Frankreich: Gericht stellt Verfahren wegen AIDS-verseuchtem Blut ein

Am 18. Juni hat Frankreichs höchstes Berufungsgericht beschlossen, alle Verfahren gegen die Angeklagten im Skandalprozess um die Abgabe von AIDS-verseuchten Blutkonserven an die französische Bevölkerung aus Mangel an Beweisen einzustellen. Diese Entscheidung des Kassationsgerichts zieht den Schlussstrich unter die systematische Vertuschung eines der schrecklichsten Verbrechen, das die der Regierung der Sozialistischen Partei (PS) Anfang der achtziger Jahre in Frankreich begangen hat. Der Fall ist nicht nur wegen der berechtigten Empörung der Opferfamilien so brisant, sondern auch weil die höchsten politischen und wirtschaftlichen Kreise in dieses Verbrechen an der Gesellschaft verwickelt waren.

Von 1983-85 gaben die Leiter des Nationalen Zentrums für Bluttransfusionen CNTS (der öffentlichen Einrichtung zur Aufnahme und Abgabe von Blutspenden) Konserven unbehandelten Blutes ab, von dem sie wussten, dass es mit dem AIDS-Verursachervirus HIV verseucht war. Über 4.000 Opfer, vor allem französische Hämophile (Bluterkranke), erhielten Transfusionen mit diesem verseuchten Blut. Seither sind viele von ihnen gestorben. Die Untersuchungen darüber, ob kontaminierte Blutkonserven auch in andere Länder, in erster Linie nach Tunesien, geliefert wurden, wo sie weitere Opfer forderten, sind noch nicht abgeschlossen.

Patrice und Agnès Gaudin, die Eltern zweier hämophiler Kinder, die im Alter von fünf und acht Jahren durch infiziertes Blut angesteckt wurden und mit elf und fünfzehn Jahren starben, berichteten: "Sie wurden als Versuchskaninchen benutzt und erhielten zweimal die Woche Bluttransfusionen, obwohl ihre Hämophilie eine solche Behandlung nur einmal im Monat erforderlich machte. Von 1983 bis 1985 wussten die Ärzte von der Verseuchung der Blutplasmen - zuerst mit 45-prozentiger, dann mit sechzigprozentiger, dann mit hundertprozentiger Sicherheit."

Die französische Kriminaljustiz stellte fest, dass die CNTS-Direktoren im Mai 1985 wussten, dass das infizierte Blut tödlich war. Aber bis Oktober 1985 verkauften sie es weiter. Dies war der wichtigste Umstand, auf den sich 1992 die Verurteilung von Jean-Michel Garretta stützte, der im Jahr 1985 Leiter des zentralen Bluttransfusionsdienstes gewesen war. Im gleichen Prozess wurden Garrettas Assistent, Jean-Pierre Allain, der ehemalige Leiter des staatlichen Gesundheitswesens, Jacques Roux, und der ehemalige Direktor der nationalen Gesundheitslaboratorien schuldig gesprochen, wobei letzterer später rehabilitiert wurde.

Während man sich darauf konzentrierte, die im Gesundheitswesen verantwortlichen Beamten zu bestrafen, trägt die damalige PS-Regierung unter Führung von Laurent Fabius ebenso große, wenn nicht noch größere Verantwortung. Sie hielt einen AIDS-Bluttest der amerikanischen Firma Abbott vom französischen Markt fern, damit die französische Firma Pasteur ihr eigenes Testverfahren entwickeln konnte. Heute gilt Laurent Fabius, der zweite Mann in der Sozialistischen Partei und Sprecher eines Flügels der offenen Markbefürworter, als PS-Kandidat für die nächsten Präsidentschaftswahlen im Jahr 2007.

Bis Ende der neunziger Jahre zogen sich Gerichtsverfahren gegen Mitglieder der Regierung Fabius hin - gegen Fabius selbst, die Sozialministerin Georgina Dufoix und den Staatssekretär für Gesundheit, Edmond Hervé. 1992-93 hatte zwar der Oberste Gerichtshof die Anklagen gegen die Minister aus Mangel an Beweisen niedergeschlagen, aber die französische Hämophilengesellschaft eröffnete 1994 erneut einen Prozess vor der Cour de Justice de la République (CJR), einem besonderen Gerichtshof für Regierungsmitglieder.

