Das amerikanische Verteidigungsministerium Pentagon hat diese Woche ein neues Beispiel für die Verzweiflung geliefert, die angesichts der zunehmenden Katastrophe im Irak in der Kommandozentrale des US-Militärs um sich greift. Es hat 300 Soldaten, die erst vor wenigen Wochen von ihrem einjährigen Dienst heimgekehrt waren, in das besetzte Land zurückbeordert.
Die Soldaten gehören der 172. Stryker Brigade an, die in der Nähe von Fairbanks in Alaska stationiert ist. Sie waren als Vorhut der 3.900 Mann starken Einheit eingesetzt worden und erst vor drei beziehungsweise fünf Wochen in die USA zurückgekehrt. Weitere 300 Soldaten saßen auf dem Rückweg in die Vereinigten Staaten schon im Flugzeug in Kuwait, als Verteidigungsminister Donald Rumsfeld plötzlich den Befehl zur Verlängerung ihres Einsatzes um mindestens weitere vier Monate gab.
Die in Mosul im Nordirak stationierte Brigade ist Bestandteil der Strategie, die irakische Hauptstadt mit amerikanischen und irakischen Soldaten regelrecht zu überfluten. Damit soll der Widerstand gegen die US-Besatzung unterdrückt und der Bürgerkrieg erstickt werden, der sich immer mehr hochschaukelt. Eine gemeinsame amerikanisch-irakische Truppe von bis zu 50.000 Mann hat die Aufgabe, Razzien und Straßenkontrollen durchzuführen. Die amerikanischen Operationen haben bereits erbitterte Kämpfe mit Bewohnern der überwiegend schiitischen Slums von Sadr City ausgelöst.
Dieser neue Aufmarsch in Bagdad ist ein Beweis für das klägliche Scheitern der Strategie Washingtons, die Sicherheitsaufgaben an die irakische Armee und Polizei abzugeben, denn bisher wurde Bagdad, wo sich auch der Sitz der irakischen Regierung von amerikanischen Gnaden befindet, als Machtzentrum der US-Besatzung bezeichnet. Viele dieser US-Einheiten haben sich entweder direkt an den gewaltsamen religiösen Konflikten beteiligt oder vor der Existenz von inoffiziellen Milizen und Todesschwadronen die Augen verschlossen.
Laut einem Bericht, der am vergangenen Mittwoch in der New York Times erschien, wurden im letzten Monat die meisten Todesopfer überhaupt seit der US-amerikanischen Invasion 2003 gezählt, nämlich insgesamt 3.438 tote Zivilisten, das sind durchschnittlich mehr als 110 Tote pro Tag. In der Zeitung hieß es: "Die steigende Zahl ist ein Maßstab dafür, dass religiöse Konflikte außer Kontrolle geraten; sie scheint die Feststellung zu bestätigen, die viele hohe irakische Beamte und amerikanische Militäranalysten in den letzten Monaten geäußert haben, dass nämlich das Land schon mitten im Bürgerkrieg ist, und nicht erst auf dem Weg dahin..."
Diese religiösen Konflikte sind selbst ein Nebenprodukt der amerikanischen Invasion und Besatzung. Sie wurden großenteils von Washingtons ursprünglicher Strategie des Teilens und Herrschens angefacht, als die schiitischen und kurdischen Einheiten benutzt wurden, um den Widerstand in der Sunniten-Bevölkerung zu unterdrücken. Wie sich gezeigt hat, ist diese Strategie völlig ungeeignet, die Rebellenübergriffe zu stoppen, die in drei Jahren von sechzehn pro Tag um das Fünffache auf neunzig Überfälle pro Tag im Juni dieses Jahres zugenommen haben.
Mit den Razzien in Sadr-City versuchen die amerikanischen Besatzungsbehörden nun, der Schiiten-Miliz Herr zu werden, wobei die Dringlichkeit dieses Vorgehens damit zusammenhängt, dass Washington in wachsendem Maße über die Beziehungen der Aufständigen zum Iran besorgt ist, dem vermutlich nächsten Zielobjekt eines US-amerikanischen Angriffs.
Der plötzliche Rückruf von bereits aus dem Irak heimgekehrten Soldaten ist in den vergangenen dreieinhalb Jahren seit Beginn des Kriegs und der Besatzung noch nicht vorgekommen. Aller Voraussicht nach wird diese Entscheidung auf die Moral der 172. Stryker Brigade und ihrer Familien verheerende Aufwirkungen haben.
Beispiele für solche Reaktionen können auf einer Website für Soldatenfamilien eingesehen werden: http://www.bringhome172nd.org/stryker/
Viele Betroffene haben Kommentare eingestellt, die nicht nur ihre eigene Empörung über Rumsfelds Befehl deutlich machen, sondern auch die Auswirkung, die er auf die Soldaten selbst hat.
