Als die Bush-Regierung vor mehr als drei Jahren den Irakkrieg begann, warnten einige europäische Regierungen vor der Gefahr, dass ein solcher Waffengang zu einem militärischen und politischen Desaster führen werde. Vor allem in Berlin und Paris waren die mahnenden Stimmen vor einem unkontrollierbaren Flächenbrand der den ganzen Nahen Osten erfassen werden, unüberhörbar.
Heute - nachdem sich diese Befürchtungen in schrecklichster Form bestätigt haben, schwenken die europäischen Kritiker um und stellen sich hinter die amerikanisch-israelische Kriegspolitik. Das ist die Bedeutung der gemeinsamen Erklärung, die auf dem G8-Gipfel in St.Petersburg verabschiedet wurde. Vor allem die Merkel-Regierung spielte dabei eine wichtige Rolle. Während Frankreichs Präsident Jacques Chirac die Forderung nach einem Waffenstillstand aufbrachte und die Verhältnismäßigkeit der israelischen Bombenangriffe in Frage stellte, unterstützte die deutsche Kanzlerin die amerikanische Line ohne Wenn und Aber.
Schon zwei Tage vor dem Gipfel, als die israelische Armee vor den entsetzten Augen der Weltöffentlichkeit ihre Militäroperation gegen den Libanon mit ungeheurer Heftigkeit begann und den wichtigsten Flughafen des Landes zerstörte, empfing Angela Merkel den amerikanischen Präsidenten mit überschwänglicher Herzlichkeit.
Wie ist dieser Umschwung zu verstehen? Der Hinweis darauf, dass Angela Merkel und einige andere Spitzenpolitiker der Union, auch schon vor drei Jahren auf der Seite der Bush-Administration standen, reicht als Erklärung nicht aus. Politische Richtungsentscheidungen von solcher Tragweite werden nicht von Einzelpersonen getroffen, sondern haben tiefe objektive Ursachen.
Das grundlegende Problem mit dem die europäische Politik konfrontiert ist, besteht darin, dass der Irakkrieg, mit seinem alltäglichen Terror gegen die Bevölkerung, der jetzt auf den Libanon und die Palästinensergebiete ausgedehnt wird und vielleicht bald schon Syrien und den Iran erfasst, einen historischen Wendepunkt darstellt. Als sich die Bush-Administration vor drei Jahren über die Vereinten Nationen und das Völkerrecht hinweg setzte und einen illegalen Angriffskrieg begann, machte sie deutlich, dass sie sich nicht mehr an internationales Recht, Vereinbarungen und Verträge gebunden fühlt, sondern gestützt auf eine hochgerüstete Armee das Recht des Stärkeren durchsetzt.
Mit anderen Worten, das politische System, das auf den Trümmern des Zweiten Weltkriegs geschaffen worden war und jedes Land verpflichtete seine Politik an internationalem Recht und Gesetz zu orientieren, existiert nicht mehr. Der Irakkrieg und seine Ausweitung auf den Libanon und die Palästinensergebiete kennzeichnet die Wiederkehr nackter imperialistischer Politik in ihrer aggressivsten und brutalsten Form.
Diese Entwicklung stellt die europäischen Regierungen vor ein Dilemma. Sie würden gerne eine diplomatische Lösung der Kriegssituation erreichen, oder genauer gesagt: sie würden gerne ihre eigen energie- und geostrategischen Interessen auf dem Verhandlungsweg durchsetzen, doch dazu bräuchten sie die Zusammenarbeit mit der US-Regierung, die aber genau daran kein Interesse hat.
