Am 1. Juni, drei Tage nach der Abstimmung in Frankreich, findet in den Niederlanden ein Referendum über die EU-Verfassung statt. Derzeit droht der Regierung um Ministerpräsident Jan-Peter Balkenende eine empfindliche Niederlage. In aktuellen Umfragen spricht sich die Bevölkerung mehrheitlich gegen das Vertragswerk aus, und damit gegen die Position aller großen Parteien im Parlament.
62 Prozent der Befragten geben an, sie würden mit Nein stimmen - gegenüber 12 Prozent Ja-Stimmen und 26 Prozent, die noch unentschieden sind. Innerhalb von sechs Monaten ist damit die Stimmung im Land vollständig gekippt. Noch im Dezember letzten Jahres hatten laut einer Eurobarometer -Umfrage 73 Prozent der Befragten angegeben, für die Verfassung stimmen zu wollen. Seitdem sinkt der Prozentsatz der Befürworter Monat für Monat.
Die scheinbar hohe Unterstützung für die Verfassung war ein erheblicher Faktor, der zu diesem ersten Referendum in der modernen Geschichte des Landes geführt hat. Bis 2003 hatten sich die beiden größten Parteien der Regierungskoalition, der Christlich-Demokratische-Apell (CDA) und die Partei für Freiheit und Demokratie (VVD), gegen jede Form der Volksbefragung gestellt. CDA und VVD vertraten die Ansicht, ein Referendum unterminiere die Unabhängigkeit des Parlaments. Damit stellten sie sich in Gegensatz zum dritten Koalitionspartner, den Demokraten66 (D66). Erst nachdem drei Abgeordnete den Gesetzesentwurf für ein nicht bindendes Referendum zur EU-Verfassung im Parlament eingebracht hatten, ließen CDA und VVD ihren Widerstand fallen - die Umfragen schienen sicher zu stellen, dass die Bevölkerung im Sinne der Regierung stimmen würde.
Die Lager der Verfassungsbefürworter und -gegner
Neben den Koalitionsparteien CDA, VVD und den sozialliberalen D66 befürworten auch die oppositionelle sozialdemokratische Partei von der Arbeit (PvdA) und die aus einem Zusammenschluss aus stalinistischer KP und pazifistisch-christlichen Parteien hervorgegangene Groenlinks die EU-Verfassung. Die Befürworter des Vertragswerks verfügen damit rechnerisch über eine Mehrheit von 128 Sitzen im 150 Sitze umfassenden niederländischen Parlament.
Alle Parteien greifen im Werben für die Verfassung auf rechte Argumente aus früheren Wahlkämpfen zurück. Sie erklären unisono, die Verfassung stärke die Terrorismus- und Kriminalitätsabwehr. So begrüßt die PvdA die wachsende "Schlagkraft" der EU.
Die PvdA, die mit 42 Sitzen die zweitstärkste Fraktion im Parlament stellt, unterstützt den politischen Kurs der Regierungskoalition nicht nur in der Frage der EU-Verfassung. Die Sozialdemokraten stehen auch hinter dem historisch einmaligen Kürzungsprogramm der Regierung, das sie 2002 in schließlich gescheiterten Koalitionsverhandlungen mit dem CDA selbst mit ausgearbeitet hatten, und hinter der politischen und militärischen Unterstützung des Irakkriegs durch die niederländische Regierung.
Auch die europaweite Angleichung der Richtlinien über den Umgang mit Flüchtlingen und Asylsuchenden wird von den Befürwortern der Verfassung geschlossen unterstützt. Dabei hat sich die niederländische Regierung durch ihre unmenschliche Härte im Umgang mit Flüchtlingen in der Vergangenheit besonders hervor getan. Massendeportationen von Einwanderern, deren Verfahren noch nicht abgeschlossen war, gehen auf die für Flüchtlingsfragen und Asyl zuständige Ministerin Rita Verdonk (CDA) zurück. Auf ihre Veranlassung wurden Deportationszentren errichtet und die Unschuldsvermutung für Flüchtlinge faktisch abgeschafft.
Die Regierungsparteien betonen auch die Bedeutung des gemeinsamen Markts mit einer "durch den Stabilitätspakt gesicherten Währung" für die Konjunktur. Prognosen sagen für dieses Jahr ein deutliches Wirtschaftswachstum voraus. Dieses wird allerdings nicht der Bevölkerung zugute kommen. Aufgrund massiver Kürzungen bei Sozialleistungen und Löhnen und gleichzeitigen Entlastungen für die Wirtschaft ist die soziale Polarisierung in den vergangenen Jahren stark angewachsen, die Arbeitslosigkeit gestiegen und der durchschnittliche Lebensstandard gesunken.
Gegen die EU-Verfassung stellen sich die Liste Pim Fortuyn (LPF) und der parteilose Geert Wilders (ehemals VVD), der derzeit bekannteste Rechtspopulist des Landes. Sie setzen auf nationalistische und ausländerfeindliche Argumente. Die Verfassung beschneide die nationale Souveränität, schaffe ein bürokratisches Monster und bedrohe das Land mit einer weiteren Einwanderungswelle aus den neuen Mitgliedsstaaten, vor allem wenn die Türkei in die EU aufgenommen würde.
Besonders Geert Wilders schürt offen antimuslimische Stimmungen gegen die Türkei. Sollte diese aufgenommen werden, habe "ein islamisches Land mit Millionen Einwohnern einen enormen Einfluss auf den föderalen Superstaat", behauptet er. Mit der neuen EU-Verfassung "hätte die Türkei mehr Einfluss auf die niederländische Gesetzgebung als das Land selbst".
