Die World Socialist Web Site verurteilt die Verhängung des Notstands in Frankreich durch die Chirac-Villepin-Sarkozy-Regierung aufs Schärfste. Die Einführung dieser undemokratischen Maßnahme, die der Bereitschaftspolizei CRS und den anderen Polizeikräften freie Hand für einen umfassenden Schlag gegen die Jugend erteilt, ist ein ernstzunehmender Angriff auf demokratische Grundrechte und eine Bedrohung für die ganze französische Arbeiterklasse. Es ist kein Zufall, dass ausgerechnet Marine Le Pen, die Tochter und Gesinnungsgenossin Jean Marie Le Pens, des Führers der neofaschistischen Nationalen Front, als erste öffentlich nach der Anwendung dieses Gesetzes rief.
Wir rufen die französische Arbeiterklasse und alle Menschen, denen die Verteidigung demokratischer Rechte und der Kampf für soziale Gleichheit am Herzen liegen, dazu auf, die Jugendlichen zu verteidigen und ihnen im Kampf gegen den maroden französischen Kapitalismus eine politische Perspektive zu bieten.
Die Ereignisse in den Arbeitervorstädten von Paris und Hunderten weiterer Städte und Gemeinden haben tragische und verzweifelte Aspekte, doch die Verantwortung für den Gewaltausbruch liegt einzig und allein beim politischen Establishment Frankreichs, einschließlich ihres "linken" und "ganz linken" Flügels. Dieser gibt sich mit dem Status Quo zufrieden und macht sich über die Zukunft der Arbeiterjugend, die zu einem trostlosen Leben unter erbärmlichen Verhältnissen verurteilt ist, keinerlei Gedanken.
Der Ausnahmezustand, der am 8. November gleichzeitig mit der Mobilisierung von Polizeireservisten ausgerufen wurde, gibt den Präfekten das Recht, Ausgangssperren zu verhängen, und erlaubt der Polizei, Razzien und Haussuchungen ohne Durchsuchungsbefehl vorzunehmen. Der Notstand, der sich auf ein Gesetz aus dem Jahr 1955 stützt, wird zwölf Tage in Kraft bleiben, aber die Nationalversammlung kann "wenn nötig" seine Verlängerung per Gesetz beschließen. Die Ausgangssperre tritt in bestimmten Regionen, die noch bekannt gegeben werden, ab Dienstag Mitternacht in Kraft. Seine Nichtbefolgung kann mit bis zu zwei Monaten Gefängnis, 3.750 Euro Buße oder beidem bestraft werden.
Das Gesetz gibt den örtlichen Behörden die Möglichkeit, Menschen unter Hausarrest zu stellen und die Herausgabe von Waffen zu verlangen. Öffentliche Plätze können abgeriegelt werden. Die Regierung wird berechtigt, die Presse- und Versammlungsfreiheit einzuschränken und Theater zu schließen.
Der staatliche Radiosender France Inter berichtete am 8. November, Presse und Theater würden nicht eingeschränkt, aber ein Regierungssprecher weigerte sich, dies ausdrücklich zu bestätigen.
Ein solcher Ausnahmezustand war nicht einmal während des Generalstreiks von 1968 für nötig erachtet worden. Das Gesetz von 1955 wird im Wesentlichen - und die ältere Generation nordafrikanischer Herkunft erinnert sich noch gut daran - mit staatlicher Folter und Gewalt in Verbindung gebracht, die der französische Staat gegen die algerische Bevölkerung und algerische Einwanderer in den 1950er und 1960er Jahren praktizierte.
So kam es zum Beispiel am 17. Oktober 1961 in Paris zu einem Massaker, als die Polizei während einer Großdemonstration gegen eine ähnliche Ausgangsperre mindestens 50 und vielleicht bis zu 200 algerische Einwanderer ermordete. Viele wurden im Innenhof der Polizeizentrale totgeschlagen, während andere in verletztem Zustand in die Seine geworfen wurden, wo sie ertranken.
Als Premierminister Dominique de Villepin am Dienstag vor dem überfüllten Plenum der Nationalversammlung die Einzelheiten der Maßnahme erläuterte, erklärte er: "Die Wiederherstellung der Ordnung ist vorrangig.... Wir sind mit entschlossenen Individuen, fest gefügten Gruppen und organisierter Kriminalität konfrontiert, die vor keinem Mittel zurückschrecken, um Unordnung und Gewalt zu stiften."
"Die Republik ist am Punkt der Wahrheit angelangt", sagte Villepin dem französischen Parlament weiter. "Die Gewalt muss aufhören." Er fügte hinzu, dass die Regierung "diese Ereignisse als Warnsignal und als Appell auffasst".