Im März 1999 sprach die CJR, die sich aus drei Richtern und 23 Abgeordneten zusammensetzte, Fabius und Dufoix frei, während sie Hervé der fahrlässiger Tötung und Verwundung schuldig sprach, wofür dieser jedoch nicht bestraft wurde. Ein PS-Senator, François Autain, sorgte für einen Skandal, als er erklärte, dass er und alle seine Kollegen von der Sozialistischen Partei in diesem Verfahren dafür gestimmt hätten, die Angeklagten freizusprechen, weil die Anklagen "politisch motiviert" gewesen seien.

Die Richterin Marie-Odile Bertella-Geffroy schloss die Untersuchungen im Mai 1999 ab und bereitete Prozesse gegen sieben Angeklagte wegen Vergiftung und weitere 23 Angeklagte wegen fahrlässiger Tötung vor. Unter diesen Angeklagten befand sich Laurent Schweitzer, ehemaliger Assistent von Fabius und heutiger Vorstandsvorsitzender der Renault-Werke, sowie Edmond Hervés Berater. Im Juli 2002 ließ das Pariser Berufungsgericht diese Anklagen aus Mangel an Beweisen fallen, und diese Entscheidung ist jetzt durch den Kassationshof abschließend bestätigt worden.

Der jüngste Gerichtsentscheid stützt sich in weiten Teilen auf ein Gesetz, das von Senator Pierre Fauchon (UDF, liberalkonservative Partei) eingebracht und am 10. Juli 2000 verabschiedet worden war. Es veränderte den Strafkodex dahingehend, dass in Fällen der Fahrlässigkeit ein sehr hohes Maß an Beweisen erforderlich ist. Seither müssen die Ankläger einen "charakteristischen Fehler" "von besonderer Schwere" nachweisen, um zu beweisen, dass jemand eines solchen Verbrechen schuldig ist.

Als die Nationalversammlung dieses Gesetz verabschiedete, wurde dies gemeinhin als juristische Amnestie für den Blutskandal aufgefasst. Deshalb schrieb Olivier Duplessis, der Präsident der französischen Vereinigung für die Empfänger von Bluttransfusionen, einen Brief an François Hollande, damals PS-Präsident, in dem er den Vorwurf erhob, dieses Gesetz führe "ein zweigleisiges Recht ein, das hohe Staatsbeamte begünstigt, besonders die politischen, und niedere bestraft, obwohl die ‚direkten' Fehler von diesen oftmals nur die unvermeidliche Folge der Entscheidungen von jenen sind, die ‚indirekte' Fehler machen."

Die Entscheidung des Kassationsgerichts, den Skandal zu vertuschen, ist in einer beleidigenden und arroganten Sprache verfasst. So kommentierte der Vertreter des Generalstaatsanwalts, Dominique Commaret, angesichts einer Verschwörung, die sich über Jahre hinwegzog: "Die Strafjustiz ist nicht verpflichtet, jedes Mal jemanden schuldig zu sprechen, wenn es im Leben zu einem Unfall kommt."

Die entscheidende Rolle, die das Fauchon-Gesetz für die Niederschlagung der Anklagen spielt, ist offensichtlich, wenn man sich das Verfahren gegen Edmond Hervés Berater anschaut. Obwohl die Beweise 1999 offensichtlich ausreichten, um den Minister zu verurteilen, wird sein Berater - wie der Rest der Angeklagten - 2003 freigesprochen. In der Begründung des Gerichts heißt es: "Angesichts der Unsicherheit, ob eine kausale Verbindung bestehe zwischen den Fehlern, derer sie beschuldigt sind, und den Schäden, die angeblich daraus resultierten, können die Fehler der ministeriellen Kabinettsbeamten, der Angehörigen des Blutspendedienstes und der Leiter der nationalen Gesundheitslaboratorien nicht kriminalisiert werden."