"Für mich ist eine Welt zusammengebrochen", schrieb die Frau eines Soldaten. "Ich habe mich hingesetzt und geheult. Ich wusste nicht, was ich sonst tun sollte. Wie soll ich weitermachen? Mein bester Freund, mein Mann, ist schon ein ganzes Jahr von mir weg, und jetzt wollen sie ihn noch länger behalten. Meine Familie lebt weit von mir entfernt, auf der andern Seite des Landes. Ich bin allein. Alles was ich habe, sind meine Kinder. Oh, wie soll ich das meinen Kindern sagen?
Präsident Bush hat gesagt, die Soldaten müssen im Irak bleiben, aber er fühlt ja mein Herz nicht zerspringen. Er muss ja meinen Kindern nicht in die Augen schauen und ihnen sagen, dass ihr Daddy nicht nach Hause kommt. Er muss nicht ständig am Abgrund leben und jedes Mal Angst haben, wenn das Telefon klingelt."
Die Mutter eines Brigadeangehörigen, der auch mit einer Soldatin verheiratet ist, schrieb: "Bis wenige Tage vor ihrer Heimkehr zu warten, ist ein Verbrechen an ihnen und ihren Familien. Ich bin wütend und durcheinander und fühle mich wie kurz vor einem Nervenzusammenbruch wegen all dem. Wie die meisten von euch, bin ich seit Tagen wie betäubt. Leicht vorstellbar, wie sich unsere Soldaten fühlen.
Mein Mann, der stolz seinen Dienst tut, empfindet es genauso als Schlag ins Gesicht für unsre Soldaten. Er bildet Soldaten aus verschiedenen Einheiten der ganzen Vereinigten Staaten aus, um sie darauf vorzubereiten, was sie im Irak, in Afghanistan, etc. erleben werden. Er hat das Gefühl, dass dies für unser Militär und seine Familien eine Ungerechtigkeit ist.... Präsident Bush, Donald Rumsfeld und das Pentagon... SHAME ON ALL OF YOU!! Bring our TROOPS HOME NOW."
Die Frau eines weiteren Soldaten schrieb über ihr Telefongespräch mit ihrem Mann: "Er sagt, alle Soldaten die er herumlaufen sieht, sind benommen und gleichgültig. Er selbst ist depressiver und lustloser, als ich ihn je zuvor gehört habe. Es ist nicht die Verlängerung, es ist, weil unsere Regierung uns alle im Glauben ließ, sie würden ganz sicher heimkehren. Sie wurden verabschiedet, sogar in die Flugzeuge gesetzt, und dann - whoops! Wir haben uns getäuscht, Jungs, und ihr müsst dafür bezahlen. Auf nach Bagdad!’... Sie haben sich 365 Tage lang den Hintern aufgerissen, um wieder nach Hause zu kommen. Sie müssen doch denken: Jetzt habe ich noch mal die Gelegenheit, für den Irak zu sterben, mit dem ich nichts mehr zu tun haben will’."
Sie fuhr fort: "Ich habe diese Regierung früher uneingeschränkt unterstützt, jetzt kann ich es einfach nicht glauben. Seit mein Mann zum ersten Mal eingesetzt wurde, habe ich Bush sagen hören, für unsere Soldaten sei gesorgt, und sein Lachen gehört, ein sehr trauriges Lachen. Damals habe ich gewusst, und heute weiß ich es ohne Zweifel, wenn er wüsste, was für Schmerz und Leid er mit dieser Politik angerichtet hat, würde er nicht mehr lächeln.... Ich fühle mich wie in einem Alptraum, und dass unser Land genau zu dem wird, wogegen wir es einst gegründet haben. Es kommt mir so vor, als müssten wir bald einmal die Waffen dagegen ergreifen."
Von den Medien nach der Wirkung seines Befehls auf die Moral der Truppe gefragt, zuckte Rumsfeld nur die Schulter über die lauten Beschwerden. "Wir haben in unserer Truppe lauter Freiwillige, alles Menschen, die ihre Hand gehoben und gesagt haben, ich will dem Land dienen", sagte er. "Und das ist ganz was anderes als eine Wehrdiensttruppe, eine gezogene Truppe. Und die Männer sind so stolz darauf, was sie machen, und so überzeugt, dass es richtig ist, was sie machen, dass die Moral konstant gut ist."
Sehr vieles deutet jedoch auch jenseits der unmittelbaren Empörung über den erneuten Einsatz der Stryker Brigade darauf hin, dass die Moral alles andere als "gut" ist. Viele Einheiten sind schon im dritten Irakeinsatz in drei Jahren, und für einige hat schon der vierte begonnen.
