Seit der Regierungsübernahme durch SPD und Grüne vor sechs Jahren ist die Kluft zwischen Arm und Reich weiter gewachsen. Entgegen allen Wahlversprechen findet eine hemmungslose Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums von unten nach oben statt.
Unter der Überschrift "Wer hat, dem wird gegeben" veröffentlichte Der Spiegel Ende November erste Zahlen aus dem Bericht der Bundesregierung zu den "Lebenslagen in Deutschland". Es handelt sich dabei um den noch nicht veröffentlichten zweiten Armuts- und Reichtumsbericht. Bereits der erste hatte 2001 eine wachsende soziale Polarisierung in Deutschland attestiert.
"Soziale Ungleichheit ist eine Tatsache und in manchen Bereichen ist sie in den letzten Jahren gewachsen", zitiert Der Spiegel aus der ersten Seite des Berichts. Inzwischen lebt mindestens jeder siebte der 29 Millionen Haushalte in Armut. Der Anteil der - laut EU-Definition - von Armut betroffenen Haushalte stieg seit 1998 von 12,1 auf 13,5 Prozent. Die von der Europäischen Union benutzte Definition sieht Haushalte als arm an, denen weniger als 60 Prozent des durchschnittlichen Netto-Haushaltseinkommens zur Verfügung stehen. Staatliche Zuschüsse sind darin schon enthalten. Für eine vierköpfige Familie sind dies laut Spiegel etwa 1550 Euro im Monat.
Mit der Verarmung steigt folgerichtig auch die private Verschuldung. Die Zahl der überschuldeten Haushalte nahm um 13 Prozent auf 3,13 Millionen im Jahr 2002 zu. Das Bundesfamilienministerium definiert Überschuldung dabei wie folgt: "Ein Privathaushalt, dessen Einkommen über einen längeren Zeitraum nach Abzug der Lebenshaltungskosten trotz Reduzierung seines Lebensstandards nicht zur fristgerechten Schuldentilgung ausreicht, ist überschuldet."
Im noch unveröffentlichten Armuts- und Reichtumsbericht steht, dass ein Drittel aller armen Haushalte es auch nach Jahren nicht schafft, sich aus einer schwierigen Finanzlage zu befreien. Insbesondere die steigende Arbeitslosigkeit ist für das Anwachsen der Schicht verantwortlich, die zu einem Leben am Rande der Gesellschaft verdammt ist.
Arme Kinder und Jugendliche
Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren sind die Hauptleidtragenden, erst recht, wenn sie in einem Haushalt mit nur einem Elternteil (meist Mütter) oder in Familien mit mehreren Geschwistern leben. 40,7 Prozent der Ein-Eltern-Haushalte sind arm. Unter den Sozialhilfeempfängern stellen Kinder und Jugendliche daher die "mit Abstand größte Gruppe", so der Bericht der Bundesregierung. Über eine Million sind von dem staatlichen Almosen abhängig.
Diesen Mädchen und Jungen ist ein Leben in Armut nahezu vorbestimmt. Denn aus dem Teufelskreis der Armut herauszukommen ist in Deutschland nahezu unmöglich. Die Voraussetzung für einen späteren Arbeitsplatz mit einem halbwegs ausreichenden Lohn führt in Deutschland immer noch über den Bildungsabschluss. Doch dieser wird den Kindern aus armen Familien erschwert, wenn nicht gar verwehrt. Auch dazu existieren Zahlen im Armuts- und Reichtumsbericht. "Die Chancen eine Kindes aus einem Elternhaus mit hohem sozialen Status, eine Gymnasialempfehlung [nach der vierten Klasse] zu bekommen, sind rund 2,7-mal so hoch wie die eines Facharbeiterkindes." Bis zum Schulabschluss hat sich diese Ungleichheit noch einmal erhöht. Kinder reicher Eltern haben eine 7,4-fach größere Chance, ein Studium aufzunehmen, als Kinder aus einem armen Elternhaus.
Auch die Zahlen der vergangene Woche veröffentlichten zweiten PISA-Studie beweisen, dass die Kluft zwischen den guten und schlechten Schülern noch einmal gewachsen ist. Klaus Klemm, Professor für Erziehungswissenschaft an der Universität Duisburg-Essen, erklärt in einer ersten Stellungnahme zum neuen PISA-Bericht, dass viele Ergebnisse noch einer genaueren Untersuchung bedürfen. "Nicht spekulativ aber ist: Das Verharren der Hauptschüler auf ihrem niedrigen Leistungsstand geht einher mit der sozialen Selektivität der deutschen Schulen", konstatiert Klemm. "Wie schon bei der ersten Pisa-Studie zeigt sich zwischen der Wahl einer Schulform und der sozialen Herkunft ein enger Zusammenhang, selbst dann, wenn Schüler mit gleicher kognitiver Grundfähigkeit, aber unterschiedlicher sozialer Herkunft gegenüber gestellt werden."
