Der erste Armuts- und Reichtumsbericht der rot-grünen Bundesregierung, der Ende April vorgestellt wurde, weist ein kontinuierliches Wachstum der sozialen Ungleichheit in Deutschland nach. Armut auf der einen steht ein "exorbitanter Reichtum" auf der anderen Seite der Gesellschaft gegenüber, wie dies einer der Mitautoren, Ernst-Ulrich Huster, beschreibt. Am 16. Mai hat das wsws die zentralen sozialen Entwicklungen und Zahlen aus diesem Bericht zusammengestellt und gewertet (http://www.wsws.org/de/2001/mai2001/arm-m16.shtml). Der folgende Artikel beschäftigt sich ausführlicher mit der Verbreitung der Armut unter Familien mit Kindern und deren Auswirkung.
Im Artikel vom 16. Mai schrieben wir: "Noch vor 15 bis 20 Jahren galt Armut als Problem von älteren Personen, die in ihrem Lebensabend in Armut gerieten. Heute ist Armut jung." Das hat sich auch unter der rot-grünen Bundesregierung nicht gebessert, sondern eher noch verschlechtert. Darauf hat am vergangenen Dienstag erneut die Nationale Armutskonferenz (NAK), in der zahlreiche Sozialorganisationen zusammengeschlossen sind, in einer Pressekonferenz hingewiesen.
Im Folgenden wird über die Armut von Familien mit drei oder mehr Kindern, von jungen und von ausländischen Familien, von alleinerziehenden Müttern sowie von Familien mit arbeitslosem Haushaltsvorstand die Rede sein.
Die Bundesregierung von SPD und Grünen kommentierte die im Armutsbericht vorgelegten Zahlen mit der Behauptung, Armut in Deutschland sei ein "Randphänomen", begrenzt auf "Problemgruppen" meist in "sozialen Brennpunkten". Einmal abgesehen von der Frage, warum beispielsweise alleinerziehende Mütter oder junge Familien "Problemgruppen" darstellen sollen, ist dies auch faktisch eine Fehlinterpretation des Berichts, der zu einem ganz anderen Schluss gelangt: "Wie Untersuchungen zu Ursachen für Armutslagen zeigen, konzentrieren sich Verarmungsprozesse heute nicht mehr auf wenige soziale Schichten. Sie sind keineswegs nur auf gesellschaftliche Randgruppen begrenzt, sondern können auch mittlere Schichten erfassen."
Der jüngste Kinder- und Jugendbericht des Frankfurter Instituts für Sozialarbeit und Sozialpädagogik im Auftrag der Arbeiterwohlfahrt nimmt zu diesen Argumenten ebenfalls eindeutig Stellung: "Arme Kinder und Jugendliche gibt es in allen Regionen, auch ländlichen Gebieten... Arme Kinder und Jugendliche leben überwiegend in,vollständigen‘ Familien [mit beiden Elternteilen]... auch viele Kinder und Jugendliche aus Kleinfamilien fallen unter die Armutsgrenze... Auch in armen Familien sind die Väter mehrheitlich berufstätig."
Kinder von Alleinerziehenden, arbeitslosen, ausländischen und/oder jungen Eltern, in kinderreichen Familien und in "sozialen Brennpunkten" sind allerdings relativ gesehen deutlich häufiger von Armut betroffen. Das heißt aber nicht, dass sie die einzigen Armen sind. Armut in Deutschland ist weit verbreitet.
1998 gab es in Deutschland rund 13 Mio. Haushalte mit Kindern, in denen insgesamt 46 Mio. Menschen lebten, davon waren 15,7 Mio. Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren. Damit sind 56 Prozent der Bevölkerung zusammenlebende Familienangehörige, größtenteils Eltern und Kinder.
Mehr als drei Viertel (78 Prozent) der Familien-Haushalte des Jahres 1998 waren verheiratete Paare mit ihren Kindern, fast ein Fünftel (rund 18 Prozent) waren allein Erziehende und bei 4 Prozent handelt es sich um nichteheliche Lebensgemeinschaften mit Kindern.