Es werden ca. 1.500 Polizeireservisten mobilisiert, um die 8.000 Beamten zu unterstützen, die bereits in den von Unruhen erschütterten Trabantenstädten stationiert sind. Auf die Frage eines Fernsehjournalisten zur Mobilisierung der französischen Armee in den Innenstädten des Landes antwortete Villepin: "Wir sind noch nicht soweit... [aber] wir werden bei jedem Schritt die notwendigen Maßnahmen ergreifen, um in ganz Frankreich sehr schnell die Ordnung wieder herzustellen."
Nach der Entscheidung, den Ausnahmezustand zu verhängen, erklärte Innenminister Nicolas Sarkozy, dessen rassistische und aufhetzerische Kommentare zur Gewalteskalation beitrugen, ominös: "Jetzt werden wir in der Lage sein, präventiv zu handeln, um diese Zwischenfälle zu unterbinden. Wir werden die Entwicklung der Ereignisse Schritt für Schritt beobachten." Möglicherweise hat Sarkozy dabei an massenhafte, "präventive" Festnahmen gedacht.
Villepin gab in der Nationalversammlung außerdem einige Alibimaßnahmen bekannt, um die chronisch hohen Arbeitslosenzahlen und das soziale Elend in den betroffenen Stadtvierteln einzudämmen. So will er zum Beispiel Kürzungen seines rechten Vorgängers Jean-Pierre Raffarin rückgängig machen. Unter den Jugendlichen in den Trabantenstädten ist die Arbeitslosigkeit bereits auf vierzig Prozent angestiegen.
In der sozialen Explosion, die am 27. Oktober begann, als zwei Jungendliche in einer Vorstadt bei der Flucht vor der Polizei von Starkstrom getötet wurden, sind bisher etwa 6.000 Autos in Flammen aufgegangen und 1.200 Menschen verhaftet worden, viele von ihnen Teenager. Vierundachtzig öffentliche Gebäude wurden in Brand gesetzt. Ein 61-jähriger Mann starb am Montag an den Verletzungen, die er erlitt, als er versuchte, ein Feuer in einem Müllcontainer zu löschen. Die Unruhen sprangen von Paris auf Lyon, Toulouse, Marseille und andere Städte über. Vergangenen Montagnacht setzten Jugendliche in 226 französischen Städten Autos in Brand; die Nacht davor waren es noch 274 Städte gewesen.
Laut einem Sprecher der Nationalpolizei zwangen Jugendliche in einem südlichen Außenviertel von Toulouse die Passagiere eines Linienbusses zum Aussteigen, den sie daraufhin in Brand setzten. Sie bewarfen die Polizei mit Molotow-Cocktails und Steinen. Ein weiterer Bus wurde in der Pariser Vorstadt Stains angezündet. In Sevran wurde Feuer an eine Grundschule gelegt. In der Trabantenstadt Vitry-sur-Seine wurde nach den Worten der Polizei ein Krankenhaus angesteckt, und in Chenove, im Burgund, griffen meuternde Jugendliche eine Polizeistation an. Sebastian Roche, ein leitender Forscher des staatlichen Nationalzentrums für wissenschaftliche Forschung, sagte den Medien, niemals zuvor seien so viele französische Städte gleichzeitig von Unruhen betroffen gewesen.
Die Medien schweigen sich darüber aus, was die Bereitschaftspolizei in den Stadtvierteln alles treibt, aber die bisherige Reputation der CRS legt nahe, dass jeder Jugendliche, der ihnen in die Hände fällt, eine brutale Behandlung gewärtigen muss. Wer verhaftet wird, wird im Schnellverfahren abgeurteilt, wie Menschenrechtsanwälte kritisieren. Associated Press berichtete, dass in einem Gericht in Bobigny, nordöstlich von Paris, im Zusammenhang mit den Unruhen sechzig Fälle an einem Tag verhandelt und drei zusätzliche Richter aufgeboten wurden, um "die Masse der Verfahren zu bewältigen". 52 Erwachsene und 23 Minderjährige wurden zu Haftstrafen oder Jugendgefängnis verurteilt.
Michel Gaudin, der Generaldirektor der Nationalpolizei, erklärte am Dienstag gegenüber Reportern, dass "die Intensität der Gewalt zurückgeht und eine abnehmende Anzahl öffentlicher Gebäude beschädigt wird. In den ländlichen Gebieten beruhigt sich die Lage nicht im selben Maße wie in Paris, und unter den Großstädten kommt es in Toulouse, Lyon und Saint-Etienne nach wie vor zu Ausschreitungen."
Infolge der Meldungen über Gewaltausbrüche in Brüssel und Berlin sank der Euro auf den niedrigsten Stand gegenüber dem Dollar seit zwei Jahren.