Schüler und Schülerinnen mit Migrationshintergrund sind dementsprechend überproportional von der sozialen Selektion im deutschen Bildungssystem betroffen. Sie landen hauptsächlich auf den Hauptschulen. Und "Hauptschulen", so Klemm, "entwickeln sich zu Vorschulen für Ausbildungs- und Arbeitslosigkeit."
Reichtum
Es geht jedoch nicht allen finanziell schlechter. Am oberen Ende der Einkommenspyramide können die Reichen einen weiteren Anstieg ihres Vermögens und Einkommens verzeichnen.
Fünf Billionen Euro Nettovermögen haben die Reichen inzwischen aufgehäuft, berechnen die Autoren des Berichts. Unabhängig davon, dass ein großer Teil des privaten Geldvermögens schon beim letzten Armuts- und Reichtumsbericht 2001 vernachlässigt worden war, sind dies 17 Prozent mehr als die Autoren vor sechs Jahren zählten, als SPD und Grüne die Regierung übernahmen. Rein rechnerisch verfügt jeder Haushalt über 133.000 Euro Vermögen. Selbstverständlich ist dieses Vermögen sehr ungleich verteilt. Ein Zehntel der Haushalte verfügen über 47 Prozent des Reichtums. 1998 besaßen diese Haushalte "nur" 45 Prozent des damals geringeren Gesamtvermögens.
Dass sich Reichtum vererbt, ist dabei nicht nur eine Metapher. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung belegte dies 2003 in einer Studie unter dem Titel "Repräsentative Analyse der Lebenslagen einkommensstarker Haushalte": "Haushalte mit hohen Einkommen sind nicht nur überdurchschnittlich oft Empfänger von Erbschaften oder Schenkungen, sie erben im Durchschnitt auch höhere Beträge: Beträgt die Erbschaft oder Schenkung eines Haushalts mit Haushaltsnettoeinkommen unter 3.835 Euro durchschnittlich 46.000 Euro, erben Haushalte mit Haushaltsnettoeinkommen zwischen 3.835 und 5.113 Euro durchschnittlich fast das Dreifache (knapp 130.000 Euro), bei einem Haushaltsnettoeinkommen ab 5.113 Euro beträgt die durchschnittliche Erbschaftshöhe mit fast 180.000 Euro nahezu das Vierfache."
Das TV-Magazin Monitor, dem ebenfalls der Armuts- und Reichtumsbericht vorliegt, berichtete, dass 1997 Deutschland 510.000 Reiche mit einem Vermögen von über einer Million Euro zählte. Fünf Jahre später war diese Zahl unter der rot-grünen Bundesregierung auf über 775.000 angewachsen. Im Monitor -Beitrag kommt Professor Dieter Eißel, ein Autor des Berichts zu Wort: "Wir hatten im Jahr 1998 bereits eine erhebliche Differenz zwischen arm und reich. Allerdings muss man feststellen, dass diese Unterschiede zwischen oben und unten auch in dieser Regierung zugenommen haben. Das liegt vor allen Dingen daran, dass die Steuerpolitik zugunsten der Wohlhabenden, zugunsten der Vermögen, zugunsten der Gewinne reduziert wurde, während die Belastungen bei den Verbraucherinnen und Verbrauchern und Lohnsteuerzahlern eben geblieben ist oder sogar noch erhöht wurde."
Umverteilung durch die Bundesregierung
Diese Politik der Umverteilung unter SPD und Grünen kommt auch in einer Untersuchung des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts des DGB (WSI) über die Einkommensverteilung in Deutschland zum Ausdruck.
Der Anteil der Löhne und Gehälter am Gesamteinkommen befindet sich in einem langen aber stetigen Abwärtstrend. Im Jahre 1960 lag die sogenannte Nettolohnquote noch bei 55,8 Prozent. Inzwischen weist die Nettolohnquote am verfügbaren Volkseinkommen ein neues "Allzeittief" auf, schreibt WSI-Autor Claus Schäfer. Sie beträgt unter 40 Prozent. Besonders stark sank sie dabei im letzten Jahr. Der Anteil der Unternehmens- und Vermögenseinkommen ist hingegen stark gestiegen, auf einen Anteil am Gesamteinkommen in Höhe von 32,8 Prozent.
Das WSI zeigt in seinem Verteilungsbericht auf, wie die Steuerpolitik diese Umverteilung organisiert. 1991 standen in Deutschland einer Gewinnsumme von rund 185 Milliarden Euro bei allen Kapitalgesellschaften rund 22 Milliarden direkte Steuern gegenüber. 2003 erzielten die Unternehmen rund 300 Milliarden Euro Gewinn, mussten aber nur 16 Milliarden Euro Steuern zahlen.
Zusätzlich schröpft die Bundesregierung mit ihren Reformen bei den Sozialversicherungen - Kranken-, Renten-, Arbeitslosenversicherung - Arbeiter und ihre Familien. Versicherte werden zur Kasse gebeten, um die Unternehmen bei den Beiträgen zu entlasten.
