechtungen zwischen innerer und äußerer Sicherheit nehmen immer mehr zu", heißt es dazu im Weißbuch. Ausdrücklich strebt es auch den Einsatz militärischer Kampfmittel im Innern an. Die sei zwar bisher verboten, doch hier sehe "die Bundesregierung die Notwendigkeit einer Erweiterung des verfassungsrechtlichen Rahmens".
Weichenstellung durch Rot-Grün
Das Weißbuch ist mehr politische Bilanz als Zukunftsprogramm. Alle entscheidenden Weichen wurden bereits durch die rot-grüne Bundesregierung unter Kanzler Gerhard Schröder (SPD) und Außenminister Joseph Fischer (Grüne) gestellt. Die im August 2004 vom damaligen Verteidigungsminister Peter Struck (SPD) erlassenen "Grundzüge der Konzeption der Bundeswehr" nehmen das jetzige Weißbuch inhaltlich vorweg.
Noch bevor SPD und Grüne nach ihrem Wahlsieg 1998 die Regierungsgeschäfte übernahmen, erlebten sie ihre Feuertaufe bei der Entscheidung über den US-geführten Krieg gegen Jugoslawien. Die Parlamentsfraktionen von SPD und Grünen unterstützten die Drohung der NATO, Serbien zu bombardieren. Vier Monate später beschlossen sie dann die Teilnahme der Bundeswehr am ersten Angriffskrieg seit 1945.
Drei Jahre danach, am 16. November 2001, beschloss die rot-grüne Bundestagsmehrheit die Bereitstellung von Bundeswehreinheiten für den "Kampf gegen den Terrorismus" in Afghanistan. Ein Jahr später rechtfertigte Bundesverteidigungsminister Peter Struck (SPD) den Einsatz deutscher Soldaten in Afghanistan mit den berühmt gewordenen Worten: "Die Sicherheit Deutschlands wird auch am Hindukusch verteidigt."
Einer dpa-Meldung zufolge, befinden sich momentan 10.111 Bundeswehr-Soldaten im Auslandseinsatz, ein großer Teil aufgrund von Entscheidungen der rot-grünen Koalition: 2.800 im Kosovo, 2.800 in Afghanistan, 2.400 vor der libanesischen Küste, 950 in Bosnien-Herzegowina, 780 im Kongo, 270 am Horn von Afrika, 60 auf Marineschiffen im Mittelmeer und weitere 51 als Militärbeobachter im Sudan, in Georgien und Äthiopien/Eritrea.
Seit 1992 bis Ende Oktober 2006 sind insgesamt 64 Soldaten im Ausland gefallen. In den letzten acht Jahren, also seit Antritt von Rot-Grün 1998, waren es 56 Soldaten, die meisten fanden den Tod in Afghanistan.
Die Koalition aus Sozialdemokraten und ehemaligen grünen Pazifisten wird als Regierung in die Geschichte eingehen, die den seit dem Zweiten Weltkrieg bestehenden Konsens der militärischen Zurückhaltung aufgekündigt und dem deutschen Militarismus wieder auf die Beine geholfen hat.