Frankreich: Eine halbe Million protestieren gegen Regierung

Über 500.000 Menschen demonstrierten am Samstag den 5. Februar in ganz Frankreich gegen die wachsenden Angriffe der Regierung von Jean-Pierre Raffarin. Mit Billigung von Präsident Jacques Chirac setzt die Regierung zur Zeit ein Gesetz durch, das die Arbeitszeit über die aktuell gültige 35-Stundenwoche hinaus ausdehnt. Gleichzeitig haben die seit der Einführung des Euro erfolgten Preiserhöhungen den Lebensstandard der Arbeiter stark unterhöhlt.

Der überwältigende Widerstand der Arbeiter des öffentlichen Dienstes sowie der Privatindustrie überraschte die Initiatoren der Demonstration, die CGT, CFDT, FO und einige kleinere Gewerkschaften. Im Vorfeld zur Demonstration am Samstag hatten die Gewerkschaftsführer einhellig erklärt, es würden nicht mehr als 300.000 Arbeiter teilnehmen.

Im ganzen Land fanden über 120 Demonstrationen statt. In großen Städten gingen Tausende auf die Straße, z.B. demonstrierten 30.000 durch Marseille, während in Paris weit über 50.000 von der Place de la Republique zur Place de la Nation marschierten.

Auf der Pariser Demonstration verteilten Mitarbeiter der World Socialist Web Site 5.000 Handzettel mit der Erklärung: "Französische Arbeiter brauchen eine neue politische Perspektive - politische Fragen im Kampf gegen die Angriffe von Chirac und Raffarin".

In dieser Erklärung wird gewarnt: "Natürlich ist massenhafter Widerstand gegen diese Angriffe nötig und begrüßenswert, aber die Frage einer gangbaren politischen Perspektive stellt sich dringende als je zuvor. Wenn man aus den Erfahrungen der letzten zehn Jahre eine wichtige Lehre ziehen kann, dann ist es die, dass keine Partei oder Organisation der sogenannten Linken eine Antwort auf diese Probleme gibt."

Diese Warnung wurde durch die Ereignisse des Tages voll bestätigt. Sämtliche Gewerkschaften verhielten sich äußerst vorsichtig und hüteten sich davor, klare Forderungen aufzustellen. Auf den Demonstrationen gab es so gut wie keine Transparente oder Handzettel mit konkreten Forderungen. Dies ist offensichtlich die wichtigste Lehre, die die Bürokraten gezogen haben, nachdem sie die Bewegung zur Verteidigung der Renten im Jahr 2003 schmählich abgewürgt haben. Damals hatte z.B. die CGT eine Zeitlang verlangt, dass die 37,5 Renten-Beitragsjahre wieder für alle gelten müssten, nur um diese Forderung dann mit Rücksicht auf die Regierung fallen zu lassen.

Bezeichnend für das nervöse und vorsichtige Lavieren der Gewerkschaftsführung waren die Aussagen von Thierry Dumez, des CGT-Generalsekretärs des Pariser Vorortbezirks Seine - Saint Denis. Als ein WSWS -Mitarbeiter ihn während der Demonstration über die Ziele der Gewerkschaft befragte, antwortete er ausweichend: "Die heutigen Forderungen der CGT lauten, eine bessere Umverteilung der Profite, eine Erhöhung der Gehälter, die Verbesserung der Kaufkraft aller abhängig Beschäftigten und die Reduzierung der Arbeitszeit, um die Arbeitslosigkeit in Frankreich abzubauen."

Philippe Lengrand, der CFDT-Regionalsekretär für die Pariser Region, antwortete sogar noch unbestimmter: "Unsere Forderungen drehen sich um die Frage der Reduzierung der Arbeitzeit. Wir haben heute eine Regierung, die die 35-Stundenwoche angreifen will, die die Arbeitsgesetze angreifen will, und die abhängig Beschäftigte damit ködern will, dass sie vorgibt, wer mehr arbeite, würde auch mehr verdienen - was nicht stimmt."

Premierminister Jean-Pierre Raffarin ging am Montag in einem Interview des öffentlichen Radios France Inter auf die Massendemonstrationen ein und sagte: "In einer Demokratie sehe ich nichts Verwerfliches an einer Demonstration, aber ich erwarte auch von den Gewerkschaftsführern, dass sie ihrerseits das Parlament nicht verachten.... Ich bin nicht taub, aber nur weil ich etwas höre, muss ich dem noch nicht Folge leisten." Darauf fügte er hinzu, das Gesetz zur Verlängerung der 35-Stundenwoche werde "dem vorbereiteten Zeitplan folgen", denn "so ist das demokratische Leben".

Raffarin kann solche arroganten Statements machen, weil er genau weiß, dass die Gewerkschaften alles in ihrer Macht Stehende tun werden, um eine soziale Bewegung zu stoppen, ehe sie ihrer Kontrolle entgleitet und für die Regierung gefährlich wird. In der WSWS -Erklärung heißt es dazu: "Das ergibt sich aus der nationalistischen Perspektive der Gewerkschaften. Sie knüpfen die Verteidigung der Lebensbedingungen französischer Arbeiter an die Verteidigung der französischen Industrie gegen ihre internationalen Rivalen. Von diesem Standpunkt aus vermeiden sie alles, was der Position der französischen Wirtschaft ernsthaft schaden oder den politischen Status Quo gefährden könnte."

