Nur wenige Wochen vor den offiziellen Feierlichkeiten zum 15. Jahrestag des Falls der Mauer im Herbst 1989 haben Äußerungen von Bundespräsident Horst Köhler eine heftige Kontroverse ausgelöst. Gegenüber dem Magazin Focus erklärte Köhler, es gäbe "nun einmal überall in der Republik große Unterschiede in den Lebensverhältnissen". Den Abbau dieser Ungleichheit lehnte er mit der Begründung ab, wer die Unterschiede einebnen wolle, zementiere "den Subventionsstaat" und lege der jungen Generation eine "untragbare Schuldenlast" auf.
Mehrere SPD-Politiker sprachen daraufhin von einer "ausgesprochen unglücklichen Formulierung" Köhlers. Der stellvertretenden Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion, Ludwig Stiegler, sagte der Berliner Zeitung, wenn das Ziel der Angleichung der Lebensverhältnisse in Ost und West aufgegeben werde, dann werde das in Ostdeutschland als "Aufruf zur Resignation" verstanden. Der wirtschaftspolitische Sprecher der Grünen, Fritz Kühn, machte auf die unmittelbar bevorstehenden Landtagswahlen in Sachsen und Brandenburg aufmerksam und warf Köhler "ungewollte Wahlkampfhilfe für die PDS" vor. Die PDS lebe von einem "Grundgefühl vieler Ostdeutscher zweitklassig zu sein". Wenn Köhler sage, dass es "Gleichheit zwischen Ost und West" nie geben werde, heize er genau dieses Gefühl an.
"Das richtige Thema zum falschen Zeitpunkt" titelte die Süddeutsche Zeitung. Doch anders als in früheren Fällen, machte Köhler diesmal keinen Rückzug. Das Bundespräsidentialamt wies den Vorwurf einer ungeschickten oder unbedachten Äußerung umgehend zurück und erklärte, der Präsident habe sich sehr präzise ausgedrückt. Der Wortlaut seiner Aussagen könne im übrigen auf der Internet-Site des Präsidentialamtes nachgelesen werden.
Es dauerte nicht lange, dann sammelte sich in Politik und Wirtschaft eine große Koalition zur Verteidigung und Unterstützung von Köhlers Aussagen, ähnlich wie das bereits in der Frage der Arbeitsmarktreformen Hartz IV stattgefunden hatte. Kanzler Gerhard Schröder (SPD) nahm den Bundespräsident ausdrücklich in Schutz - was ihn nicht daran hinderte zu beteuern, dass alle Verfassungsgremien an der im Grundgesetz festgelegten "Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse in Ost und West" festhalten würden.
Altbundespräsident Richard von Weizsäcker, Wirtschaftsminister Wolfgang Clement (SPD) und viele Sprecher von Wirtschaftsverbänden eilten dem Präsidenten zur Hilfe und unterstützten seine Aussagen. Im Magazin Der Spiegel jubelt Christian Malzahn: "Bravo Mr. Präsident!" und schleudert den Kritikern entgegen: "Der Skandal besteht darin, dass Köhlers Wahrheiten nicht schon vor 15 Jahren ausgesprochen worden sind".
Köhlers Aussagen sind deshalb bedeutsam, weil er - als oberster Repräsentant des Staates - sozusagen offiziell das Ende der Politik des sozialen Ausgleichs bekannt gab. Während der gesamten Nachkriegsperiode war die deutsche Wirtschafts- und Sozialpolitik auf ein hohes Maß an sozialem Ausgleich ausgerichtet. Der Länderausgleich war Bestandteil dieser Politik, krasse soziale Gegensätze zu vermeiden.
Nach Weltkrieg und faschistischer Diktatur war die Überwindung der sozialen Spaltung der Gesellschaft sogar zum Verfassungsziel erhoben worden. In Artikel 20 des Grundgesetzes wird die Bundesrepublik nicht nur als demokratischer sondern ausdrücklich als "sozialer Bundesstaat" definiert, und an Schulen und Hochschulen wurde diese "Sozialstaatlichkeit als Verfassungsnorm" und das "Sozialstaatsprinzip" im Einzelnen erläutert. Danach bestand eine der zentralen Aufgaben des Staats darin, soziale Missstände, Not und Elend durch eine entsprechende Sozialpolitik zu beseitigen oder nach Kräften zu mindern.
Nach dieser Auffassung war der Staat verpflichtet, das Wohl aller Bürger annähernd gleich zu fördern und die Lasten möglichst gleich zu verteilen. Dieser Ausgleich zwischen sozial Schwachen und Starken beschränkte sich nicht auf Personengruppen, sondern umfasste auch den Ausgleich zwischen einzelnen Bundesländern und Regionen.
