Der deutsch-französisch-britische Gipfel, der am Mittwoch in Berlin stattfand, hat bei den nicht beteiligten europäischen Regierungen heftige Proteste ausgelöst. Von einem "Triumvirat" und einem "Direktorium" war die Rede, das den restlichen 22 EU-Mitgliedern seinen Willen aufzwingen wolle.
Der italienische Ministerpräsident Silvio Berlusconi beschimpfte die Veranstaltung als "Murks", bevor sie überhaupt begonnen hatte. Sein Außenminister Franco Frattini verurteilte den Gipfel als "Ausgeburt nationaler Interessen". Der polnische Außenminister Wlodzimierz Cimoszewicz sagte, es dürfe nicht sein, "dass einige Staaten alles vorbereiten und die anderen es akzeptieren müssen". Und seine spanische Amtskollegin Ana Palacio warf den in Berlin versammelten Regierungen vor, das europäische Allgemeinwohl zu kidnappen.
Die Vorwürfe sind nicht unberechtigt, auch wenn sich Bundeskanzler Gerhard Schröder, Präsident Jacques Chirac und Premier Tony Blair auf einer gemeinsamen Pressekonferenz offiziell dagegen verwahrten. Auf die Kritik angesprochen, sagte Präsident Chirac unverblümt, es sei doch "ganz normal, dass die drei Länder, die mehr als 50 Prozent des Bruttoinlandprodukts in der EU erbringen, gemeinsame Überlegungen anstellen".
Auch der Vorschlag, einen "ausschließlich für Fragen der Wirtschaftsreform zuständigen Vize-Präsidenten der Europäischen Kommission" zu ernennen, den die Gipfelteilnehmer in einem gemeinsamen Brief an den amtierenden Ratspräsidenten, den Iren Bertie Ahern, erhoben, dürfte das Misstrauen weiter anheizen. Nachdem es in den Verhandlungen über die Osterweiterung nicht gelungen war, das Recht jedes Mitgliedsstaates auf einen eigenen Kommissar zu beschneiden, ist dies ein Versuch, das Prinzip der gleichberechtigten Kommissare durch eine hierarchische Struktur zu ersetzten.
In ersten Pressemeldungen über den von Bundeskanzler Schröder stammenden Vorschlag war sogar von einem "Superkommissar" die Rede, der über weitgehende Kompetenzen in den Ressorts Handel, Industrie, Binnenmarkt, Umwelt und Soziales verfügen sollte. Von diesem Begriff hat sich Schröder inzwischen distanziert. Der angestrebte Vize-Präsident soll lediglich "eine Koordinierungsfunktion gegenüber den anderen Kommissaren ausüben", wie es in dem Brief der Drei heißt. Dennoch hätte er gegenüber den anderen Kommissaren eine deutlich herausgehobene Funktion.
Es ist auch ein offenes Geheimnis, dass die Bundesregierung die Besetzung dieses Postens durch einen deutschen Vertreter anstrebt. Im Gespräch sind der Berliner "Superminister" für Wirtschaft und Arbeit, Wolfgang Clement, und der für die EU-Erweiterung zuständige Kommissar Günter Verheugen.
Beschleunigte "Reformen"
Die Furcht der kleineren EU-Staaten vor einem "Direktorium" der großen Drei dominierte zwar die Berichterstattung über den Gipfel, sie verdeckt aber nur einen grundlegenderen Konflikt, der die europäische Wirklichkeit zunehmend prägt - der Gegensatz zwischen sämtlichen Regierungen und der Europäischen Kommission auf der einen und der Masse der Bevölkerung auf der anderen Seite.
In dem Brief, den Schröder, Blair und Chirac an den irischen Ratsvorsitzenden sandten, finden sich sämtliche Schlagwörter wieder, unter denen in den vergangenen Jahren ein zutiefst unpopulärer Sozialabbau betrieben wurde. Das gemeinsame formulierte Ziel besteht darin, "bis zum Ende dieses Jahrzehnts zum wirtschaftlich dynamischsten Raum der Erde zu werden" - und damit auch die USA zu überholen. Dieses Ziel war bereits vor drei Jahren auf einem EU-Gipfel in Lissabon beschlossen worden und soll nun nach dem Willen der Gipfelteilnehmer einen neuen Impuls erhalten.
Der Brief spricht sich ungeschminkt für eine "unternehmensfreundliche Politik" aus. Es folgen die sattsam bekannten Schlagworte - "Innovation", "Modernisierung des europäischen Sozialmodells", Abbau von "Regulierungen und bürokratischen Maßnahmen, die Wettbewerb und Innovation über Gebühr hemmen", "aktive Arbeitsmarktpolitik im Sinne des Forderns und Förderns'", "Ausgabeneffizienz im Gesundheitssystem" usw. Auch Bekenntnisse zu mehr Forschung und besserer Bildung fehlen nicht, wobei ersteres dem Privatsektor überlassen und letzteres durch die tägliche Praxis - die Erhöhung von Studiengebühren und Kürzung von Bildungsausgaben - Lügen gestraft wird.
