Im Vorfeld der weltweiten Demonstrationen gegen den bevorstehenden Angriff auf den Irak unter Führung der USA hat die Londoner Financial Times einigermaßen verzweifelt zu erklären versucht, dass Öl kein wesentliches Motiv hinter dem amerikanischen Streben nach Krieg darstelle.
In einem Kommentar vom 12. Februar behauptete John Tatom von der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der DePaul University in Chicago, die Auffassung, Amerika wolle Saddam Hussein stürzen um an das irakische Öl zu kommen, sei "eine dieser großen ideologischen Streitfragen, die sich scheinbar (sic) allen rationalen Argumenten entziehen". Tatoms begründet seinen Standpunkt mit der oft wiederholten Behauptung, die USA benötige keine Kontrolle über die irakischen Ölfelder, da es billiger sei, das Öl auf dem freien Markt einzukaufen.
Auf Tatoms Kommentar folgte am 15. Februar, als sich über eine Million Demonstranten in London versammelten, ein Artikel des Kolumnisten Tony Jackson.
"Die Anti-Kriegs-Demonstranten werden heute in einer Frage weitgehend übereinstimmen: in der Irak-Krise geht es eigentlich’ um Öl. In gewisser Weise war dies zu erwarten. Wenn man die offiziell genannten Kriegsgründe nicht überzeugend findet, sucht man nach irgendwelchen heimlichen Zielen. Obwohl ich selbst Zweifel habe, kann ich keinen wirklichen’ Grund anbieten. Die Öl-These finde ich allerdings problematisch, weil sie für eine Haltung steht, die weitreichende Konsequenzen haben kann."
Nach Jacksons Auffassung muss dem "Öl-Irrtum" entgegentreten, weil Ölmanager, mit denen er gesprochen hatte, wegen dem drohenden Krieg nervös seien und der allgemeine Niedergang am Aktienmarkt darauf hindeute, dass diese Stimmung in der Wirtschaft weit verbreitet sei.
Der Grund, weshalb er die "Öl-These" für so gefährlich hält, ist also nicht ihr Wahrheitsgehalt, sondern die Folgen, die sie haben könnte. Verschwörungstheorien, dass Großkonzerne die Welt regierten, hätten "Auswirkungen auf das reale Leben", betont er. Sollte der Krieg "schief gehen" und die Öffentlichkeit glauben, die Ölkonzerne steckten dahinter, "könnte der Bumerang-Effekt gegen die Unternehmer wirklich unangenehm werden".
Diese Bemerkungen lassen die Beweggründe anderer Kommentatoren ahnen, die versuchen, einen Zusammenhang zwischen dem Irak-Krieg und dem Erdöl zu widerlegen. Sie fürchten die Radikalisierung breiter Massen der Bevölkerung, wenn die tatsächliche politische Ökonomie des globalen kapitalistischen Systems sichtbar wird¸ die dem von den Medien präsentierten Bild des "freien Marktes" ganz und gar nicht entspricht.
Wie schon viele andere vor ihm, versucht auch Jackson, eine ökonomische Analyse der Triebkräfte des Kriegs abzutun, indem er behauptet, sie würde durch unmittelbare Ereignisse - wie Aussagen von Managern oder Marktschwankungen - widerlegt, oder indem er sie karikiert - als geheime Clique von Managern, die hinter den Kulissen die Strippen zieht.
Öl spielt bei dem Angriff auf den Irak nicht einfach deshalb eine große Rolle, weil Bush, Cheney und andere Mitglieder der US-Regierung enge Beziehungen zur Ölindustrie haben - auch wenn diese wichtig sind. Die Gründe liegen tiefer. Sie hängen mit der Stabilität des amerikanischen Kapitalismus selbst und seinem unablässigen Streben nach einer dominierenden Rolle in der Weltwirtschaft zusammen.