Inzwischen beteiligen sich die Sozialistische und Kommunistische Partei in der Nationalversammlung an den parlamentarischen Spielchen. Zum Gesetz über die Ausdehnung der 35-Stundenwoche haben sie über 2.000 Zusatzanträge eingebracht, um die Verabschiedung des Gesetzes um einige Tage zu verzögern. Wie die Gewerkschaftsführer vermeiden es die SP und KPF unter allen Umständen, Forderungen aufzustellen, die eine soziale Bewegung provozieren könnten. Sie lassen keinen Zweifel daran, dass sie das neue Gesetz nach seiner schlussendlichen Verabschiedung stillschweigend akzeptieren werden.

Als das Gesetz über die 35-Stundenwoche von Lionel Jospins Regierung der Mehrheitslinken eingeführt wurde, hat gerade dies zu einer Lockerung der festen Arbeitszeiten geführt. Das neue Gesetz der Raffarin-Regierung baut auf der juristischen Vorarbeit auf, die die Sozialistische und Kommunistische Partei geleistet haben, während sie die Regelarbeitszeit auf den alten Standard zurückschraubt oder noch verlängert.

Die Parteien auf der äußersten Linken, die Lutte Ouvrière von Arlette Laguiller (LO) und die Ligue Communiste Révolutionnaire (LCR) von Alain Krivine, erklären den Arbeitern, die einzige mögliche Perspektive sei ein gewerkschaftlicher Kampf, um die Regierung zum Rückzug zu zwingen.

Der LCR-Handzettel auf der Demonstration vom Samstag schloss mit den Worten: "Werden die Gewerkschaften neue Initiativen, eine Perspektive vorschlagen, um die notwendige, gemeinsame Mobilisierung vorzubereiten? Viele erwarten es. Es liegt an den Aktivisten, an den Arbeitern, sich auch in ihrer eigenen Organisation Gehör zu verschaffen, um für ein Vorgehen in dieser Richtung zu mobilisieren."

In ähnlichem Ton, wenn auch mit etwas radikaleren Phrasen, ist Arlette Laguillers Leitartikel vom 7. Februar abgefasst: "1995 wurde [Premierminister] Juppé trotz seiner großen Worte durch die Konfrontation mit den Eisenbahnern zum Rücktritt gezwungen. Heute braucht es eine ähnliche Mobilisierung, aber in einem anderen Ausmaß, nicht eines einzelnen Zweigs der Arbeiter, sondern aller Arbeiter. Nur durch eine breite, kollektive, explosive, unkontrollierbare Reaktion können Arbeiter diese zynischen Minister, diese Maulwürfe des Unternehmerverbands in der Regierung, zum Schweigen bringen, alle Angriffe auf ihre Existenzbedingungen stoppen und ihren Abstieg in die Armut aufhalten."

Eine derart begrenzte, syndikalistische und nationale Perspektive, wie sie von diesen alten und überholten Organisationen vertreten wird - von der Sozialistischen Partei und den Gewerkschaften bis hin zur LO und der LCR - hat sich in den letzten zwanzig Jahren schon wiederholt Male als bankrott erwiesen.

So wird in der WSWS -Erklärung betont, dass Arbeiter eine neue Perspektive brauchen: "Arbeiter müssen anerkennen, dass nicht einmal die verbliebenen sozialen Errungenschaften mit Hilfe beschränkter, vereinzelter Kämpfe verteidigt werden können. Sie sind mit einer Krise des Weltkapitalismus und des veralteten Nationalstaatensystems konfrontiert. Die Produktivkräfte der Welt revoltieren gegen die Fesseln des Nationalstaatensystems.

Die Arbeiterklasse ist eine internationale Klasse, die untrennbar mit den mächtigsten Produktivkräften der Erde verbunden ist. Nur wenn die Arbeiter als geeinte, internationale Klasse für ihre unabhängigen, politischen Interessen kämpfen, können sie den Würgegriff des Kapitalismus über den Planeten aufbrechen und die Produktivkräfte befreien, um die Bedürfnisse der Menschheit zu befriedigen, statt wie im heutigen System eine schmale Schicht von superreichen Millionären zu bereichern. Eine solche internationale Perspektive, die sich zum Ziel setzt, die Weltwirtschaft und -gesellschaft auf einer neuen, vernünftigen, sozialistischen Grundlage zu organisieren, muss die Grundlage für die künftigen Kämpfe der Arbeiter bilden."

Siehe auch:
Frankreich: Regierung ermutigt Angriffe auf Arbeiter
(16. September 2004)
Die radikale Linke in Frankreich
( 6. Mai 2005)
Versammlung in Paris stellt sozialistische Plattform für europäische Arbeiter vor
( 24. Juni 2004)
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