Emmanuel Piwnica, der Anwalt von Laurent Schweitzer, schlug eine gröbere Tonart an, als er die Angehörigen der Verstorbenen belehrte: "Das Strafjustizsystem ist kein Spielzeug.... Es kann weder die Probleme des öffentlichen Gesundheitswesens noch das Leiden der Opfer lösen."

Die Familien der Opfer, die beim Prozess anwesend waren, schrieen ihre Wut und Frustration heraus. Der Berichterstatter der Tageszeitung Le Monde schilderte die Szene: "Die Opferfamilien schreien laut, während das Gericht als eine lange Reihe schwarzer Roben, die dem Publikum den Rücken zuwenden, sich zurückzieht. ‚Schande! Schande über euch!' ‚Verkommene Justiz!' ‚Ihr habt nicht einmal die Akten studiert, alles war schon vorher entschieden!'" Eine Familie erklärte gegenüber der Tageszeitung Libération : "Es gibt zweierlei Justiz: eine für die Schreibtischmörder, die andere für die niederen Gesellschaftsschichten."

Anwälte, die auf öffentliche Gesundheit und medizinische Fälle spezialisiert sind, fürchten nun, dass diese Entscheidung, die ihre Grundlage in der Interpretation des Fauchon-Gesetzes hat, jede zukünftige Strafverfolgung in Fällen, in denen es um grobe Fahrlässigkeit oder Vernachlässigung der Sorgfaltspflicht geht, unmöglich machen könnte. François Honnorat brachte es auf den Punkt: "Seit dem Fauchon-Gesetz haben wir ein Problem damit, nachzuweisen, dass es Fehler gab."

In der Tat stehen mehrere umstrittene Verfahren im Gesundheitswesen kurz vor Prozessbeginn, bei denen es praktisch unmöglich sein wird, eine direkte Verbindung zwischen der Handlungsweise eines jeweiligen Beamten oder Arztes und dem Ausbrechen einer besonderen Krankheit nachzuweisen. Dazu gehört unter anderem die Impfkampagne gegen Hepatitis B, in der pharmazeutische Konzerne wissentlich falsche Angaben veröffentlichten, um Impfungen zu begründen, die für nicht unmittelbar von der Krankheit bedrohte Menschen ernsthafte Nebenwirkungen haben konnten. Ein weiteres Verfahren betrifft die radioaktive Strahlung, die vom Atomkraftwerk Tschernobyl ausging und deren Bedeutung die französischen Gesundheitsbehörden herunterspielten, so dass elementare Vorsichtsmaßnahmen unterblieben, die im ganzen übrigen Europa zur Anwendung kamen. Und schließlich geht es um die Creutzfeldt-Jakob'sche Krankheit (BSE), eine tödliche Krankheit, die nach dem Konsum von kontaminiertem Rindfleisch das Gehirn der Betroffenen zersetzt.

Libération schrieb am 19. Juni: "Das gesamte Spektrum der strafrechtlichen Verantwortung im öffentlichen Gesundheitswesen ist in Frage gestellt." Am 20. Juni beklagte sich auch die konservative Tageszeitung Le Figaro über das Fauchon-Gesetz, wenn auch von einem etwas anderen Standpunkt aus: Ihre Sorge bezog sich darauf, dass die "Rücksichtnahme", die das Gesetz gegen hohe Politiker vorsieht, nicht auch auf Vorstandsvorsitzende großer Konzerne Anwendung findet.

In der Tat zeigt diese Tragödie, dass die großen politischen Parteien und die Pressekonzerne in Frankreich wenn nötig zusammenhalten, um sicherzustellen, dass strafrechtliche Verantwortung im öffentlichen Gesundheitswesen keine Geltung hat. Wie der Kommentar des Figaro zeigt, suchen herrschende Kreise bereits aktiv nach neuen Wegen, um sich in Zukunft noch besser vor strafrechtlicher Verfolgung zu schützen. Dies sollte all jenen zu denken geben, die sich darauf verlassen, dass "demokratische" Regierungen nicht in der Lage seien, um des Profits oder der Staatsraison willen ihre eigenen Bürger zu töten.

Siehe auch:
US-Bericht über AIDS zeichnet ein Bild der Verwüstung
(21. Juli 2000)
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