Die auf lange Sicht zunehmende Abhängigkeit der US-Wirtschaft von Öleinfuhren ist gut dokumentiert. Die National Energy Policy Development, der Vizepräsident Dick Cheney vorsteht, berichtete im Mai 2001, dass die heimische Ölproduktion in den nächsten beiden Jahrzehnten um 12 Prozent abnehmen werde. Bei einem gleichzeitig erwarteten Anstieg des Ölverbrauchs um ein Drittel während dieses Zeitraums führt das dazu, dass die Abhängigkeit der USA von importiertem Öl, die von 1985 bis heute von einem Drittel auf über 50 Prozent zugenommen hat, auf zwei Drittel ansteigen wird.
Der Bericht von Cheney besagt, dass die Produzenten am Persischen Golf allein im Jahre 2020 für bis zu zwei Drittel der weltweiten Ölexporte aufkommen werden. Die Kontrolle über die Region wird also in Zukunft noch wichtiger sein als in der Vergangenheit.
Auf die große Bedeutung des Irak unter diesen Bedingungen ist schon oft hingewiesen worden. Er verfügt über die zweitgrößten Ölreserven der Welt, 115 Millionen Barrel. Diese Zahl könnte sich auf 220 bis 250 Millionen erhöhen, wenn weitere mögliche Reserven vollständig erkundet sind.
Strategische Interessen der USA
Die Kontrolle über die Ölvorräte des Nahen Ostens war schon immer ein strategisches Ziel der USA. Als Präsident Truman 1947 mit seiner berühmten Rede den Kalten Krieg in Gang setzte und die nach ihm benannte Doktrin formulierte, nannte er den Nahen Osten mit seinen "großen natürlichen Ressourcen" als einen Aspekt im Kampf gegen den "Kommunismus".
1974-75, inmitten der Ölpreiserhöhungen seitens der OPEC-Staaten und einer drohenden Verschärfung des Ölembargos, diskutierte die US-Regierung die Möglichkeit militärischer Aktionen gegen ölfördernde Staaten.
Nach dem Sturz des Schahs von Persien 1979, der 1953 durch einen CIA-gestützten Putsch gegen den nationalistischen Führer Mossadegh an die Macht gekommen war, war die USA zunehmend beunruhigt über ihre Interessen in der Region. So warnte Präsident Carter 1980 in seiner Rede an die Nation: "Jeden Versuch von außen, die Region des Persischen Golf unter Kontrolle zu bekommen, werden die USA als einen Angriff auf ihre Lebensinteressen verstehen. Ein derartiger Angriff wird mit den notwendigen Mitteln abgewehrt werden, militärische Gewalt eingeschlossen." Diese neue Politik, die Carter-Doktrin, sei, so Carter, durch die "überragende Abhängigkeit westlicher Nationen von den lebenswichtigen Öllieferungen der Ölproduzenten des Nahen Ostens" nötig geworden.
Als Zeuge vor dem Streitkräfteausschuss des Senats 1990, nach der Invasion Kuwaits durch den Irak, nannte Verteidigungsminister (heute Vize-Präsident) Dick Cheney die Gründe für den von den USA angeführten Krieg: "Der Irak kontrollierte vor der Invasion Kuwaits zehn Prozent der weltweiten Reserven. Nach der Einnahme Kuwaits hat Saddam diesen Anteil an den bekannten Ölvorräten der Welt auf 20 Prozent gesteigert... Nach der Einnahme von Kuwait... ist er offensichtlich in der Lage, die Zukunft der globalen Energiepolitik zu diktieren, und das hat ihm die Möglichkeit gegeben, unsere Wirtschaft wie auch die der meisten anderen Länder der Welt zu erpressen".
Innerhalb von Tagen nach der irakischen Besetzung Kuwaits äußerte sich ein "hochrangiger amerikanischer Politiker" (man munkelt, es sei Außenminister James Baker gewesen) gegenüber der New York Times noch unverblümter: "Wir sprechen über Öl. Klar? Öl, vitale amerikanische Interessen".