Aber auch die Tarifpolitik der Gewerkschaften ist verantwortlich für das Absinken der Löhne und Gehälter, wie das gewerkschaftseigene Institut darstellt. Laut Statistischem Bundesamt sind im dritten Quartal 2004 die Löhne und Gehälter in Deutschland gegenüber dem Vorjahr um 0,6 Prozent gesunken. Die Unternehmens- und Vermögenseinkommen sind dagegen im gleichen Zeitraum um 10,3 Prozent gestiegen.
Das WSI berichtet, dass die effektiven Lohnsteigerungen aller Beschäftigten nur noch halb so groß ausfallen wie die vereinbarten Tariferhöhungen. Dies sei einerseits auf den Ausbau der Billiglohnjobs - der geringfügigen Teilzeitbeschäftigung - zurückzuführen, andererseits auf den Abbau von Sonderzahlungen wie Weihnachts- und Urlaubsgeld sowie die Anrechnung von Tariferhöhungen auf übertarifliche Entgelte. Letzteres hat die IG Metall z. B. in den vergangenen Tarifverhandlungen in der Autoindustrie unterschrieben.
Reaktion der Bundesregierung
Als die Bundesregierung vor fast vier Jahren den ersten Armuts- und Reichtumsbericht vorlegte, unternahm sie verschiedene Versuche, die bereits damals festgestellte wachsende soziale Polarisierung zu vertuschen. Auch diesmal gab es offensichtlich den Versuch, die Zahlen zu schönen. Bundessozialministerin Ulla Schmidt (SPD) ließ prüfen, welche Folgen es hätte, wenn die Armutsquote um Konjunktureinflüsse bereinigt würde. "Schließlich könne die rot-grüne Bundesregierung weder für die miese Weltwirtschaftslage noch für die hohen Ölpreise verantwortlich gemacht werden", schreibt der Spiegel. Dieser Versuch wurde aber schnell wieder verworfen. Er hatte keinerlei Auswirkungen auf die Armutsquote.
Ministerin Schmidt hatte daher vor, den Bericht zumindest vorerst unter Verschluss zu halten, mindestens bis Mitte nächsten Jahres, nach den für die SPD wichtigen Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen. Der Armuts- und Reichtumsbericht durfte daher weder kopiert noch per Mail weitergeleitet werden. Den Autoren durfte nur jenes Kapitel zugesandt werden, an dem sie als wissenschaftliche Experten mitgearbeitet hatten. Sie sollten auf keinen Fall den gesamten Bericht zu Gesicht bekommen.
Wann der Bericht nun veröffentlicht wird, nachdem einige Medien offensichtlich doch in seinen Besitz gelangt sind, ist unklar.
Nur eines ist sicher. Die Situation wird sich im kommenden Jahr dramatisch verschlechtern. Der Bericht selbst kündigt weitere Kürzungen bei den Rentnern an. Bei der Altersgruppe der über 65-jährigen sank die Armutsquote nämlich entgegen dem allgemeinen Trend von 13,3 Prozent 1998 auf 11,4 Prozent im Jahr 2003. Nur 1,3 Prozent der Rentner sind auf Sozialhilfe angewiesen. Die Regierung sieht sich daher darin bestärkt, diese Gruppe für weitere Kürzungen ins Visier zu nehmen. Unter dem Motto der "Generationengerechtigkeit" fordert der Bericht der Bundesregierung: "Die Jungen dürfen nicht überfordert werden."
Weitaus größere Auswirkungen wird die Einführung der Hartz-IV-Regelungen haben, der Zusammenlegung der Arbeitslosen- und Sozialhilfe. Rund eine halbe Million Menschen werden vermutlich ganz aus der Arbeitslosenhilfe fallen und sich sehr schnell bei den Armen einreihen. Auch hier werden wieder Kinder die Leidtragenden sein. Wohlfahrtsverbände schätzen, dass die Zahl der auf Sozialhilfe angewiesenen Kinder auf 1,5 Millionen anwachsen wird. Heinz Hilgers, Präsident des Deutschen Kinderschutzbundes, bezeichnete Hartz IV folgerichtig als "Katastrophe für Kinder".
Die Reichen werden hingegen schon in wenigen Wochen einen warmen Geldregen genießen. Die geplanten Steuersenkungen machen dies möglich. Ab nächsten Monat sinkt der Eingangssteuersatz von 16 auf 15 Prozent, der Spitzensteuersatz dagegen von 45 auf 42 Prozent. 1998 betrug der Spitzensteuersatz 53 Prozent. Ein Einkommensmillionär erhielte - wenn er denn Steuern zahlen würde - gegenüber dem letzten Jahr 30.000 Euro mehr im Jahr oder 2.500 Euro im Monat. Dies ist ein Nettobetrag, von dem die meisten Arbeiter nur träumen können.