Begriffe wie "Erdrutsch", "dramatische Verluste" und "vernichtende Niederlage" haben sich mittlerweile eingebürgert, wenn es darum geht, Wahlergebnisse der SPD zu kommentieren. Landtagswahl um Landtagswahl sowie zahlreiche Kommunalwahlen hat die Partei verloren, seit sie vor sechs Jahren im Bündnis mit den Grünen die Regierungsverantwortung im Bund übernahm. Der knappe Erfolg bei der Bundestagswahl 2002 bildete die Ausnahme, welche die Regel bestätigt. Er war dem Umstand geschuldet, dass die SPD den Irakkrieg im Gegensatz zur Union ablehnte. Nur vier Monate später ging die Talfahrt der SPD weiter: Hessen und Niedersachsen gingen an die CDU.
Doch selbst im Lichte dieses beispiellosen Niedergangs besitzt das Ergebnis der Europawahl vom 13. Juni eine neue Qualität. Nie zuvor seit Bestehen der Bundesrepublik erzielte die SPD in einer bundesweiten Wahl ein derart schlechtes Ergebnis. Mit 21,4% der Stimmen lag sie weit unter dem bisheriger Negativrekord von 28,8% aus der Bundestagswahl 1953. Berücksichtigt man auch all jene, die nicht zur Abstimmung gingen - mit 57% ebenfalls ein neuer Rekord - so machten gerade 9% der Wahlberechtigten ihr Kreuz bei der SPD.
Noch deutlicher wird das Debakel, wenn man die absoluten Zahlen betrachtet. Gegenüber der Bundestagswahl 2002 verlor die SPD 13 Millionen oder mehr als zwei Drittel ihrer Wähler. Statt 18,5 erhielt sie nur noch 5,5 Millionen Stimmen. Die Union, die bei der Bundestagswahl mit der SPD gleichauf lag, war von der niedrigen Wahlbeteiligung weniger stark betroffen: Sie verlor 7 Millionen Wähler und konnte ihren Stimmenanteil um 6% erhöhen.
Auch gegenüber der letzten Europawahl vor fünf Jahren, die ebenfalls durch eine niedrige Wahlbeteiligung und ein schlechtes Ergebnis für die SPD gekennzeichnet war, verloren die Sozialdemokraten 2,8 Millionen Wähler. Die Union musste ebenfalls Verluste hinnehmen - 1,7 Millionen Stimmen oder 4%. Doch auf eine Bundestagswahl übertragen würden ihre 44,5% zusammen mit den 6,1% der FDP immer noch für eine klare Mehrheit ausreichen.
Der Grund für den Niedergang der SPD, die nicht nur Wähler sondern auch massenhaft Mitglieder verliert, ist seit langem bekannt: die tiefe Empörung über den sogenannten Reformkurs der Bundesregierung. Die "Agenda 2010" zeigt Wirkung. Sie hat verheerende Auswirkungen auf das persönliche Leben von Millionen bisherigen SPD-Wählern.
So rutschen allein durch die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe 4,5 Millionen Menschen in die Sozialhilfe ab. Viele verlieren jegliche Unterstützung. Sie sind gezwungen, den demütigenden Gang zum Sozialamt zu gehen, ihre Altersersparnisse aufzubrauchen oder enge Verwandte um Hilfe anzugehen.
Wie sehr die Kürzungsmaßnahmen auch intimste Lebensbereiche betreffen, machte kürzlich ein Bericht des Spiegel deutlich. Danach stapeln sich in den Kühlhäusern der Krematorien die Särge, weil nach der Streichung des Sterbegeldes im Rahmen der Gesundheitsreform viele die Bestattung ihrer Angehörigen nicht mehr bezahlen können und die Sozialämter die Übernahme der Kosten durch bürokratische Schikanen monatelang hinauszögern.
Die Opposition gegen die SPD drückte sich vorwiegend in der hohen Zahl der Stimmenthaltungen aus. Laut einer Untersuchung blieben 11 Millionen Wähler, die bei der Bundestagswahl die SPD unterstützt hatten, bei der Europawahl zuhause.