Seit dem Golfkrieg ist dieses Interesse nicht geringer, sondern noch stärker geworden, wie die Zahlen über die Abhängigkeit der amerikanischen Wirtschaft von importiertem Öl zeigen. Und die Frage, welche Unternehmen die Ölförderung kontrollieren, ist vom ökonomischen wie politischen Standpunkt von grundlegender Bedeutung.
Wie der amerikanische Wissenschaftler Michael T. Klare (Autor des Buches Resource Wars) in einem neueren Artikel hervorhebt (Foreign Policy in Focus unter http://www.fpif.org), ergibt sich eines der wichtigsten Ziele der jetzigen amerikanischen Regierung aus Cheneys Analyse von 1990. "Wer immer die Ölproduktion am Persischen Golf kontrolliert, kann nicht nur unsere Wirtschaft, sondern auch die der meisten Länder der Welt’ in den Würgegriff nehmen’. Dieses Bild ist sehr aussagekräftig und beschreibt glänzend, wie die Regierung über die Golfregion denkt, allerdings in umgekehrter Weise: Wenn wir die wichtigste Macht in der Golfregion sind, dann können WIR die Wirtschaft der anderen Länder in den Würgegriff nehmen."
Wie wichtig die Aufrechterhaltung dieser dominierenden Position geworden ist, ist durch die jüngsten Konflikte zwischen der USA und dem "alten Europa" - vor allem Frankreich und Deutschland - deutlich geworden.
Wie Klare betont, befindet sich das Ziel, das Öl am Persischen Golf zu kontrollieren, "in Übereinstimmung mit dem erklärten Ziel der Regierung, auf immer allen anderen Nationen militärisch überlegen zu sein". Ebenso deckt es sich mit der in der Regierungserklärung zur nationalen Sicherheitspolitik formulierten Absicht, "jede rivalisierende Macht auf immer daran zu hindern, jemals mit den USA auf gleichem Niveau konkurrieren zu können".
Öl und der US-Dollar
Neben den geopolitischen Interessen, die den ersten Golfkrieg bestimmten und deren Bedeutung inzwischen nicht ab-, sondern zugenommen hat, gibt es einen weiteren wichtigen Grund, weshalb die USA einen "Würgegriff" über die Ölreichtümer des Persischen Golfs ausüben müssen.
Eine Reihe von Medienkommentatoren versuchen, die Beziehung zwischen dem Öl und dem amerikanischen Kriegsstreben zu leugnen. Sie heben immer wieder hervor, dass es letztlich gleichgültig sei, wer diese Ressourcen kontrolliert, da sie immer noch auf dem Weltmarkt verkauft werden müssten, wo das Öl für die USA und andere Käufer angeboten würde.
Auch wenn man annimmt, dass der Ölmarkt so funktioniert wie sie annehmen (es gibt keinen Boykott, und keine Produktionseinschränkungen, um den Preis zu heben oder ähnliche Maßnahmen), gibt es immer noch ein anderes Problem - in welcher Währung werden die Öllieferungen bezahlt? Und diese Frage wird für die langfristige finanzielle und wirtschaftliche Stabilität der Vereinigten Staaten immer bedeutsamer.
Als der Golfkrieg 1990 ausbrach, hatte sich die finanzielle Position der USA gerade in historischem Ausmaß verändert. Zum ersten Mal seit die USA 1914 zur dominierenden kapitalistischen Macht geworden waren, war das Land zur Schuldnernation geworden. In den Jahren seit 1990 haben sich die Vereinigten Staaten zum höchstverschuldeten Land der Welt entwickelt.
Nach neuesten Schätzungen schulden die USA dem Rest der Welt mehr als 2,7 Billionen Dollar, was mehr als einem Viertel des Bruttosozialprodukts entspricht. Um diese Schulden zu finanzieren, sind die USA auf einen Kapitalzustrom von außen in Höhe von etwa 2 Mrd. Dollar täglich angewiesen. Einer der Hauptgründe, weshalb die USA eine solche enorme Menge Geld anzieht (die etwa zwei Dritteln des in der Weltwirtschaft erzielten Überschusses entspricht), findet sich in der Rolle des Dollars als wichtigste internationale Reservewährung. Schätzungen zufolge wurden gegen Ende der 90er Jahre mehr als vier Fünftel aller Devisentransaktionen sowie die Hälfte der weltweiten Exporte in Dollar abgerechnet, und etwa zwei Drittel aller offiziellen Währungsreserven wurden in Dollars gehalten.
