Der folgende Text wird am 19. März auf den Demonstrationen gegen Krieg und Sozialabbau in Brüssel und anderen europäischen Städten verteilt. Es kann auch in deutscher, französischer und englischer Sprache als Flugblatt heruntergeladen werden.
Am heutigen Samstag finden in der EU-Hauptstadt Brüssel und zahlreichen anderen europäischen Städten Demonstrationen gegen Krieg und Sozialabbau statt. Im Gegensatz zu den Organisatoren, die sich an der EU und den europäischen Regierungen orientieren, rufen wird die arbeitende Bevölkerung ganz Europas auf, sich auf der Grundlage eines unabhängigen sozialistischen Programms zusammenzuschließen, um gegen den Militarismus und die Angriffe auf Lebensstandard und demokratische Rechte zu kämpfen.
Am 19. März jährt sich zum zweiten Mal der Beginn des Irakkriegs. Dieser Krieg kennzeichnet einen historischen Wendepunkt. Die USA überfielen- gestützt auf Lügen und unter Bruch des Völkerrechts - ein weitgehend wehrloses Land. Mindestens 100.000 getötete Iraker sowie 1.500 gefallene und 10.000 verletzte amerikanische Soldaten sind die Folge. Die 250.000-Einwohner-Stadt Falludschah wurde dem Erdboden gleich gemacht. An die 9.000 Iraker befinden sich in Konzentrationslagern. Krieg und Besatzung waren und bleiben Kriegsverbrechen.
Inzwischen hat die Regierung Bush deutlich gemacht, dass sie ihre Interessen auch weiterhin ohne Rücksicht auf das Völkerrecht und unter Anwendung militärischer Gewalt durchsetzen wird. Seit ihrer Wiederwahl sind Figuren in politische Spitzenämter aufgestiegen, die sich - wie John Negroponte, Elliot Abrams und John Bolton - ihre Sporen durch die Unterstützung lateinamerikanischer Militärregime und Todesschwadronen, insbesondere des schmutzigen Kriegs der Kontras gegen Nicaragua, verdient haben. Syrien und Iran befinden sich mittlerweile im Fadenkreuz der US-Außenpolitik.
Die Ablehnung des Irakkriegs durch einige europäische Regierungen, insbesondere die deutsche und die französische, hat sich schnell als Augenwischerei erwiesen. Mittlerweile haben sie grünes Licht für die Besatzung gegeben und unterstützen diese, indem sie die USA in Afghanistan entlasten und irakische Sicherheitskräfte ausbilden. Ihre Opposition richtete sich von Anfang an nicht gegen die militärische Unterjochung eines unterdrückten Landes, sondern gegen die Gefährdung ihrer eigenen imperialistischen Interessen. Das Bemühen der USA, die Golfregion mit ihren reichen Erdölvorräten unter ihre direkte Kontrolle zu bringen, bedroht langfristig die europäische Energieversorgung und lukrative Absatzmärkte.
Die europäischen Großmächte haben auf die Aggression des US-Imperialismus mit militärischer Aufrüstung und der Verabschiedung einer eigenen Sicherheitsstrategie reagiert, die unprovozierte militärische Präventivschläge vorsieht. Sie haben Nato-unabhängige, europäische Eingreiftruppen aufgebaut, die weltweit intervenieren können, und eine europäische Rüstungsagentur gegründet, die Europa unabhängig von amerikanischer Waffentechnologie macht.
Das Ziel besteht auf beiden Seiten darin, sich bei der kolonialen Neuaufteilung der Welt, die mit dem Irakkrieg begonnen hat, einen Anteil an den weltweiten Rohstoffen, Märkten und billigen Arbeitskräften zu sichern. Die Logik dieser Entwicklung führt zur weiteren Eskalation militärischer Konflikte - gegen Syrien und Iran, gegen Nordkorea, China, möglicherweise gegen Russland und schließlich zwischen den Großmächten selbst. Wie in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts beschwört der Kampf um die Aufteilung und Neuaufteilung der Welt wieder die Gefahr eines Weltkriegs herauf.
Hand in Hand mit dem zunehmenden Militarismus geht die Zerstörung demokratischer und sozialer Rechte. Bushs "Krieg gegen den Terror" hat zwei Seiten. Außenpolitisch bedeutet er den ungehemmten Einsatz militärischer Gewalt, innenpolitisch die Beseitigung elementarer Grundrechte, den Aufbau Orwellscher Sicherheitsbehörden und die weitere Umverteilung des Volksvermögens von unten nach oben.
Europa geht denselben Weg. Der europäische Integrationsprozess unter Federführung der EU dient dazu, die europäischen Großmächte und Konzerne gegenüber ihren internationalen Rivalen zu stärken, indem der Lebensstandard und die demokratischen Rechte der Arbeiterklasse zerschlagen werden.
