Am vergangenen Montag, den 8. Oktober starben auf dem Mailänder Flughafen Linate mindestens 119 Menschen bei einer Kollision einer Passagiermaschine der skandinavischen Fluggesellschaft SAS mit einem deutschen Privatflugzeug, einer Cessna 525A.
Als die SAS-Maschine vom Typ Boeing MD 87 gegen 8.10 Uhr mit dem Ziel Kopenhagen abheben wollte, kreuzte die deutsche Cessna die Startbahn. Die Nase schon leicht angehoben, raste der Jet mit einem Tempo von fast 300 Stundenkilometern in das Privatflugzeug, drehte sich um 45 Grad und schoss in einen Hangar der Gepäckabfertigung, wo er explodierte. Alle 104 Passagiere und die sechs Besatzungsmitglieder verbrannten in den Trümmern. Auch die vierköpfige Besatzung der Cessna sowie mindestens fünf Arbeiter der Gepäckabfertigung kamen ums Leben.
Zum Zeitpunkt des Unglücks herrschte dichter Nebel auf dem Mailänder Flughafen. Die Sichtweite betrug nur etwa 60 Meter. Der Flughafen Linate in Mailand ist neben Mailand/ Malpensa einer der wichtigsten und mit acht Millionen Reisenden einer der meist frequentierten Flughäfen Europas.
Noch während der Rettungsarbeiten begann das Spekulieren über die Unglücksursache. Nachdem ein Terroranschlag relativ früh ausgeschlossen worden war, erklärten die Verantwortlichen das, was sie bei Unglücken dieser und ähnlicher Art fast immer verlauten lassen: Ursache der Katastrophe sei "menschliches Versagen" und eine "Verkettung unglücklicher Umstände".
Der zuständige Infrastrukturminister Pietro Lunardi schrieb dem Piloten der Cessna "menschliches Versagen" zu. Die Luftraumüberwachungsbehörde ENAV argumentierte, dass der Pilot entgegen den Anweisungen die Startbahn gekreuzt und dabei zwei rote Ampeln missachtet habe. Und der Chef der mehrheitlich im Besitz der Stadt Mailand befindlichen Betreibergesellschaft SEA, Giorgio Fossa, meinte, wie anfänglich auch die Mailänder Staatsanwaltschaft, der deutsche Pilot habe einfach die falsche Verbindungspiste gewählt. Das ginge aus dem Funkverkehr mit dem Tower hervor. "Alles andere", so Lunardi, sei "reine Spekulation".
Doch je mehr sich der Nebel über Linate lichtete, um so offenkundiger wurde, dass nicht individuelle persönliche Fehler diese Katastrophe ausgelöst hatten, sondern eine geradezu kriminelle Vernachlässigung der Sicherheitsvorkehrungen auf dem Flughafen.
Nach Angaben der ENAV sind Start- und Landebahn des Flughafens Linate bei dichtem Nebel vom Kontrollturm aus nicht sichtbar. Die Flugzeuge erscheinen auf dem Radar der Fluglotsen erst, wenn sie sich in etwa 50 Meter Höhe befinden. Daher werden normalerweise die Bewegungen auf dem Boden, vor allem in der Nacht und bei starkem Nebel, durch eine sogenannte Bodenradaranlage kontrolliert.
Doch ausgerechnet auf dem wegen häufigen Nebels bekannten Flughafens Linate gab es keine funktionierende Anlage dieser Art. Besonders im Herbst gelten Linate und Malpensa als besonders anfällig für zahlreiche Ausfälle aufgrund starken Nebels. In den letzten Jahren wurden mehrere Beinahe-Zusammenstöße auf der einzigen Startbahn in Linate bekannt. Michele Bufo vom Verband der Flugsicherheitskontrolleure Licta erklärte dazu: "Bei starkem Nebel ohne Bodenradar... geht so gut wie gar nichts mehr." Italienische Medien enthüllten, dass eine Bodenradaranlage zur Kontrolle der Starts und Landungen in Linate bereits 1994 genehmigt worden sei. Allerdings wurde die neueste Version des Asmi-Bodenradars erst im letzten Frühjahr installiert. Doch das Radarsystem war wegen eines fehlenden Verbindungssteckers und Softwareproblemen nicht funktionstüchtig und wurde abgeschaltet.
Eine Mailänder Zeitung fasste diesen Skandal in die Worte: "Die Sicherheit wurde Jahre lang dem Zufall überlassen." Experten waren sich am Dienstag einig, dass eine ordnungsgemäße Bodenradaranlage die Katastrophe verhindert hätte.
Aber auch auf anderen italienischen und internationalen Großflughäfen sieht es nicht viel besser aus. Obwohl die Überwachung des Rollfeldes heute Stand der Technik ist, gibt es nach Informationen der Zeitung IL Messaggero nur auf dem römischen Flughafen Leonardo da Vinci eine funktionierende Bodenradaranlage. Geplant, so die Betreiber nach dem Unglück, seien Anlagen der neueren Asmi-Generation in Rom, Bologna, Venedig und den beiden Mailänder Flughäfen Linate und Malpensa. Viele der teilweise schon vor zwanzig Jahren eingebauten Anlagen sind veraltet oder schon seit Jahren abgeschaltet. Auf vielen europäischen Flughäfen gibt es aus Kostengründen überhaupt keine solche Anlage. In der Zeitung der italienischen Transportarbeitergewerkschaft war vor einem Monat ein Artikel über die Mängel der Anlage in Linate erschienen. Doch nichts geschah, auch nicht seitens der Gewerkschaften.