Mit der Einführung des Euro durch die Europäische Union hat jedoch ein potenzieller Rivale den Weltmarkt betreten. Zunächst sorgte der anhaltende Anstieg des Dollarkurses dafür, dass der Euro nicht als attraktive Option erschien. Mit dem Zusammenbruch der Spekulationsblase an den US-Aktienmärkten ist die Situation eine andere geworden. Seit Ende 2000 hat der Dollar gegenüber dem Euro mehr als 15 Prozent eingebüßt.
Daher denken OPEC-Länder darüber nach, ob es irgendwann in der Zukunft sinnvoll sein könnte, den Dollar durch den Euro als Zahlungsmittel zu ersetzen. In einer Rede im April 2002 bemerkte der Leiter des Petroleum Market Analysis Department der OPEC, Javad Yarjani, dass die meisten OPEC-Länder bis auf weiteres Dollars als Zahlungsmittel verlangen würden, die OPEC jedoch für die Zukunft "nicht gänzlich die Möglichkeit ausschließen will, bei Preisfestsetzung und Bezahlung auf Euro überzugehen."
Sollte die OPEC zum Euro als Zahlungsmittel wechseln, wären die USA sehr schnell mit einem wirtschaftlichen "Albtraum-Szenario" konfrontiert. Wichtige Ölimporteure müssten einen Teil ihrer Dollarbestände - Aktien, Bonds und andere Anlagen - in Eurobestände wandeln. Der Wert des Dollars würde deutlich fallen, und möglicherweise einen weiteren Rückzug von Geldern nach sich ziehen, weil sich Investoren um den Wert ihrer Dollarvermögen sorgen würden. Die drückende US-Schuldenlast, die jetzt in den täglichen Geldgeschäften kaum eine Rolle spielt, würde zu einem gewichtigen Faktor werden.
Eine Veränderung der Währungsgrundlage des Ölexportmarkts oder eines bedeutenden Teils davon würde also auf die Position der Vereinigten Staaten auf den internationalen Finanzmärkten erhebliche Auswirkungen haben, gleich, ob Öl frei verfügbar oder wie hoch sein Preis wäre. Kontrollieren die USA aber die irakischen Ölvorräte, direkt oder mittels eines Marionettenregimes, wären sie in einer viel besseren Position, einen Wechsel der Währung seitens der OPEC zu verhindern.
Bedenkt man die langfristigen strategischen Fragen, so wird klar, weshalb Washington zu militärischer Gewalt greifen muss, um die großen wirtschaftlichen Probleme zu überwinden, mit denen es der amerikanische Kapitalismus zu tun hat.
Die Verwandlung der USA von der größten Gläubigernation in die größte Schuldnernation der Welt in kaum mehr als zwei Jahrzehnten ruft die vorausschauenden Worte Trotzkis aus den späten zwanziger Jahren in Erinnerung, dass eine wirtschaftliche Krise nicht mit der Schwächung der amerikanischen Vorherrschaft einhergehen würde.
"Gerade umgekehrt", betonte Trotzki, "wird sich die Hegemonie der Vereinigten Staaten während der Zeit einer Krise noch viel vollständiger, offener, schärfer und rücksichtsloser auswirken, als während der Zeit des Aufstiegs. Die Vereinigten Staaten werden ihre Schwierigkeiten und Krankheiten auf Kosten Europas bekämpfen und überwinden. Ganz gleich, ob das in Asien, Indien, Südamerika oder in Europa selbst vor sich gehen wird. Ganz gleich, ob das auf friedlichem oder kriegerischem Weg geschieht." (Leo Trotzki, Die Dritte Internationale nach Lenin)