Der neue Superkommissar soll für die Verwirklichung dieses Programms sorgen. "Der Vize-Präsident sollte ein Mitspracherecht bei allen EU-Vorhaben besitzen, die Auswirkungen auf die Ziele der Lissabon-Agenda haben", heißt es in dem Brief der Drei.
Die Regierungen, die am lautesten gegen den Dreier-Gipfel protestierten, haben gegen die allgemeine Zielrichtung dieser Vorschläge nichts einzuwenden. Im Gegenteil, in einem eigenen Brief, den sie am Montag präventiv an den irischen Ratsvorsitzenden schickten, versuchen sechs kleinere EU-Mitglieder die großen Drei sogar noch rechts zu überholen.
Der Brief trägt die Unterschriften der Regierungschefs von Spanien, Italien, Portugal, den Niederlanden, Spanien, Polen und Estland. Er richtet sich zwar eindeutig gegen Deutschland und Frankreich, denen er den Bruch des Stabilitätspakts zum Vorwurf macht. Er tut dies aber vom Standpunkt einer noch konsequenteren Liberalisierung der europäischen Wirtschaft. Unter anderem setzt er sich für "flexiblere Arbeitsmärkte" und einen "Vergleich der besten Steueranreizmodelle" ein. Die letzte Formulierung läuft auf die Forderung hinaus, die extrem niedrigen Steuern auf Gewinne und hohe Einkommen, die in einigen osteuropäischen Ländern wie der Slowakei erhoben werden, auf ganz Europa zu übertragen.
Es wäre also grundfalsch, die Proteste dieser Regierungen gegen das "Triumvirat" mit einer Verteidigung der Interessen der europäischen Bevölkerung zu verwechseln. Sie sind uneingeschränkt dafür, dass Europa im Interesse der Wirtschaft umgekrempelt wird. Sie fürchten lediglich, dass sie selbst dabei von den stärkeren Regierungen an die Wand gedrückt werden.
Konflikte zwischen den großen Drei
Der Berliner Dreier-Gipfel zeigt, wie sehr sich Europa verändert hat. Man sollte den europäischen Einigungsprozess nicht rückblickend idealisieren. Er wurde seit seinen Anfängen in den fünfziger Jahren maßgeblich von Wirtschaftsinteressen bestimmt. Dennoch war er über lange Zeit mit einem Ausgleich der schärfsten sozialen und regionalen Gegensätze verbunden. Agrarfonds, Regionalfonds und andere Brüsseler Töpfe dienten dazu, die krassesten soziale Verwerfungen zu glätten.
Das ist heute nicht mehr so. Die Brüsseler Kommission ist zum Synonym für Deregulierung, Liberalisierung und den Abbau von Arbeitnehmerrechten geworden. War die Aufnahme der "armen" Mittelmeerländer Spanien, Griechenland und Portugal noch mit Finanzhilfen in Milliardenhöhe verbunden, stehen für die Osterweiterung keine vergleichbaren Summen mehr zur Verfügung. Die gut ausgebildeten, aber schlecht bezahlten Arbeitskräfte im Osten werden als Hebel benutzt, um die Arbeitsbedingungen im Westen auszuhöhlen.
Hinzu kommt, dass die USA mit dem Irakkrieg ihren Einfluss in Europa erstmals nutzten, um den Kontinent zu spalten. Bisher hatten sie den europäischen Einigungsprozess stets befürwortet oder sich zumindest neutral verhalten. Nun organisierten sie gegen Deutschland und Frankreich eine Koalition der Kriegsbefürworter, die von England über Spanien und Italien bis nach Polen reichte. Im Ergebnis traten die nationalen Interessen gegenüber dem europäischen immer stärker in den Vordergrund. Die Konflikte zwischen den EU-Mitgliedern nahmen zu. Die Bereitschaft, finanzielle oder politische Zugeständnisse zugunsten Europas zu machen, nahm ab.
Blairs Teilnahme am Berliner Dreier-Gipfel wurde nun vielerseits so interpretiert, dass dieses Zerwürfnis überwunden sei und - zwei Monate vor der Erweiterung von 15 auf 25 Mitglieder - eine neue Phase der europäischen Einigung begonnen habe. Doch das ist eine Täuschung. Es gibt eine Vielzahl komplexer Motive, die zur zeitweiligen Annäherung zwischen London, Berlin und Paris geführt haben. Die grundlegenderen Gegensätze sind damit aber nicht überwunden.
Für Deutschland und Frankreich ist der Schulterschluss mit London wichtig, weil sie nach dem Irakkrieg ihren Führungsanspruch in der EU nicht mehr alleine durchsetzen können. Sie hoffen, dass Blair Druck auf Warschau und Madrid ausüben wird, die sogenannte "doppelte Mehrheit" bei europäischen Entscheidungen zu akzeptieren. An der Ablehnung dieser Regelung war im letzten Jahr die europäische Verfassung gescheitert.
