Drei Monate vor der Bundestagswahl hat die rot-grüne Regierung in Berlin die Entscheidung getroffen, mit einem ausgesprochen rechten, unsozialen, gegen die Mehrheit der Bevölkerung gerichteten Programm in die Offensive zu gehen. Darin besteht die Bedeutung der Vorabveröffentlichung der Kernthesen der Hartz-Kommission.
Diese Kommission unter Leitung des Personalvorstands von VW, Peter Hartz, war vor drei Monaten von der Bundesregierung eingesetzt worden. Sie sollte Mechanismen entwerfen und Maßnahmen entwickeln, um das gesamte System der Arbeitsvermittlung zu privatisieren und so die Arbeitslosenversicherung auf Wettbewerb und Marktinteressen auszurichten.
Im Zentrum ihrer Vorschläge stehen vor allem zwei grundlegende Änderungen. Die Privatisierung der Arbeitsvermittlung und die Kürzung der Arbeitslosenunterstützung, letzteres durch die faktische Zusammenführung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe (siehe dazu den gesonderten Artikel). Beide Änderungen zielen darauf ab, die Arbeitslosen zu zwingen, jede Art von Arbeit anzunehmen und dadurch einen Niedriglohnsektor aufzubauen.
Ursprünglich sollte die Kommission bis Ende August arbeiten und ihre Vorschläge sollten der kommenden Bundesregierung nach den Wahlen als Orientierungshilfe dienen. Im Frühjahr hatte Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) die Regierungsmitglieder noch ausdrücklich angewiesen, alle Reformvorhaben und damit verbundenen weiteren Angriffe auf das Sozialsystem zu drosseln und für die Zeit des Wahlkampfs die Frage der sozialen Gerechtigkeit in den Vordergrund zu stellen.
Die vorgezogene Veröffentlichung der Hartz-Thesen und die Ankündigung ihrer möglichst schnellen Umsetzung bedeutet eine deutliche Änderung dieser politischen Linie. Die Bundesregierung reagiert damit auf die zum Teil dramatischen Stimmenverluste der sozialdemokratischen Parteien bei den jüngsten Wahlen in Frankreich, Holland und Portugal, bei denen frühere sozialdemokratische Stammwähler den Urnen massenhaft fernblieben und extrem rechte Parteien große Stimmengewinne verzeichnen konnten.
Dieser Kurswechsel ist in mehrerer Hinsicht bedeutsam. Vor vier Jahren hatte die SPD ihren Wahlkampf unter der Parole "Innovation und Gerechtigkeit" geführt. Am Ende der Legislaturperiode ist klar, dass die Ausrichtung der Politik auf die Interessen der Konzerne und Banken (die Schrödersche "Innovation") nicht mit der Aufrechterhaltung des traditionellen Sozialsystems ("Gerechtigkeit") zu vereinbaren ist. Spätestens die Wahlniederlage der Jospin-Regierung in Frankreich hat dies deutlich gemacht.
Auch in Deutschland signalisieren die Umfragen seit Monaten, dass die traditionellen Wähler der SPD tief enttäuscht in Scharen davonlaufen. Die SPD reagiert auf diese Entwicklung mit einem deutlichen Rechtsruck. Sie versucht die Union im Wahlkampf zu schlagen, indem sie ihrerseits um die Stimmen der Privilegierten buhlt. Der Rechtsruck ist so abrupt, dass er die Union vorübergehend aus dem Konzept gebracht hat. Sie bezeichnet die Hartz-Vorschläge einerseits als unseriös und wirft Schröder gleichzeitig vor, er habe ihr Programm gestohlen.
Arbeitslosigkeit als Brechstange
Obwohl viele Vorschläge der Hartz-Kommission nicht neu sind und bereits früher erwogen und diskutiert wurden, stellen sie in ihrer Gesamtheit doch einen Richtungswechsel in der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik dar. Bisher hatte die Regierung versucht, durch die Senkung der Unternehmenssteuern auf der einen Seite und Druck auf die Arbeitslosen auf der anderen, durch Verschärfung der Zumutbarkeit und andere Maßnahmen die Arbeitslosigkeit zu senken.
Nun wird die Massenarbeitslosigkeit als Hebel benutzt, um das traditionelle Sozialgefüge aufzubrechen und Billiglohnarbeit in großem Stil durchzusetzen. Um dies zu erreichen schlägt die Hartz-Kommission, soweit bisher bekannt, 13 sogenannte Module vor. Die wichtigsten davon sind folgende:
In jedem der bundesweit 181 Arbeitsämter soll zukünftig eine sogenannte Personal-Service-Agentur (PSA) eingerichtet werden. Die Arbeitsämter selbst oder private Zeitarbeitsunternehmen sollen die Arbeitslosen, die länger als sechs Monate ohne Arbeit sind, einstellen und sie in Arbeit zwängen. Die gesetzlichen Vorschriften, die die Leiharbeit erschweren, sollen zu diesem Zweck gelockert werden. So soll das Verbot kürzerer Kündigungsfristen bei einer Beschäftigungsdauer bis drei Monate entfallen und Leiharbeit auch im Bauhauptgewerbe erlaubt werden. "Faktisch führt die verstärkte Einschaltung von Zeitarbeitsfirmen und PSA aus Sicht der Unternehmen zu einer Neutralisierung des Kündigungsschutzes", heißt es im Hartz-Papier.