Etwa jedes siebte Kind bzw. jeder siebte Jugendliche (insgesamt 2,24 Mio.) lebte 1998 in einer Familie, die mit weniger als der Hälfte des durchschnittlichen Einkommens auskommen muss und damit als (einkommens-)arm bezeichnet wird.
Rund die Hälfte dieser jungen Armen lebte in Sozialhilfehaushalten. Ende 1998 waren in Deutschland 2,88 Mio. Personen in 1,5 Mio. Haushalten auf Sozialhilfe angewiesen. "Unter den Sozialhilfebeziehern waren Kinder unter 18 Jahren mit rund 1,1 Mio. die mit Abstand größte Gruppe", berichtet die Regierungsstudie. Hinzu kommt demnach eine etwa gleich große Gruppe, die mit ihrer Familie unterhalb der Sozialhilfegrenze lebt, aber aus verschiedenen Gründen keinen Sozialhilfeanspruch besitzt oder ihn nicht wahrnimmt.
Unter den Sozialhilfeempfängern sind allein erziehende Frauen bei weitem am stärksten vertreten. Fast jede dritte Alleinerziehende (32,1 Prozent) in Westdeutschland bezieht Sozialhilfe, das sind fast 90.000 Frauen. Im Osten sind 17 Prozent aller Alleinerziehenden von der Sozialhilfe abhängig. Mehr als die Hälfte der Kinder unter 18 Jahren im Sozialhilfebezug (also mehr als eine halbe Million) wächst im Haushalt von allein Erziehenden auf - ein untrügliches Zeichen, dass Beruf und Kindererziehung in Deutschland nach wie vor nur schwer zu vereinbaren sind.
Dies bestätigen auch Zahlen über die Erwerbstätigkeit von Müttern. Zwar ist der Anteil der erwerbstätigen Mütter in den alten Ländern zwischen 1972 und 1996 von 40 Prozent auf 51 Prozent gestiegen, nicht zuletzt wegen der wachsenden Armut. Doch "diese Erhöhung erstreckt sich nahezu ausschließlich auf die Zunahme von Teilzeittätigkeiten und betrifft hauptsächlich Frauen, deren Kinder bereits das Schulalter erreicht haben." Die Berufstätigkeitsquote der Mütter mit Kindern unter 6 Jahren hat sich kaum erhöht und die Quote von in Vollzeit tätigen Frauen war 1972 sogar noch höher als 1996.
In den neuen Ländern ist der zu DDR-Zeiten sehr hohe Anteil berufstätiger Mütter nach der Wiedervereinigung erheblich gesunken. Waren 1991 noch 83 Prozent der Frauen mit Kindern unter 18 Jahren erwerbstätig, betrug dieser Anteil 1998 nur noch 71 Prozent. Besonders ausgeprägt war der Rückgang der Erwerbsbeteiligung bei den Müttern mit Kindern unter 6 Jahren.
Bei ausländischen Familien ist diese Situation noch weit ausgeprägter. Insbesondere in türkischen Familien waren Ehefrauen im geringeren Ausmaß berufstätig. Ausländische Frauen sind hauptsächlich im Dienstleistungsbereich, im verarbeitenden Gewerbe und im Handel beschäftigt. Sie haben hauptsächlich Zugang zu Tätigkeiten mit niedrigem Status, geringer Bezahlung, geringen Aufstiegschancen und mit hohem Arbeitsplatzrisiko.
Dass dies nicht nur für ausländische Mütter, sondern auch für einen Großteil der Alleinerziehenden gilt, zeigt eine Analyse der Niedrigeinkommen. Diese bestätigt, dass der weit überwiegende Teil der allein Erziehenden ein Einkommen hatte, für das keine oder nur geringe Steuern gezahlt wurden. Diese Zahl liegt z. B. bei Alleinerziehenden mit mindestens zwei Kindern bei 67 Prozent in Westdeutschland (Ost: 68,5 Prozent). Im Vergleich der Jahre 1993 und 1998 wird deutlich, dass sich ihre Einkommensverhältnisse auch relativ verschlechterten.