Von den Medien wird Wilders geradezu hofiert. Seiner geplanten, aber noch nicht ins Leben gerufenen Partei wird bei aktuellen Umfragen mit 26 Sitzen ein ähnlicher Erfolg zugetraut, wie ihn die Liste Pim Fortuyn (LPF) bei den Parlamentswahlen 2002 erzielte. Die LPF verdankte ihren damaligen Erfolg neben der enormen Medienpräsenz vor allem der Frustration der Bevölkerung über die offizielle Politik. Nach einer 80-tägigen Regierungsbeteiligung verlor sie ihren Einfluss rasch wieder und errang bei den nachfolgenden Wahlen nur noch acht Parlamentssitze.
Die ehemals maoistische Sozialistische Partei (SP) lehnt die Verfassung der Europäischen Union ebenfalls ab. Sie bezeichnet die Verfassung als neoliberales Projekt, das den Militarismus und die "zerstörerischen Kräfte" stärke, die den Lebensstandard der Menschen vernichten. Sie setzt dem Verfassungsprojekt eine rechte, nationalistische Orientierung entgegen und verbreitet die Illusion, mit einem "starken Nationalstaat" könne der einstmals erreichte Lebensstandard verteidigt werden. Stück für Stück, so der SP-Vorsitzende Jan Marijnissen in einem Artikel im NRC Handelsblad vom April 2005, hätten die diversen Regierungen der Niederlande nationale Rechte an Brüssel abgegeben. "Bevor du Ja’ zur Verfassung sagst musst du verstehen", so Marijnissen, "dass die Niederlande zu einer machtlosen Provinz werden, wenn die Verfassung angenommen wird."
Politische Krise
Anders als in Frankreich ist das Referendum in den Niederlanden nicht bindend. Das Parlament kann sich gegen den Willen der Bevölkerung für die Ratifizierung der Verfassung entscheiden. Doch D66, Groenlinks und die SP haben erklärt, sie würden sich dem Wählerwillen in jedem Fall anschließen. Die PvdA will den Ausgang als bindend anerkennen, wenn die Beteiligung "groß" ist, was immer dies sein mag. Der CDA hat genaue Kriterien für die Anerkennung der Abstimmung angegeben: Eine mindestens 30-prozentige Beteiligung und eine mindestens 60-prozentige Mehrheit für oder gegen die Verfassung.
Das Anwachsen der Nein-Stimmen ist ein Ergebnis der Opposition breiter Teile der Bevölkerung gegen die Politik der Regierung. Vor allem deren Sozialkürzungen und Unterstützung für den Irakkrieg treffen auf massive Ablehnung. Mit dem Näherrücken des Abstimmungstermins und der verstärkten öffentlichen Debatte über die Verfassung ist auch das Nein-Lager kontinuierlich angewachsen. So trägt das Referendum, das als demokratisches Deckmäntelchen eine bereits getroffene Entscheidung legitimieren sollte, nun zur weiteren Instabilität und dauerhaften Krise der Balkenende-Regierung bei.
Betroffen ist vor allem die sich selbst als "linksliberal" bezeichnende D66. Sie tritt in Worten für eine Gesellschaft des sozialen Ausgleichs ein. Doch in der Regierung trägt sie Mitverantwortung für die entgegengesetzte Politik. Nach aktuellen Umfragen würde die D66 nicht mehr im Parlament vertreten sein, wenn derzeit Wahlen anstünden.
Bereits vor wenigen Wochen war im Parlament ein D66-Reformvorschlag zur Direktwahl der Bürgermeister gescheitert, die derzeit noch vom Königshaus ernannt werden. Der anschließende Rücktritt des zuständigen D66-Ministers Thom de Graaf löste eine Regierungskrise aus. Ein Austritt der D66 aus der Koalition konnte nur durch Zugeständnisse verhindert werden: CDA und VVD stimmten einer Erhöhung des Bildungsetats zu und versicherten der D66 ihre Unterstützung bei zukünftigen Reformvorhaben zur Durchsetzung der "direkten Demokratie".
Ein Scheitern der EU-Verfassung wäre ein harter Schlag für die "Linksliberalen" und könnte eine weitere Regierungskrise auslösen. Ebenso fatal wäre es für die D66, wenn die Verfassung im Referendum abgelehnt wird, sich das Parlament aber über den Bevölkerungswillen hinwegsetzt und die Verfassung ratifiziert. Im Kampf um ihr politisches Überleben bliebe der Partei nur noch der Rückzug aus der Koalition oder aber das Versinken in der Bedeutungslosigkeit.
Dementsprechend nimmt die Schärfe der Auseinandersetzung um die Verfassung zu. Die Regierung versucht, mit einer knapp 1,5 Millionen Euro teuren Kampagne für die Verfassung einen öffentlichen Meinungsumschwung herbei zu führen.
Die stellvertretende Vorsitzende der D66, Lousewies van der Laan, beschimpfte gar die Bevölkerung: "Niemand nimmt Notiz, niemand weiß worum es in der Verfassung geht und niemand fühlt sich für das Ergebnis verantwortlich. Es gibt eine unglaubliche Apathie." Eine bemerkenswerte Stellungnahme vom Führungsmitglied einer Partei, die nach eigenen Worten in der "direkten Demokratie" ein Mittel sieht, um die tiefe Kluft zwischen der (bürgerlichen) Politik und der Bevölkerung zu überwinden.
Angesichts der wachsenden Nervosität der herrschenden Elite in den Niederlanden ist es nicht überraschend, dass sie gebannt auf das Referendum in Frankreich blickt. Wenn dort - drei Tage vor der Abstimmung in den Niederlanden - die Bevölkerung die EU-Verfassung ablehnt, so einige Stimmen aus Regierungskreisen, müsse man in den Niederlanden ja gar nicht mehr zur Wahl rufen.