Nach der ukrainischen Präsidentenwahl vom vergangenen Sonntag ist ein Machtkampf zwischen den beiden Kandidaten, dem amtierenden Regierungschef Wiktor Janukowitsch und Oppositionsführer Wiktor Juschtschenko, entbrannt. Die amtliche Wahlkommission hat Regierungschef Janukowitsch zum Wahlsieger erklärt, doch die Opposition hat dies nicht anerkannt. Sie behauptet, die Wahlergebnisse seien gefälscht worden und Juschtschenko sei der legitime Wahlsieger.
Juschtschenko ließ sich am Montag im Kiewer Parlament vor den Abgeordneten der Opposition zum Präsidenten vereidigen. Gleichzeitig demonstrieren seit Montag täglich bis zu 200.000 seiner Anhänger im Stadtzentrum von Kiew und campieren teilweise auf den Straßen. Sie wollen mit einer Kampagne des zivilen Ungehorsams durchsetzen, dass Juschtschenko als Präsident anerkannt wird. Als Vorbild gilt dabei die sogenannte "Rosenrevolution", die vor einem Jahr zum Machtwechsel in Georgien führte, sowie der Sturz von Slobodan Milosevic in Serbien.
In den westlichen Medien wird dieser Machtkampf als Auseinandersetzung zwischen Diktatur und Demokratie, zwischen einem autokratischen Regime und einer demokratischen Opposition dargestellt. Doch diese Darstellung hält einer genaueren Überprüfung nicht stand. Beide, Juschtschenko und Janukowitsch, entstammen der neuen Elite, die nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion den Reichtum des Landes unter sich aufgeteilt hat. Ihre Differenzen sind sehr jungen Datums.
Juschtschenko war von 1993 bis 1999 Chef der ukrainischen Zentralbank und von 1999 bis April 2001 Premierminister - unter demselben Präsidenten Leonid Kutschma, der nun als Drahtzieher seines Rivalen Janukowitsch gilt. Als Notenbankchef und Premierminister war Juschtschenko einer der wichtigsten Architekten der wirtschaftlichen Liberalisierung und Privatisierung, die verheerende soziale Auswirkungen hatte. Mit einem durchschnittlichen Monatseinkommen von 65 Euro ist die Bevölkerung der Ukraine die ärmste Europas, während sich eine verschwindend kleine Schicht von Neureichen maßlos bereichern konnte.
Der Konflikt innerhalb der neuen Elite dreht sich um die Frage, wie sie ihre privilegierte Stellung am besten verteidigen kann - in einem engen Bündnis mit Russland oder durch eine weitere Öffnung für westliche Kapitalinteressen.
Präsident Kutschma, der 1994 an die Macht kam und jetzt abtreten muss, hatte lange Zeit einen sorgfältigen Balanceakt vollführt. Auf der einen Seite bemühte sich um eine enge Zusammenarbeit mit der EU und den USA. Er schloss mehrere Abkommen mit der EU, strebte - bisher erfolglos - die Aufnahme in die Nato an und schickte sogar 1.500 Soldaten zur Unterstützung der US-Besatzung in den Irak. Auf der anderen Seite pflegte er enge Beziehungen zu Russland und dessen Präsidenten Wladimir Putin.
Doch dieser Balanceakt lässt sich nicht länger aufrecht erhalten. Die Ukraine ist unversehens zum Schauplatz heftiger Rivalitäten zwischen Russland auf der einen und den USA und der EU auf der anderen Seite geworden. Beide Seiten haben sich massiv in den Wahlkampf eingemischt und ihren jeweiligen Favoriten - Russland Janukowitsch und die Westmächte Juschtschenko - ohne Skrupel unterstützt. Beide Seiten verfolgen dabei handfeste Interessen.
Putin will verhindern, dass nach dem Anschluss Osteuropas an die Nato und dem Vordringen amerikanischer Stützpunkte nach Zentralasien auch die Ukraine in den westlichen Einflussbereich fällt. Seit geraumer Zeit verfolgt er eine Politik, die früheren Sowjetrepubliken wirtschaftlich und politisch wieder enger an Russland zu binden.