Die neue EU-Verfassung schreibt nicht die Rechte der europäischen Bürger fest, sondern die Rechte des Kapitals und der herrschenden Eliten auf Kosten der arbeitenden Menschen. Sie regelt die freie Bewegung von "Dienstleistungen, Waren und Kapital", während sie der Bewegungsfreiheit der Arbeitnehmer strikte Beschränkungen auferlegt. Besonders krass äußert sich das an ihrer Haltung gegenüber Flüchtligen und Immigranten. Tausende sterben jährlich an den europäischen Grenzen, weil Europa in eine abgeschottete Festung verwandelt wurde.
Die Begriffe "Freiheit, Sicherheit und Gerechtigkeit" sind an die Garantie gebunden, einen "Binnenmarkt mit freiem und unverfälschtem Wettbewerb" zu sichern. Die Verfassung sieht ferner die Entwicklung einer gemeinsamen Militärpolitik vor, um Europa als eine von den USA und der Nato unabhängige Kraft zu etablieren, inklusive einer eigenen Kommandostruktur und eines eigenen Außenministers.
Welche Perspektive?
Dieser Kurs trifft in der europäischen Bevölkerung auf breiten Widerstand. Schon vor zwei Jahren gingen Millionen gegen den Irakkrieg auf die Straße. Besonders groß waren die Demonstrationen in Italien und Großbritannien, wo die Regierungen von Berlusconi und Blair den Krieg unterstützten. Seither ist es in Frankreich, Deutschland, Italien und zahlreichen anderen Ländern immer wieder zu Massenprotesten gegen den grassierenden Sozialabbau gekommen.
Was diesen Protesten bisher aber fehlt, ist eine tragfähige Perspektive, die den weitverbreiteten Widerstand bündeln und gegen die Ursache von Krieg und Reaktion richten kann - das kapitalistische Profitsystem und das Nationalstaatensystem, auf dem es beruht.
Um gegen Krieg und soziale Reaktion zu kämpfen, muss man deren Ursache verstehen: die Krise des kapitalistischen Systems. Der Kampf gegen Krieg und Sozialabbau erfordert eine sozialistische Perspektive. Die Arbeiterklasse muss sich international zusammenschließen und für eine sozialistische Gesellschaft kämpfen, die die gesellschaftlichen Bedürfnisse über das Profitstreben stellt.
Die Bush-Regierung und ihre rechte Politik sind Ausdruck einer tiefen Krise des amerikanischen Kapitalismus. Diese Krise hat zwei eng verbundene Aspekte. Zum einen nimmt das relative Gewicht der USA in der Weltwirtschaft ab; das massive Außenhandels- und Haushaltsdefizit und der Wertverlust des Dollars gegenüber dem Euro sind eine Folge dieser Entwicklung. Die US-Regierung bemüht sich, ihr sinkendes wirtschaftliches Gewicht durch den Einsatz ihrer militärischen Übermacht wett zu machen, daher die Kriege gegen Afghanistan und Irak. Zum andern hat die soziale Polarisierung in den USA ein explosives Ausmaß angenommen. Die Konzentration des gesellschaftlichen Reichtums an der Spitze der Gesellschaft, während die Maße der Bevölkerung ein zunehmend prekäres Leben führt, lässt sich nicht mit demokratischen Herrschaftsformen vereinbaren.
Die Krise in den USA hat unmittelbare Auswirkungen auf Europa. Die Politik des sozialen Ausgleichs der Nachkriegszeit war eng mit der Vorherrschaft des amerikanischen Kapitalismus verbunden. Im Interesse des Kalten Kriegs gegen die Sowjetunion griffen die USA ihren westeuropäischen Rivalen unter die Arme. Der Zusammenbruch der Sowjetunion hat die herrschende Elite der USA überzeugt, dass sie sich nicht mehr um die Stabilität Europas bemühen muss. Diese Wende der US-Politik hat explosive wirtschaftliche, politische und militärische Spannungen hervorgerufen. Der europäische Imperialismus reagiert darauf, indem er seine globalen Interessen mit zunehmender Aggressivität verfolgt und im Innern "amerikanische Verhältnisse" einführt.
Dieser Kurs wird von sozialdemokratischen und konservativen Parteien gleichermaßen getragen. Die Politik der rot-grünen Regierung in Deutschland unterscheidet sich nur in Nuancen von derjenigen der konservativen in Frankreich oder von New Labour in England. Und ungeachtet der unterschiedlichen Haltung zum Irakkrieg arbeiten Deutschland, Frankreich und England beim Aufbau europäischer Streitkräfte eng zusammen. Schon daran wird deutlich, dass das Anwachsen von Militarismus und sozialer Reaktion nicht einfach das Ergebnis einer bestimmten Politik, sondern Ausfluss einer tiefen Krise des kapitalistischen Systems sind.
Sozialdemokratie und Gewerkschaften
Aufgerufen zur heutigen Demonstration in Brüssel hat ein breites Bündnis, das von den offiziellen Gewerkschaften über Organisationen wie Attac bis hin zu Friedensinitiativen reicht.