Dieses Konzept würde die Zahl der Leiharbeitsverhältnisse innerhalb von drei Jahren verdreifachen und die Zahl der Arbeitslosen um 780.000 senken, verspricht Hartz. Bislang arbeiten nur 0,7 Prozent aller Beschäftigten in Deutschland bei Leiharbeitsfirmen, in den Niederlanden sind es bereits drei Prozent.
Arbeits- und Sozialämter sollen zu "JobCentern" fusionieren, Arbeitslosengeld und -hilfe sowie Sozialhilfe in einem gestuften System zusammengeführt werden. In den ersten sechs Monaten erhielten Arbeitslose eine Pauschale, in den folgenden sechs Monaten genau berechnetes Arbeitslosengeld. Anschließend gäbe es keine Arbeitslosenhilfe mehr, sondern ein reduziertes Arbeitslosengeld. Ab dem 25. Monat würde jedem ein Sozialgeld bezahlt, das der heutigen Sozialhilfe entspricht.
Vor allem für Langzeitarbeitslose zwischen 45 und 55 Jahren würden die Verhältnisse sehr schwierig. Während sie bislang einen zeitlich unbegrenzten Anspruch auf Arbeitslosenhilfe haben, würden sie nun nach zwei Jahren zu Sozialgeldempfängern degradiert. Dann müssten sie jede Arbeit annehmen, auch gemeinnützige für 1,50 Euro pro Stunde. Außerdem werden für Sozialgeldempfänger keine Rentenbeiträge abgeführt.
Auch ein anderer Vorschlag dient dazu, den Niedriglohnbereich auszubauen. Den Arbeitslosen soll es "erleichtert" werden, sich selbständig zu machen. Die Kommission hat dafür die zynische Bezeichnung "Ich AG", bei Unterstützung von Familienmitgliedern "Familien AG" geprägt. Bei einem Jahresverdienst von 15.000 bis 20.000 Euro sollen diese Selbständigen einen Pauschalsteuerbetrag in Höhe von 10 oder 15 Prozent zahlen. Bei genauerem Hinsehen heißt das, die Arbeitslosen würden als "selbständige Unternehmer" bei den Reichen den Haushalt führen, Garten pflegen, Fuhrpark waschen, die Fenster putzen oder Kinder betreuen. In Presseberichten werden Vertreter der Kommission zitiert, die davon schwärmen, dass in Privathaushalten Hunderttausende neue Arbeitsplätze entstehen werden.
Die Rolle der Gewerkschaften
Der neue Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbunds (DGB), Michael Sommer erklärte unmittelbar nach bekannt werden der Kernaussagen des Berichts: "Die Richtung stimmt!" Nahezu gleichlautend äußerte sich der Chef der IG Metall Klaus Zwickel auf einer Pressekonferenz in Frankfurt: "Zwei Millionen Menschen wieder in Arbeit vermitteln - da machen wir mit."
Doch die Rolle der Gewerkschaften beschränkt sich nicht auf verbale Unterstützung und das Angebot an Bundeskanzler Schröder, die Angriffe auf die Arbeitslosen mitzutragen. Vielmehr stammen viele der Vorschläge direkt aus den Chefetagen der Gewerkschaftshäuser. Denn nicht nur der sozialdemokratische Arbeitsminister, Walter Riester, in dessen Auftrag die Kommission arbeitete, war stellvertretender Vorsitzender der IG Metall, bevor er ins Arbeitsministerium umzog, sondern auch Kommissionsleiter Hartz ist seit über vierzig Jahren Mitglied derselben Gewerkschaft.
Über die IG Metall wurde Peter Hartz vor 25 Jahren Arbeitsdirektor der Dillinger Hütte-Saarstahl AG (DHS). Gemeinsam mit Oskar Lafontaine (SPD), der damals Ministerpräsident im Saarland war, und seinem Bruder Kurt Hartz, der als saarländischer IG-Metall-Chef die SPD-Landtagsfraktion leitete, spielte er als Arbeitsdirektor von Saarstahl eine Schlüsselrolle bei der systematischen Zerschlagung der saarländischen Stahlindustrie und der Vernichtung von Tausenden von Arbeitsplätzen. Hier verdiente er seine Sporen und wurde anschließend über die SPD-IGM-Connection in den VW-Vorstand gehievt.
Auch der Ver.di-Vorstand war mit Isolde Kunkel-Weber in der Hartz-Kommission vertreten. Darüber hinaus saßen neben den Managern von DaimlerChrysler, BASF, Deutsche Bank und den Unternehmensberatern Roland Berger und McKinsey in der Kommission auch Peter Gasse, Bezirksleiter der IG Metall Nordrhein- Westfalen, sowie dessen Vorgänger Harald Schartau (SPD), jetzt Arbeitsminister in NRW.
Der Kommissionsbericht und die Entschlossenheit der Bundesregierung, die Vorschläge zügig umzusetzen, leitet ein neues Stadium sozialer Konflikte und politischer Auseinandersetzungen mit SPD und Gewerkschaften ein.