Für die USA und die EU - und hier insbesondere Deutschland - ist die Ukraine mit ihren knapp 50 Millionen Einwohnern aufgrund ihrer strategischen Lage, als potentieller Absatzmarkt und vor allem als Transportkorridor für Öl und Gas von Bedeutung. Rund 80 Prozent der russischen Erdgaslieferungen nach Westeuropa fließen durch die Ukraine. Das deutsche Handelsblatt brachte die deutschen Interessen auf den Punkt, als es am 23. November schrieb: "Die Ukraine ist ein viel zu wichtiger Transportkorridor für Energieträger, sowohl für russisches Öl und Gas als möglicherweise für die Reserven am Kaspischen Meer, als dass das Land zum Spielball des Kremls werden dürfte."
Die Vehemenz, mit denen die Interessen Russlands und der Westmächte in der Ukraine aufeinanderprallen, erinnern an die dunkelsten Zeiten des Kalten Krieges. Sie zeigt, wie gespannt und explosiv die Beziehungen zwischen den Großmächten geworden sind. Noch vor zwei Wochen hatte der russische Präsident Putin dem amerikanischen Präsidenten als Erster zu seiner Wiederwahl gratuliert. Nun stehen sich Washington und Moskau in der Frage des zukünftigen ukrainischen Präsidenten als unversöhnliche Gegner gegenüber. Wird der Konflikt nicht bald gelöst, droht die Auseinandersetzung weiter zu eskalieren. Der Kampf um Einfluss, Märkte und Rohstoffe droht, wie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, wieder zu bewaffneten Konflikten zwischen den Großmächten zu führen.
Einmischung in den Wahlkampf
Putin setzte im ukrainischen Wahlkampf auf Janukowitsch, dessen Basis in der Kohle- und Stahlindustrie des Donezkbeckens und von Dnjepropetrowsk liegt. Der Donezker Schwerindustrielle Rinat Achmetow gilt als sein wichtigster Hintermann. Die Oligarchen der Schwerindustrie fürchten die westliche Konkurrenz und setzen auf eine Anlehnung an Russland. Die Ostukraine verfügt außerdem über einen großen, russischsprachigen Bevölkerungsanteil. Janukowitsch selbst spricht Russisch als Muttersprache.
Die westliche Press hat viel Aufhebens um Putins Einmischung in den ukrainischen Wahlkampf gemacht, der kurz vor der Wahl zwei Mal Kiew besuchte. Dabei ist dies nicht allzu außergewöhnlich, wenn man bedenkt, dass Russland und die Ukraine vor 1991 Jahrhunderte lang ein gemeinsames Staatswesen bildeten und die Ukraine über einen großen russischstämmigen Bevölkerungsanteil verfügt.
Als völlig normal gilt ihr dagegen die massive Einmischung westlicher Regierungen und Institutionen zugunsten Juschtschenkos, der für eine weitere "Öffnung nach Westen" - sprich: Öffnung für westliche Kapitalinteressen - und für eine "Fortsetzung des Reformprozesses" - sprich: Liberalisierung der Wirtschaft - steht.
Juschtschenkos Hochburgen liegen in der westlichen Ukraine, die seit jeher ein Zentrum des ukrainischen Nationalismus war und sich stark an Europa orientierte. Seine Ansichten decken sich mit denen der neuen herrschenden Schicht in Polen, Ungarn und anderen osteuropäischen Ländern, die ihre Zukunft als Juniorpartner der westlichen Großmächte sehen.
Juschtschenko wurde propagandistisch, finanziell und durch die Entsendung von Beratern unterstützt. Europäische und amerikanische Politiker wurden nicht müde, ihn in den höchsten Tönen zu preisen und als vorbildlichen Demokraten zu loben. Kaum waren die Wahlurnen geschlossen, machten sie sich den Vorwurf des Wahlbetrugs zu eigen.