"Bei Ehepaaren wie allein Erziehenden stieg das Risiko von Armut betroffen zu sein mit der Kinderzahl überproportional an", stellen die Forscher fest. Ehepaare mit drei und mehr Kindern waren z. B. zu 39,4 Prozent von Steuern befreit, d. h. erhielten angesichts der Größe ihrer Familie ein Niedrigeinkommen. Bei Ehepaaren mit zwei Kindern lag diese Quote bei "nur" 21,6 Prozent.
Der schlagendste Beweis für die Unvereinbarkeit von Beruf und Kindererziehung ist die spärliche Infrastruktur im Bereich Kinderbetreuung. Eine Kindertageseinrichtung besuchten im Jahr 1998 von den Kindern unter drei Jahren in den westdeutschen Ländern nur 2,8 Prozent und in den ostdeutschen Ländern 36,3 Prozent.
Für die Kinder über drei Jahren, die noch nicht zur Schule gehen, besteht zwar seit dem 1. Januar 1999 ein uneingeschränkter Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz, doch nur auf dem Papier. "Trotzdem gibt es insbesondere in den alten Ländern große Lücken bei einem bedarfsgerechten Angebot für Kinder im Vorschulalter mit erweiterten und flexiblen Öffnungszeiten und mit ausreichender Mittagsversorgung," bestätigen die Forscher und ergänzen: "Bei den schulpflichtigen Kindern macht sich das Fehlen von Ganztagsschulen und die mangelnde Flexibilität der Regelschule negativ bemerkbar."
Der internationale Vergleich zeige, dass "es bei der Tagesbetreuung für Kinder in der Bundesrepublik ganz erhebliche Angebotsdefizite" gibt. "So betrug bereits in der ersten Hälfte der 90er Jahre die Versorgungsquote für Kinder unter drei Jahren in Dänemark 48 Prozent, in Schweden 33 Prozent und in Portugal 12 Prozent."
Dies sind die Voraussetzungen, die vor allem das Risiko allein erziehender Mütter erhöhen, mit ihren Kindern zu verarmen. "Aber auch für Elternpaare birgt diese Situation ein Armutsrisiko, da mangelnde Kinderbetreuungsmöglichkeiten dazu führen, dass nur ein Elternteil, zumeist der Vater, erwerbstätig sein kann." Und die Zeiten, in denen ein Einkommen eine gesamte Familie ernähren kann, sind vorbei. Unnötig zu erwähnen, dass das Risiko in Armut abzurutschen für Kinder in einem Arbeitslosenhaushalt mit am größten ist. Jedes sechste Kind in armen Familien wuchs in einem Haushalt mit arbeitsloser Bezugsperson auf.
Das Problem, Kinder und Beruf zu vereinbaren ist allerdings "in den neuen Ländern anders gelagert". Hier ist das Angebot an Kinderbetreuungsplätzen in den verschiedenen Altersphasen der Kinder nach wie vor "weitgehend bedarfsdeckend", ein Überbleibsel der DDR. "Eine soziale Infrastruktur zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist vorhanden. Probleme treten in den neuen Ländern vor allem durch den Mangel an Arbeitsplätzen, und zwar an Teilzeit- und Vollzeitarbeitsplätzen für Frauen auf."
Mangelhafte Kinderbetreuungsmöglichkeiten, Niedriglöhne und Arbeitslosigkeit führen also zu Armut vor allem bei Kindern und Jugendlichen. Diese Armut wiederum führt "zu schlimmen Mangellagen bei Kindern": "Kinder erleben in dieser Lebenslage nicht nur ihre Unterversorgung, sondern auch die Ohnmacht der Eltern, die Probleme zu meistern, was auch die Kinder entmutigt und in ihrer Entwicklung schwächt. Es besteht die Gefahr, dass die Beschädigung des Selbstwertgefühls und der eigenen Identität dauerhaft wirkt."