Anteilsmäßig konnten im Westen die Grünen und im Osten die PDS von den Verlusten der SPD profitieren. Auch die FDP legte gegenüber der letzten Europawahl stark zu; im Vergleich zur Bundestagswahl ging ihre Stimmenzahl aber nicht nur absolut, sondern auch anteilsmäßig deutlich zurück - von 7,4 auf 6,1%.
In allen neuen Bundesländern lag die PDS vor der SPD, die jeweils nur drittstärkste Partei wurde. In Brandenburg übertraf die PDS mit 30,8% sogar die CDU, die das Land in einer Koalition mit der SPD regiert. Mit 27% erreichte dort gleichzeitig die Wahlbeteiligung den bundesweit niedrigsten Stand.
Die PDS war mit der Forderung nach "sozialer Gerechtigkeit" in den Wahlkampf gezogen. Die Tatsache, dass sie im Berliner Senat und der Landesregierung Mecklenburg-Vorpommerns selbst am Sozialabbau beteiligt ist, trat angesichts der Unzufriedenheit mit der Bundesregierung offenbar in den Hintergrund. In den alten Bundesländern fand die PDS dagegen wenig Resonanz; sie brachte es nur auf 1,7% der Stimmen.
Dort lagen die Grünen in vielen Großstädten an zweiter Stelle - vor der SPD und hinter der Union. Das war unter anderem in München (23,3%), in Frankfurt am Main (25%), in Berlin (22,7%), in Köln, in Bonn und in Aachen der Fall. Insgesamt erzielten die Grünen 11,9% der Stimmen. Das ist ihr bisher bestes Ergebnis in einer bundesweiten Wahl. In absoluten Zahlen lagen sie aber mit 3,1 Millionen Stimmen deutlich unter dem Ergebnis der Bundestagswahl, wo sie 4,1 Millionen erhalten hatten.
Auf den ersten Blick erscheint es paradox, dass die Grünen vom Niedergang der SPD profitieren, obwohl sie seit sechs Jahren mit ihr in der Regierung sitzen und für einen noch weitergehenden Sozialabbau eintreten. Der Grund liegt darin, dass sie sich auf ein anderes soziales Milieu stützen. Ihre Hochburgen liegen in Städten, in denen viele Studenten, Akademiker, Beamte und Angestellte des öffentlichen Diensts wohnen. Diese etwas besser gestellten Schichten sind eher für die Propaganda empfänglich, wonach die "Reformen" einer notwendigen "Modernisierung" des Wirtschafts- und Sozialsystems dienen.
Parallel zur Europawahl wurde in Thüringen der Landtag neu gewählt. Das Ergebnis dieser Wahl macht deutlich, dass die Verluste der SPD nicht auf die Besonderheiten der Europawahl zurückzuführen sind. Mit 14,5% erreichte die SPD das zweitschlechteste Landtagswahlergebnis ihrer Geschichte, und das in dem Land, in dem sie im 19. Jahrhundert entstanden ist. Die Städte Erfurt und Gotha, die zwei SPD-Programmen den Namen gaben, liegen beide in Thüringen.
Bei einer Wahlbeteiligung von 54% verlor die SPD gegenüber der Bundestagswahl, wo die Beteiligung bei 75% lag, drei Viertel ihrer Wähler. Statt 579.000 votierten nur noch 147.000 für die Sozialdemokraten. Auch hier war die PDS Nutznießer des Niedergangs der SPD. Mit 26,1% erzielte sie ihr bisher bestes Landtagswahlergebnis. Die CDU konnte ihre Stimmenzahl gegenüber der Bundestagswahl (bei der sie sehr schlecht abschnitt) leicht verbessern, musste aber im Vergleich zur letzten Landtagswahl Einbussen von 8% hinnehmen. Nur weil FDP und Grüne an der 5-Prozent-Hürde scheiterten, konnte sie ihre absolute Mehrheit im Landtag verteidigen.
"Weiter so!"
Die SPD reagierte auf das Wahldebakel mit Durchhalteparolen. Bundeskanzler Gerhard Schröder schloss jede Kurskorrektur kategorisch aus. "Wir müssen diese Politik, weil sei objektiv notwendig ist, fortführen", sagte er. "Deswegen kann ich für eine andere Politik nicht stehen." Der Parteivorsitzende Franz Müntefering lehnte grundlegende Korrekturen am Reformkurs ebenso ab. "Ich glaube, dass wir einfach Zeit brauchen," erklärte er. Die Bürger hätten die Erfolge der Reformen, wie etwa im Gesundheitswesen, noch "nicht registriert".