Die Mailänder Zeitung Corriere della Sera schreibt, dass es unter den etwa 30 größten italienischen Flughäfen keinen einzigen ohne Sicherheitsmängel gebe. Aus Gründen der Wirtschaftlichkeit seien Sicherheitsaspekte hintangestellt worden. Oftmals seien Lichter, die den Beginn der Landebahn anzeigen, ausgeschaltet oder nach Defekt nicht gewartet worden. Häufig mangele es an optischen Signalen bei der Hilfe zur Landung. Ein Staatsanwalt erklärte im italienischen Fernsehen, dass in den vergangenen Monaten weit weniger technisches Personal als vorgeschrieben anwesend gewesen sei.
Eine weitere Ursache der Kollision ist die Tatsache, das sich große Passagierflugzeuge die einzige Startbahn des Flughafens mit kleinen Privatjets teilen müssen. Die aus Köln kommende Cessna-Maschine befand sich auf einem Demonstrationsflug nach Paris. An Bord war ein Topmanager der Mediobanco, der eine Cessna kaufen wollte. Bei der Unglücks-Cessna handelte es sich den Geschäftreisetyp "Citationjet". Es wird laut Staatsanwaltschaft auch Gegenstand der Ermittlungen sein, warum gerade Montags früh um 8.00 Uhr zu den Hauptflugzeiten diese Art von Flügen erlaubt ist.
Der Vorsitzende der italienischen Pilotenvereinigung ANPAC, Menico Snider, sagte, dass es in der Vergangenheit schon mehrere Vorfälle gegeben habe, weil kleinere Flugzeuge die Startbahn kreuzen dürften. ANPAC fordert schon seit Jahren den Bau einer Parallelpiste für kleine Flugzeuge. Ernst genommen wurden diese Forderungen nicht. Im Gegenteil: Es ist bekannt, dass Flughafenbeschäftigte, die auf Sicherheitsmängel hinweisen, unter Druck gesetzt werden. Als es im August auf Mailands größerem und modernerem Flughafen Malpensa durch den Ausfall eines Bodenradars fast zu einem ähnlichen Unglück gekommen war und ein Fluglotse diesen Missstand anprangerte, wurde ihm mit Versetzung gedroht.
Eine Untersuchung der Flugsicherungsbehörde in Linate ergab zudem, dass die Beschilderung an den Verbindungspisten zwischen Start- und Landebahnen nicht internationalen Standards entsprach. Ein Behördensprecher verglich die Signale mit "blauen statt roten Straßenverkehrsampeln". Außerdem würden Schilder und Bodenmarkierungen fehlen. Warnungen gab es auch hierzu schon vor dem Unglück. Kapitän Fabrizio Gessini von der International Civil Aviation Organisation (ICAO) sagte, dass "seit zehn Jahren auf Flughäfen nicht mehr in die Sicherheit investiert wurde, sondern das Geld floss nur noch in die Infrastruktur". Ständig hätten Piloten darauf gedrängt, endlich ein Signalsystem auf Linate anzuschaffen, das zumindest dem Standard desjenigen entsprechen würde, das auf dem Londoner Flughafen schon vor zwanzig Jahren installiert wurde.
Auf dem größten Flughafen Mailands Malpensa stehen laut Presseberichten Massenentlassungen bevor. Auch die zu 53 Prozent staatliche Fluggesellschaft Alitalia, die am Unglücksmorgen ein Sanierungsprogramm vorgelegt hatte, möchte über 10 Prozent der 23.000 Arbeitsplätze abbauen. Wie andere Fluggesellschaften weltweit steckte Alitalia schon vor den Terroranschlägen in den USA in einer ernsthaften Krise. Alitalia begann vor drei Jahren, die meisten seiner Flüge von Linate nach Malpensa zu verlegen, um ein europäisches Zentrum seines nationalen Betreibers zu schaffen. So wurde Linate immer weniger Aufmerksamkeit zuteil. Das Unglück wird in Wirtschaftskreisen als Rückschlag für die Stadt Mailand gewertet, da Mailand beide Betreibergesellschaften zum Verkauf angeboten hatte.
All diese Details zeugen von einem hohen Maß an krimineller Energie auf Seiten der Flughafenbetreibergesellschaften, der Regierungen und Gewerkschaften. In der gegenwärtigen, durch die Angst vor Terroranschlägen gekennzeichneten Zeit, in der alle Welt von Sicherheit redet und uniformierte Ordnungshüter und paramilitärische Trupps das Bild auf den internationalen Flughäfen prägen, werden die elementarsten Sicherheitsvorkehrungen aus Kostengründen vernachlässigt.
Wie eine grausame Ironie erscheint die Geschichte des Paares Viviana und Simone Durante, die die britische Zeitung The Independent berichtet. Sie hatten zwei Tage vor dem Unglück geheiratet und aus Angst vor Terroranschlägen ihre Flitterwochen in Ägypten zugunsten einer Reise ins sichere Kopenhagen abgesagt. Sie verbrannten in den Trümmern.