Dieser Widerspruch nimmt gegenwärtig bizarre Formen an. Obwohl in der europäischen Politik und in den Redaktionsstuben der Medien jeder weiß, dass: erstens - der Irakkrieg und die amerikanische Besetzung katastrophale Auswirkungen für das Land und die ganze Region hatte, zweitens - die israelische Regierung niemals eine solche Militäroperation, wie gegenwärtig im Libanon, ohne Absprache und Zustimmung des Pentagon durchführen könnte und drittens - die US-Regierung Pläne verfolgt, die darauf abzielen, auch im Iran, notfalls mit Gewalt ihre Vorherrschaft durchzusetzen, um sich so einen Zugang zum Öl und Gas im kaspischen Becken zu verschaffen, lautet die zentrale Forderung in Europa: die US-Regierung müsse sich stärker als bisher im Nahen Osten engergieren.
Einer der ersten, der diese Position betonte, war der Sozialdemokrat Karsten Voigt der als Koordinator der Bundesregierung für die deutsch-amerikanischen Beziehungen zuständig ist. Am Tag als die israelische Armee in Absprache mit Washington und mit Waffen "made in USA" den internationalen Flughafen in Beirut weitgehend zerstörte, sagte Voigt in einem Interview mit dem Deutschlandradio: "Zuerst einmal ist eines richtig, dass der Nahe Osten ein Gebiet ist, wo wir nicht weniger USA möchten, sondern mehr USA möchten. Und das sagen auch normale Kritiker der USA, weil ohne die USA die Lage dort nicht zu beruhigen ist."
Man hätte annehmen können, dass das Desaster, das die amerikanisch Kriegspolitik im Irak und im ganzen Nahen Osten angerichtet hat - und wovor einige europäische Regierungen anfangs gewarnt hatten - die Rolle der Europäer stärken werde. Doch das Gegenteil ist der Fall. Angesichts der explosiven Situation und der Gefahr eines militärischen Flächenbrands im Nahen Osten rufen die Europäer den Brandstifter zu Hilfe.
Ganz ähnlich wie Voigt argumentiert Ex-Außenminister Joschka Fischer (Grüne). Im Gespräch mit der neuesten Ausgabe der Zeit betont Fischer: "Es kommt vor allem auf die USA, auf ihre Führung an, aber allein wären sie überfordert." Auf den Einwand der Zeit, dass Washington doch "derzeit völlig im Irak gebunden" und bereits damit überfordert sei, antwortet Fischer: "Ohne ein entschlossenes Amerika wird es nicht zu einer Lösung kommen. Der Irak und das dortige Machtvakuum stellen Amerika und uns alle vor erhebliche Probleme. Aber die entscheidende Frage ist nicht der Irak, sondern der Iran-Konflikt."
Auch die französische Tageszeitung Le Monde schrieb in einem Kommentar am vergangenen Mittwoch: "Was also tun? Fast alles wurde schon versucht - bis auf ein massives Engagement der internationalen Gemeinschaft, das heißt vor allem der Vereinigten Staaten, für den bekannten Kompromiss. Einschließlich einer militärischen Präsenz in der Region."
Doch die militärische Präsenz unter Führung der USA hat in der Region das Desaster geschaffen. Die europäische Hoffnung den Teufel mit dem Belzebub auszutreiben macht deutlich, dass die Machthaber in Berlin und Paris der us-dominierten Kriegspolitik nichts entgegenzusetzen haben. Gleichzeitig sind sie von der nackten Gewalt mit der die Bush-Regierung ihre Interessen verfolgt sowohl beeindruckt, als auch eingeschüchtert.
Nicht nur der brutale Bombenterror in Bagdad, Fallujah, Basra und nun auch in Beirut und Gaza, morgen vielleicht schon in Damaskus und Teheran, haben das erreicht. Auch die Art und Weise wie die US-Regierung in Europa eingegriffen hat, illegale Gefangentransporte durchführt, Foltergefängnisse unterhält und sich verächtlich über jeden Untersuchungsausschuss hinwegsetzt, hat Eindruck gemacht und die reaktionärsten politischen Elemente gestärkt.