US-Senator Richard Lugar, der als "Wahlbeobachter" in Kiew weilte, sprach von einem "konzentrierten und energischen Programm des Betrugs und Missbrauchs am Wahltag". Der außenpolitische Sprecher der SPD, Gert Weißkirchen, erklärte Juschtschenko zum Wahlsieger - "Er ist der gewählte Präsident. Die Bürger der Ukraine haben es so gewollt" - und forderte internationale Konsequenzen, falls die Machthaber in der Ukraine die Wahl des Oppositionskandidaten nicht anerkennen.
Die Regierungen in Washington und Berlin verlangten ultimativ und unter Androhung von Sanktionen eine Überprüfung des Wahlergebnisses. Der deutsche Außenminister Joschka Fischer forderte ebenso wie sein amerikanischer Amtskollege Colin Powell, die Stimmen müssten unter der Kontrolle der OSZE neu ausgezählt werden.
Es ist durchaus möglich und sogar wahrscheinlich, dass es in der Ukraine zu massiven Wahlfälschungen gekommen ist. Doch von Seiten der USA und Europas ist die Sorge über die Einhaltung demokratischer Spielregeln pure Heuchelei. Verteidigen prowestliche Regime ihre Macht mit autokratischen Methoden, wie in einigen Staaten Zentralasiens, so drücken sie beide Augen zu. Und im Irak bereiten sie zur Zeit mit einem brutalen Krieg gegen die Zivilbevölkerung die "demokratische" Wahl eines Marionettenregimes vor.
Die Lage der Arbeiterklasse
Die ukrainische Bevölkerung ist zu einem Spielball im Machtkampf zwischen Janukowitsch und Juschtschenko sowie den Großmächten geworden, die im Hintergrund die Fäden ziehen. Dennoch gibt es legitime Befürchtungen, die viele zur Stimmabgabe für den einen oder anderen Kandidaten bewogen haben.
Nicht alle, die für den Regierungskandidaten stimmten, haben dies wegen der Manipulation durch die Medien getan, wie dies die Opposition wahrhaben möchte. Industriearbeiter in der Schwerindustrie haben berechtigte Angst, dass sie ihren Arbeitsplatz verlieren, wenn sich die Ukraine weiter gegenüber der EU öffnet - wie dies in Polen und anderen osteuropäischen Ländern der Fall war. Hinzu kommt die Furcht vor einer Diskriminierung der russischsprachigen Minderheit, wenn sich die ukrainischen Nationalisten durchsetzen. Hier liefern die baltischen Staaten abschreckende Beispiele.
Unter den Anhängern Juschtschenkos wiederum gibt es Jugendliche und Studenten, die über die Knebelung der Meinungsfreiheit ehrlich schockiert sind und ernsthaft für demokratische Rechte eintreten. Sie befinden sich allerdings in der höchst zweifelhaften Gesellschaft von Popen und Nationalisten, deren Tradition - gelinde ausgedrückt - nicht gerade für eine demokratische Gesinnung spricht. Der Antisemitismus war in den nationalistischen Kreisen der Ukraine lange Zeit weit verbreitet und half den Nazis während der Besatzung des Landes, Komplizen zu rekrutieren.
Bisher ist der Machtkampf in der Ukraine gewaltlos verlaufen. Die Lage ist aber äußerst gespannt. Es wird nicht ausgeschlossen, dass das Regierungslager Ordnungskräfte gegen die Demonstranten einsetzt. Eskaliert der Konflikt, droht die Gefahr eines Bürgerkriegs und der Spaltung des Landes. Ähnliche Entwicklungen wie auf dem Balkan wären die Folge.
In beiden Fällen trügen die amerikanischen und europäischen Imperialisten, die die inneren Spannungen in diesen Ländern für ihre eigenen Zwecke manipulieren und ausnutzen, die Hauptverantwortung. Putin wiederum handelt im Interesse der aufstrebenden russischen Bourgeoisie, die ihre eigenen imperialistischen Ansprüche verfolgt.
Der Gefahr des Bürgerkriegs und den Angriffen auf Lebensstandard und demokratische Rechte kann weder durch die Unterstützung Juschtschenkos noch Janukowitschs begegnet werden. Sie erfordert nicht nur in der Ukraine, sondern in ganz Europa eine unabhängige politische Bewegung der arbeitenden Bevölkerung auf der Grundlage eines sozialistischen Programms.