Sie sind fast alle durch zahlreiche Fäden mit der Sozialdemokratie verbunden. So arbeiten die deutschen Gewerkschaften IG Metall und Ver.di eng mit der Berliner Regierung zusammen und haben in den vergangenen Monaten zahlreiche Knebelverträge über Sozialabbau und Lohnsenkung unerzeichnet. Attac entstand in Anlehnung an die französische Sozialistische Partei, als diese die Regierung in Paris führte. Und das Europäische Sozialforum, von dem der ursprüngliche Demonstrationsaufruf stammt, tagte im vergangenen Oktober in London mit massiver Unterstützung des Labour-geführten Stadtrats.
Die zentrale These dieser Organisationen lautet, dass im Gegensatz zur gegenwärtigen "neoliberalen" Wirtschaftpolitik im Rahmen der kapitalistischen EU auch eine soziale Wirtschaftspolitik möglich sei, und dass die europäischen Regierungen im Gegensatz zur amerikanischen eine Außenpolitik im Interesse des Friedens verfolgen könnten. Ihr Ziel besteht darin, die Herrschenden und insbesondere die Sozialdemokratie unter Druck zu setzen und zu einer anderen Politik zu bewegen. Den Aufbau einer unabhängigen sozialistischen Bewegung und eine sozialistische Perspektive lehnen sie ab.
Diese Perspektive führt in die Sackgasse. Sie hindert die Arbeiterklasse daran, die notwendigen Schlussfolgerungen aus dem Niedergang des Sozialreformismus zu ziehen und mit der Sozialdemokratie zu brechen. Letztere trägt eine zentrale Verantwortung für die heutige soziale Misere. Vor sieben Jahren waren fast in ganz Europa sozialdemokratische Regierungen an der Macht, in Deutschland und England sind sie es heute noch. Überall haben sie sich einer Wirtschaftspolitik im Interesse der Wirtschaftsverbände verschrieben. Ihre Rechtswendung ist irreversibel.
Es gibt keine Alternative zum "Neoliberalismus" im Rahmen des globalen Kapitalismus. Die Globalisierung der Produktion hat der Reformpolitik im Rahmen des Nationalstaats den Boden entzogen. Die transnationalen Konzerne, die das moderne Wirtschaftsleben beherrschen, können Produktions- und Dienstleistungsprozesse ohne größere Schwierigkeiten in Länder verlagern, wo Löhne und Steuern niedriger sind. Gewerkschaften und Sozialdemokratie stehen dieser Entwicklung hilflos gegenüber. Fixiert auf den Nationalstaat und dessen Konkurrenzfähigkeit auf dem Weltmarkt, die sie verteidigen, fallen sie den Arbeitern unweigerlich in den Rücken und bewegen sich unaufhaltsam nach rechts.
World Socialist Web Site und Vierte Internationale
Man kann gegen den Kurs der EU nicht auf der Grundlage einer nationalreformistischen Perspektive ankämpfen, die die nationale Souveränität verteidigt. Eine solche nationalistische Perspektive spaltet die Arbeiterklasse und erleichtert die Angriffe der Unternehmen. Die Verteidigung selbst der elementarsten Rechte und Errungenschaften erfordert heute eine grundlegend andere Strategie, in deren Mittelpunkt die internationale Einheit der Arbeiterklasse auf der Grundlage eines sozialistischen Programms stehen muss.
Nur die Schaffung von Vereinigten Sozialistischen Staaten von Europa kann den Weg für die Entwicklung der Produktivkräfte des Kontinents unter der demokratischen Kontrolle der Arbeiterklasse ebnen.
Dieselben ökonomischen und gesellschaftlichen Veränderungen, die dem sozialreformistischen Programm der SPD den Boden entzogen haben, schaffen auch die objektiven Voraussetzungen für eine Wiederbelebung des marxistischen Programms der sozialistischen Revolution.
Die Globalisierung hat die Reihen der internationalen Arbeiterklasse enorm anschwellen lassen. Die Polarisierung zwischen Arm und Reich in allen kapitalistischen Gesellschaften, allen voran den USA, das Anwachsen von Militarismus und Krieg sowie die zunehmenden Konflikte zwischen den Großmächten haben die gesellschaftlichen Gegensätze zum Zerreißen angespannt. Millionen von Menschen haben sich den traditionellen Parteien entfremdet und suchen nach einer gesellschaftlichen Alternative.
Die World Socialist Web Site wird vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale und ihren Sektionen, den Parteien für Soziale Gleichheit, auf der ganzen Welt herausgegeben. Ihr Ziel besteht darin, das politische Verständnis der arbeitenden Bevölkerung zu heben und die Grundlage für eine unabhängige sozialistische Bewegung zu schaffen, die die Arbeiterklasse international vereint. Sie erscheint in mehreren Sprachen, analysiert täglich die wichtigsten politischen, sozialen und kulturellen Ereignisse und gibt eine sozialistische Orientierung.
Wir laden alle ein, die ernsthaft gegen Krieg und soziale Reaktion kämpfen wollen, die World Socialist Web Site zu lesen und sich am Aufbau der Partei für Soziale Gleichheit und des Internationalen Komitees der Vierten Internationale zu beteiligen.
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