Dazu kommt noch, dass sich die Europäische Union nicht erst seit der Ablehnung der Europäischen Verfassung in Frankreich und den Niederlanden in einer fortschreitenden Krise befindet. Wenige Monate vor den Feierlichkeiten zum 50. Jahrestag der "Römischen Verträge" mit denen im Frühjahr 1957 die Europäische Union aus der Taufe gehoben wurde, macht sich in den europäischen Hauptstädten die Einsicht breit, dass trotz gemeinsamer Währung die europäische Einheit nicht nur stockt, sondern bereits begonnen hat wieder auseinander zu brechen. Die EU-Osterweiterung ist gescheitert und an allen Ecken und Enden nehmen die nationalen Egoismen und Gegensätze zu.
Auch die Beziehung zu Russland hat sich verändert. Die Bundesregierung hätte gerne ein ausgewogenes Verhältnis nach West und Ost. Die hohe deutsche Energieabhängigkeit von Moskau erfordert das. Doch in dem Maße in dem sich die amerikanisch-russischen Spannungen verschärfen, wird der Spagat unmöglich. Dazu kommt noch, dass Putins Russland sich von dem Jelzins stark unterscheidet. Als zum Jahresbeginn die Kremlregierung der Ukraine den Gashahn zudrehte, löste das in Berlin einen gewissen Schock aus. Die Stimmen, die vor einer zu großen Abhängigkeit von Moskau warnten, wurden lauter und die Annäherung an Washington stärker.
Es gibt aber noch einen anderen Faktor, der die europäischen Regierungen dazu veranlasst sich hinter der stärksten imperialistischen Macht in Washington zu sammeln: die wachsende soziale Krise und die Zunahme der sozialen Konflikte in Europa. Das gilt in ganz besonderem Maße für die Regierung in Berlin. Die Große Koalition war von Anfang an mit einem Geburtsfehler behaftet. Sie war aus einer Wahl hervorgegangen, in der das so genannte "linke" Lager aus Sozialdemokraten, Grünen und Linkspartei zusammen mehr Stimmen erhalten hatte als das "rechte" Lager aus Union und FDP. Nur die Bereitschaft der SPD, eine Große Koalition zu bilden, bescherte Merkel schließlich doch noch die Kanzlerschaft.
Nicht lange nach der Regierungsbildung entwickelten sich in Frankreich Massendemonstrationen gegen den Versuch der französischen Regierung den Kündigungsschutz abzubauen und die Villepin-Regierung musste unter dem Druck der Proteste an denen sich Millionen beteiligten ihr Vorhaben zumindest vorübergehende zurückziehen.
Unter diesen Bedingungen agierte die Merkel-Regierung vorsichtig und geriet in immer stärkeren Konflikt zu einflussreichen Wirtschaftsverbänden, denen der Abbau der Sozialstandards nicht schnell und weit genug vonstatten ging.
Die Entscheidung sich im Nahostkrieg uneingeschränkt auf die Seite der Kriegstreiber zu stellen - wohl wissend, dass die große Mehrheit der Bevölkerung diesen Krieg ablehnt und Hunderttausende sich an Protesten dagegen beteiligten - kennzeichnet einen Wendepunkt. Dieselbe Rücksichtslosigkeit mit der die Regierung der libanesischen, palästinensischen oder irakischen Bevölkerung entgegentritt, wird sie künftig auch gegenüber der eigenen Bevölkerung an den Tag legen.
In letzter Analyse ergibt sich die politische Umorientierung in Paris und Berlin aus dem Klassencharakter der Regierungen. Ungeachtet mancher Kritiker, die den "amerikanischen Raubtierkapitalismus" anprangern, verfolgt die europäische Elite dieselben wirtschaftlichen und politischen Interessen und schließt sich angesichts wachsender außen- und innenpolitischer Spannungen mit den stärksten imperialistischen Mächten zusammen.
Das wird die wachsenden Spannungen zwischen den Großmächten nicht beseitigen, noch nicht einmal mindern, aber es leitet ein neues Stadium heftiger Angriffe auf soziale und demokratische Rechte ein.