In keinem anderen Land wurde soviel über soziale Harmonie und gesellschaftlichen Ausgleich gesprochen und geschrieben wie hierzulande. Immer wieder wurde die "Sozialbindung des Eigentums" als hohes Verfassungsgut bezeichnet und die Zusammenarbeit der "Sozialpartner" betont. Vor knapp 15 Jahren wurde die Wiedervereinigung als "Triumph der Marktwirtschaft" gefeiert und behauptet, der Kapitalismus habe sich als das überlegenere Gesellschaftssystem erwiesen, weil er Freiheit und Demokratie mit wachsendem sozialen Wohlstand verbinde.
Allerdings wurde dann bereits wenige Jahre später, 1994, ohne großes Aufsehen das Grundgesetz geändert und die "Gleichheit der Lebensverhältnisse" im Artikel 72 durch die wesentlich schwächere Formulierung "Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse" ersetzt. Seitdem hat sich die soziale Krise deutlich verschärft. Trotzdem wurde in der offiziellen Propaganda am Ziel der Sozialstaatlichkeit festgehalten.
Wenn nun der Bundespräsident die Anerkennung der Ungleichheit fordert, kommt das einem Eingeständnis des Scheiterns dieser Politik gleich. Und ein Blick in die neuen Bundesländer macht deutlich, dass fünfzehn Jahre nach der Wiedervereinigung die sozialen Gegensätze zwischen Ost- und Westdeutschland nicht kleiner, sondern größer geworden sind.
Nimmt man die Zahlen aus dem vergangenen Jahr dann ergibt sich folgendes Bild: Arbeitslosigkeit - West 9,4 Prozent, Ost 20 Prozent; durchschnittlicher Bruttostundenlohn für Arbeiter - West 15,56 Euro, Ost 10,89 Euro; durchschnittlicher Bruttomonatsverdienst von Angestellten - West 3.824 Euro, Ost 2.853 Euro. Das Bruttoinlandsprodukt je Einwohner liegt im Osten mit 18.580 Euro um ein Drittel niedriger als im Westen mit 27.671 Euro.
Aber es geht nicht nur um einen Ost-West-Gegensatz, wie einige Gewerkschaftsführer und PDS-Funktionäre behaupten. Köhlers Aufruf zur Anerkennung der Ungleichheit geht wesentlich weiter. Er muss im Zusammenhang mit den drastischen sozialen Angriffen der Regierung im Rahmen der Hartz-Gesetze und der systematischen Erpressung gesehen werden, die gegenwärtig in allen Großbetrieben stattfindet. Ein Konzern nach dem anderen stellt die Beschäftigten vor die Alternative, entweder deutliche Lohneinbußen und eine Verschlechterung der Arbeitsbedingungen hinzunehmen, oder die Produktion werde in Billiglohnländer Osteuropas oder Asiens verlagert.
Angesichts der Massendemonstrationen der vergangenen Wochen, auf denen die Forderung nach sozialer Gerechtigkeit im Mittelpunkt stand, fordert Köhler die Elite in Wirtschaft und Politik auf, nicht zurückzuweichen und nicht nachzugeben, sondern mit der Fiktion einer sozialen Marktwirtschaft und der Politik des sozialen Ausgleichs ein für alle Mal Schluss zu machen.
Auch der Zeitpunkt seines Interviews - wenige Tage vor den Landtagswahlen in zwei wichtigen Ost-Ländern, Sachsen und Brandenburg - war nicht das Ergebnis "politischer Unerfahrenheit", wie einige Kommentatoren annahmen, sondern bewusst gewählt. Köhler will damit deutlich machen, dass die Politik nicht länger auf Wahlen und schon gar nicht auf den Druck der Straße Rücksicht nehmen, sondern ihre Ziele unabhängig von wahltaktischen Überlegungen verfolgen soll.
Köhler reagiert mit seinem Interview auf die Verschärfung der internationalen Wirtschaftskrise und des globalen Konkurrenzkampfs, die immer größeren Druck auf die deutsche Wirtschaft ausüben. Um sich auf dem Weltmarkt behaupten zu können, hat in allen Betrieben ein gnadenloser Wettlauf um niedrigste Löhne und Sozialstandards begonnen.
Die Vorstellung, in Deutschland könnten - gestützt auf eine hohe Arbeitsproduktivität und die Erschließung neuer Märkte - Sozialstandards aufrecht erhalten werden, die in den meisten anderen Ländern längst zerschlagen wurden oder nie existiert haben, erweist sich als völlig unhaltbar. Vor allem seit der EU-Osterweiterung wird der Sozialabbau ständig beschleunigt.
Für die Arbeiterklasse ist das Köhler-Interview von großer Bedeutung. Auch sie muss sich von der Illusion der "Sozialpartnerschaft" und "sozialen Marktwirtschaft" verabschieden. Der Vorstellung, die Herrschenden könnten durch Druck und Appelle zu Vernunft und Einsicht gebracht werden, hat Köhler eine deutliche Abfuhr erteilt.
Um der Offensive der Unternehmer und der Regierung entgegenzutreten braucht die Arbeiterklasse eine neue politische Perspektive und eine neue Partei, die von der Unversöhnlichkeit der Klasseninteressen ausgeht und ein revolutionäres, sozialistisches Programm vertritt.