Auch im Präsidium verlangte niemand eine andere Regierungspolitik. Von den sogenannten Parteilinken war lediglich der Ruf nach mehr Disziplin zu vernehmen. Die frühere Juso-Vorsitzende Andrea Nahles sagte in der ARD, zu viele Minister kümmerten sich nur um die Interessen ihrer Ressorts und nicht um das Profil der SPD. Es gebe keinen besseren Kanzler als Schröder, aber wenn das "Mannschaftsspiel" in der SPD nicht besser werde, werde es in der Partei "zum Aufruhr" kommen.
Rückendeckung erhielt Schröder auch von den Medien und vom Bundesverband der deutschen Industrie (BDI).
Michael Naumann forderte im Leitartikel der Zeit, die SPD und der Bundeskanzler müssten jetzt "in voller Absicht gegen den Sturm segeln". "Sollten sie den Reformkurs aufgeben, wären sie vollends verloren", beschwor er die Regierung, der er früher selbst angehört hat. "Schröders politische Überlebenschance" liege in seiner Fähigkeit, "die Bevölkerung auf Jahre des Verzichts einzuschwören".
Unternehmer-Präsident Michael Rogowski versicherte dem Kanzler: "Wir bauen auf Sie." Auf der Jahrestagung des BDI, der zwei Tage nach der Wahl in Berlin stattfand, lobte er die Regierung, sie habe mit der Agenda 2010 ein Reformpaket geschnürt, "wie wir es in der Bundesrepublik seit langem nicht mehr gesehen haben". Entscheidend sei nun, dass Rot-Grün den eingeschlagenen Kurs nicht verlasse. "Auch wenn es noch so weh tut: durchhalten, durchschwimmen," rief er dem anwesenden Kanzler zu. "Aufhören heißt Untergang, das wünschen wir ihnen nicht."
Selbst ein Dramatiker vom Range eines Brechts könnte die politischen Zustände in Deutschland nicht anschaulicher darstellen, als diese Szenen es tun. Millionen Wähler und Hunderttausende Mitglieder drehen der SPD den Rücken zu, weil sie ihre Politik ablehnen. Doch diese antwortet mit dem Ruf: "Weiter so!" und wird dabei vom ganzen herrschenden Establishment bis hin zum Chef des größten Unternehmerverbandes unterstützt, der Schröder zuruft: "Wir bauen auf Sie." Deutlicher kann man die tiefe Kluft, die sich zwischen den Masse der Bevölkerung und der offiziellen Politik aufgetan hat, nicht aufzeigen.
Die Zeit ist sich bewusst, dass dabei mehr auf dem Spiel steht, als die Zukunft der SPD-geführten Bundesregierung, mit deren Ablösung nach der nordrhein-westfälischen Landtagswahl im Mai 2005 oder spätestens nach der Bundestagswahl im Herbst 2006 gerechnet wird. Hinter der hohen Wahlenthaltung, schreibt Naumann, stecke "eine schleichende Legitimitätskrise der Bundesrepublik". Diese Legitimitätskrise gründe "auf dem Eindruck der Wähler, die Politik' sei schuld daran, dass die sozialen Wohltaten der Vergangenheit nicht mehr fließen werden". In der Angst der Gesellschaft vor den Risiken der Zukunft sei "eine Unregierbarkeit des Landes angelegt, und mit ihm wächst der Unmut des Wählers, der auch eine unionsgeführte Regierung treffen würde".
Lässt man den arroganten Ton Naumanns weg, der ganz aus der Warte des hochdotierten und materiell abgesicherten Zeit -Herausgebers, Ex-Ministers und Ex-Managers schreibt, so erklärt er, dass die Weigerung der Wähler, den Sozialabbau zu akzeptieren, zur "Unregierbarkeit des Landes" führen werde. Dabei lässt er keine Zweifel daran, dass er es für die Pflicht einer jeden Regierung hält, den eingeschlagenen Kurs fortzusetzen.
Diese Kampfansage an die Bevölkerung stellt die Arbeiterklasse vor die Aufgabe, sich einer sozialistischen Perspektive zuzuwenden.