London unterstützt außerdem die umstrittene Entscheidung der EU-Kommission, keine Sanktionen gegen Deutschland und Frankreich wegen des wiederholten Bruchs des Stabilitätspakts zu erheben, die von kleineren Staaten heftig kritisiert wird. London billigt zwar nicht die französische und deutsche Fiskalpolitik, aber es lehnt die Einmischung Brüssels in nationale Finanzangelegenheiten grundsätzlich ab.
Für Berlin kommt hinzu, dass es den von Paris favorisierten Weg eines "Kerneuropa" bisher ablehnt. Dieser sieht vor, dass Frankreich im Bündnis mit Deutschland und einer Gruppe kleinerer Staaten die europäische Vorreiterrolle übernimmt und nicht länger auf die restlichen EU-Mitglieder Rücksicht nimmt. Für die deutsche Außenpolitik galt dagegen stets das Prinzip, die Beziehung zu Frankreich zu pflegen, aber sich außenpolitisch nicht völlig an das Nachbarland zu binden. Man bemühte sich um "Äquidistanz" zu Washington und Paris. Während des Irakkriegs hielt Schröder deshalb seine Beziehungen zu Blair aufrecht, während das Verhältnis zwischen Chirac und Blair als völlig zerrüttet galt.
Für Blair wiederum bedeutet die Zusammenarbeit mit Schröder und Chirac Entlastung von dem innenpolitischen Druck, unter dem er wegen seiner Lügen zum Irakkrieg und der Kelly-Affäre steht. Außerdem verfügt er dank seinen engen Beziehungen zu Washington und den europäischen Kriegsbefürwortern über eine relativ starke Position in Europa.
Es gibt zudem auch eine Reihe von Feldern, auf denen Frankreich, England und Deutschland bei allen sonstigen Differenzen seit längerem an einem Strang ziehen. So unterstützt London seit 1998 die Bemühungen um den Aufbau eigenständiger europäischer Streitkräfte. Im Gegensatz zu Frankreich, das diese Streitkräfte als Hebel für die außenpolitische Unabhängigkeit von den USA sieht, widersetzt sich London aber allen Versuchen, die europäische Außenpolitik von Washington abzukoppeln.
Auch der Aufbau einer gemeinsamen europäischen Rüstungsindustrie, die mit der amerikanischen konkurrieren kann, wird von London tatkräftig unterstützt. Die britische Industrie, die hauptsächlich auf den europäischen Markt ausgerichtet ist, hat daran einen erheblichen Anteil. So kommt es zu der paradoxen Situation, dass Großbritannien und Frankreich trotz der außenpolitischen Gegensätze auf dem Gebiet der Rüstung aufs engste zusammenarbeiten.
Neben diesen Fragen spielte in Berlin auch das EU-übliche Geschacher um kurzfristige Gefälligkeiten und Vorteile eine Rolle. Die Schlagzeilen der französischen Presse konzentrierten sich am Tag nach dem Gipfel darauf, dass Deutschland seinen Widerstand gegen die Senkung der Mehrwertsteuer für französische Gastwirte von 19,6 auf 5,5 Prozent aufgegeben habe - ein Wahlgeschenk an die Klientel der französischen Rechten, das die Staatskasse jährlich 3 Milliarden Euro kosten wird. Und das einen Monat vor der kritischen Regionalwahl! "Jacques" ist seinem sozialdemokratischen Freund "Gerhard" wirklich zu Dank verpflichtet.
Ein weiterer - und der vielleicht wichtigste Grund - für das enge Zusammenrücken von Schröder, Blair und Chirac ist ihre politische Schwäche. Alle drei stecken in innenpolitischen Schwierigkeiten. Blair wegen seiner Lügen zum Irakkrieg und der wachsenden Opposition gegen seine Sozial- und Wirtschaftspolitik. Chirac wegen der Korruptionsaffären aus seiner Zeit als Pariser Bürgermeister. Sein engster Mitarbeiter und Kronprinz Alain Juppé ist soeben zu einer Gefängnisstrafe verurteilt worden, und jedermann weiß, dass Chirac selbst auf der Anklagebank sitzen würde, wenn ihn seine Immunität als Präsident nicht schützte. Und Schröder wegen der Opposition gegen die "Agenda 2010", die ihn zum Rücktritt vom sozialdemokratischen Parteivorsitz nötigte.
Der Brief, den Schröder, Chirac und Blair an den Ratspräsidenten schickten, setzt sich für eine Politik ein, die in allen drei Ländern tief verhasst ist und heftige Proteste auf sich zieht. Der Berliner Dreier-Gipfel trägt so in der Tat die Züge einer politischen Verschwörung - nicht so sehr gegen die kleineren EU-Staaten, als gegen die eigene Bevölkerung.