Die linksliberale Zeitung Le Monde reagierte nervös, als Villepin den Ausnahmezustand ausrief. In ihrem Leitartikel vom Dienstag hieß es: "Wer ein Gesetz aus dem Jahr 1955 wieder ausgräbt, vermittelt den Jugendlichen aus den Vorstädten eine außerordentlich brutale Botschaft: Nach 50 Jahren hat Frankreich die Absicht, sie genauso zu behandeln wie damals ihre Großeltern."
Libération, eine ebenfalls eher links eingestellte Tageszeitung, bezeichnete die Ausrufung des Notstands als "brutale Farce". Die Zeitung ließ keinen Zweifel daran, dass die "Wiederherstellung der staatlichen Autorität" die wichtigste Aufgabe sei, allerdings nicht um jeden Preis.
Die Liga der Menschenrechte bezeichnete die Verhängung des Notstands als "katastrophal". Sie erklärte: "Wir haben es mit einer sozialen Krise zu tun, und nicht mit einem Krieg."
Die Reaktion der offiziellen Linken auf Villepins Ankündigung fiel so aus, wie man es erwarten durfte. Die Sozialistische Partei (PS), die nicht weniger Verantwortung für die elenden Zustände in den Arbeitervierteln trägt als die Gaullisten und die übrigen rechten Parteien, schwadronierte von der "schwer wiegenden Verantwortung" der Regierung, insbesondere Innenminister Sarkozys, für die Gewaltausbrüche. Im nächsten Atemzug erklärte der Sprecher der PS, Jean-Marc Ayrault: "Grundsätzlich lehnen wir die Ausgangssperre nicht ab." Ayrault tat den sinnlosen Ausspruch: "Der Ausnahmezustand ist in erster Linie ein sozialer Notstand."
Die Kommunistische Partei (PCF) stellte sich gegen die Verhängung der Ausgangssperre und beklagte, dass die Regierung ein fünfzig Jahre altes Gesetz wiederentdeckt habe, "als ob wir uns im Krieg befänden". Die Stalinisten schlugen stattdessen eine Überarbeitung des Staatshaushalts vor. Der Vorsitzende der PCF, Marie-George Buffet, warnte die Regierung, dass das Gesetz aufreizend auf die Jugendlichen wirken könnte: "Es könnte als eine Art Herausforderung zu weiterer Gewalt aufgefasst werden." Auch die Grünen widersprachen den Notstandsmaßnahmen mit der Begründung, man befinde sich "nicht im Bürgerkrieg".
Die Ligue Communiste Révolutionnaire bezeichnete die Maßnahme als "unerträglich". Olivier Besancenot, der Sprecher der LCR, appellierte an alle linken und demokratischen Organisationen, gemeinsame Demonstrationen abzuhalten. In einer Erklärung, die auf der Website ihrer Zeitung Rouge erschien, predigt die LCR den Jugendlichen, dass ihre Wut zwar "verständlich ist, aber am falschen Ort ausgelassen wird, wenn man die Autos der Nachbarn verbrennt und Schulen, Sporthallen oder Kindergärten anzündet".
Doch die Jugendlichen verfügen gerade deshalb über keine politische Perspektive, weil die so genannten Parteien der extremen Linken, einschließlich Lutte Ouvrière, nichts anderes im Kopf haben, als sich bei diversen Fraktionen der Sozialistischen Partei, der Kommunistischen Partei und der Gewerkschaftsbürokratie einzuschmeicheln. Die ärmsten Schichten der Jugendlichen haben sie ebenso fallen gelassen wie alle anderen Parteien.
Als Villepin den Notstand bekannt gab, erschien eine neue Meinungsumfrage, wonach drei von vier Erwachsenen in Frankreich seinen Umgang mit der Krise ablehnen. In der Umfrage, die über das Wochenende vom Institut LH2 vorgenommen wurde, äußerten 71 Prozent der Befragten die Ansicht, dass die Reaktion der Regierung auf die Aufstände "in die falsche Richtung geht".
Zwar ging aus der Umfrage nicht hervor, von welchem Standpunkt aus die Regierung kritisiert wurde - ob man sie für zu hart oder zu nachgiebig gegenüber den Jugendlichen hielt -, aber ein Marktverkäufer in Paris, der von der Washington Post zitiert wird, dürfte mit seiner Meinung nicht allein dastehen. Michel Narbonne, 59, erklärte gegenüber der Post : "Kein Wunder, dass diese Jungen protestieren, wenn ihre Zukunft eine einzige Sackgasse ist. Sie sind frustriert, genau wie die Mehrheit der Franzosen. Diese Jungen tun etwas, wonach den meisten Menschen in Frankreich schon seit zehn Jahren ist."