Psychologen innerhalb und außerhalb der Armee zeigen sich zunehmend besorgt über die Auswirkungen dieser pausenlos aufeinander folgenden Einsätze in einem Land, in dem die Feindschaft gegen die amerikanische Besatzung überwiegt. Ein Bericht über die psychische Verfassung amerikanischer Soldaten im Irak, den die US-Armee Ende diesen Monats herausbringen will, soll - laut United Press International (UPI) - auf eine Höchstzahl an Selbstmorden im letzten Jahr hinweisen. Die Nachrichtenagentur schreibt, der Bericht belege eine Verdoppelung der Selbstmorde bei im Irak und in Afghanistan stationierten Soldaten von 2004 auf letztes Jahr.
"Diese Zunahme wird besonders durch die Geschwindigkeit der wiederholten Einsätze verursacht, wobei die Leute ein drittes und viertes Mal hinfahren", sagte Paul Rieckhoff, Chef der amerikanischen Irak- und Afghanistan-Veteranen gegenüber UPI. "Das schafft Zusammenbrüche auf individueller und institutioneller Ebene. Stellen Sie sich vor, Sie wären ohne Ferien oder Wochenende auf Ihrer Arbeit. Das zehrt an einem, und dazu kommt noch die gesteigerte Angriffshäufigkeit, die ständigen Rebellionen, die zunehmende Scheidungsrate - alle diese Faktoren bilden zusammen ein komplexes Gemisch, das die Selbstmordgefahr erhöht."
Die wachsende Krise der Armee kommt auch in einem Bericht zum Ausdruck, der diese Woche von der Finanzaufsicht der Regierung (GAO) herausgegeben wurde, und der darauf eingeht, dass Militärwerber bei ihren Versuchen, Jugendliche in die Armee zu locken, zu aggressiven Methoden und sogar kriminellen Mitteln greifen.
Laut dieser Behörde haben begründete Klagen über Fehlverhalten von Rekrutierungsoffizieren von 2004 auf 2005 um mehr als ein Drittel zugenommen. Kriminelle Fälle, darunter sexuelle Nötigung und Fälschung von Aufzeichnungen, haben sich mehr als verdoppelt.
USA Today berichtet, dass der Kongress sich darauf vorbereitet, die Gelder für Erforschung und Behandlung von Hirnverletzungen infolge von Bombenexplosionen zu halbieren. Das ist eine der häufigsten Verletzungen, die die im Irak stationierten Soldaten erleiden. Sowohl im Repräsentantenhaus, als auch im Senat sehen die Haushaltsvorgaben nur noch sieben Millionen Dollar für die entsprechende Abteilung des Gesundheitsamts vor, das ist gerade mal die Hälfte der Summe vom letzten Jahr und wenig mehr als ein Drittel dessen, was die Stelle beantragt hatte.
"Ich finde es grundsätzlich unentschuldbar, dass der Kongress die Gelder nicht bewilligt, die nötig sind, um für unsere Soldaten und Seeleute zu sorgen, die ihr Leben für ihr Land aufs Spiel setzen", zitierte die Zeitung Martin Foil, Mitglied des Direktorats dieses Amtes. "Es übersteigt meine Vorstellungskraft."
USA Today bezieht sich auf einen Streit mit der zivilen Pentagon-Führung über den Vorschlag des Amtes, auch Soldaten zu erfassen und zu kontrollieren, die bei Explosionen nicht ganz so schlimme Hirnverletzungen erlitten haben. Die anfänglichen Forschungsergebnisse gehen davon aus, dass bis zu zwanzig Prozent der Soldaten von Kampfverbänden schon einmal Erschütterungen erlitten haben, die permanente Hirnschäden verursachen können.
Ohne Zweifel ist das Pentagon wenig geneigt, ein Programm aufzulegen, das zu einer weiteren Verringerung von Soldaten führen könnte, die in den Irak zurück geschickt werden können, oder das die Regierung später in die Pflicht nehmen könnte, wenn es um vorzeitigen Ruhestand aus Gesundheitsgründen geht.
Auf die Frage nach den Kürzungen der Gelder für diese Einrichtung sagte eine Senatssprecherin des Haushaltsausschusses zu USA Today : "Ehrlich gesagt, hätten sie es liebend gerne bewilligt, aber es gab so viele [andere] Prioritäten." Eine dieser Top-Prioritäten der Senatsführung besteht in dem bisher verhinderten Versuch, die Grundstückssteuern der Superreichen massiv zu kürzen.
Hinter der angeblichen "Unterstützung für unsere Soldaten" verbirgt sich Spott und Hohn der herrschenden Schichten und ihrer Regierung für das einfache Fußvolk. Das muss sich unweigerlich negativ auf Rekrutierung und Wiedereinberufung auswirken, und dabei hat die Armee schon große Mühe, die ständige Irakbesetzung aufrechtzuerhalten. Ihre Fortsetzung und die angedrohte weitere Ausdehnung der Militärabenteuer machen es wahrscheinlich, dass Washington die allgemeine Wehrpflicht wieder einführt. Damit werden junge Menschen gezwungen, dem Streben der USA nach Herrschaft über den Ölreichtum der Region als Kanonenfutter zu dienen.