Die Kinder und Jugendlichen befinden sich somit in einem Teufelskreis der Armut. Finanzielle Armut oder "Einkommensarmut" bedeutet nämlich gleichzeitig schlechte Bildungsvoraussetzungen, mangelnde Gesundheitsvorsorge und -pflege, verödende soziale Kontakte und Gewalt. "Insbesondere für Frauen und ihre Kinder ist Gewalt im sozialen Nahbereich" ein Armutsrisiko, heißt es im Bericht. "Schätzungen zufolge kommt es in jeder dritten Partnerschaft zu Gewalt." Indiz dafür sind die über 400 Frauenhäuser in Deutschland, die jährlich von etwa 45.000 Frauen mit ihren Kindern aufgesucht werden.
"Kinder erleben, dass die Einschränkung in Konsum und die Ausgrenzung von (Bildungs-) Angeboten daraus resultiert, dass den Eltern die Möglichkeiten fehlen, ihre Wünsche und Interessen zu unterstützen. Armut bedeutet dann für die Persönlichkeitsentwicklung von Kindern und Jugendlichen Einschränkung und Ausgrenzung als fundamentale Erfahrung des Aufwachsens. Die möglichen Konsequenzen für die Kinder sind geringes Selbstwertgefühl, Depressivität, Einsamkeit, Misstrauen, Nervosität, Konzentrationsschwäche und Resignation in Bezug auf berufliche Chancen."
Weiterhin kommt es aufgrund der hohen Mieten vor allem in Ballungsgebieten zu einer anhaltenden Verdrängung armer Familien in schlechtere Wohnverhältnisse. Charakteristisch für diese Wohngebiete sind ein kinderfeindliches und ungesundes Wohnumfeld mit einer schlechteren Infrastrukturausstattung, insbesondere mangelhaften oder fehlenden Bildungs-, Ausbildungs-, Arbeits-, Förder- und Unterstützungsmöglichkeiten. "Es entsteht Aggressivität, häufig verbunden mit zerstörerischer Gewalt an öffentlichen Einrichtungen. Armut und Ausgrenzung gefährden hier die Chancen von Kindern bei der Ausbildung ihrer Fähigkeiten und ihrer persönlichen Autonomie. Sie gefährdet das Niveau ihrer Schulbildung und ihrer beruflichen Ausbildung. Die Beeinträchtigung der Entwicklung im Kindesalter kann bewirken, dass sich Kinder später keinen befriedigenden Platz im beruflichen, sozialen und privaten Leben sichern können, weil ihnen wichtige Voraussetzungen fehlen. Sie sind im Hinblick auf ihre Bildungs- und Berufschancen und damit ihre gesellschaftliche und berufliche Integration benachteiligt."
Der Regierungsbericht selbst legt daher einen weiter gefassten Begriff der Armut zugrunde als nur den ökonomischen. "Kinder werden vor allem dann als arm bezeichnet, wenn folgende Kriterien zutreffen:
- wenn die für ein einfaches tägliches Leben erforderlichen Mittel unterschritten werden,
- wenn es an unterstützenden Netzwerken für ihre soziale Integration mangelt,
- wenn sie von den für die Entwicklung von Sozialkompetenz wichtigen Sozialbeziehungen abgeschnitten bleiben,
- wenn Bildungsmöglichkeiten für ihre intellektuelle und kulturelle Entwicklung fehlen,
- wenn sie in ihrem Umfeld gesundheitlichen Beeinträchtigungen ausgesetzt sind,
- wenn Kinder in Familien vernachlässigt werden,
- wenn Kinder in Familien Gewalt ausgesetzt sind."
Tatsächlich korrespondiert die finanzielle Armut, in wissenschaftlichen Untersuchungen "Einkommensarmut" genannt, in der Regel mit weiteren Armutsäußerungen: kultureller und sozialer Armut bzw. Benachteiligungen sowie gesundheitlichen Beeinträchtigungen. Dies wird dann von konservativen Politikern benutzt, um ihr Vorurteil von der eigenen Schuld der Armen nachzuweisen: Arm seien die Menschen, die ungebildet und/oder faul seien. Dieses Vorurteil ist so falsch wie der Umkehrschluss: Reich seien die Menschen, weil sie gebildet und/oder fleißig seien.
Vielmehr stehen die einzelnen Armutsäußerungen - geringe Haushaltseinkommen, mangelhafte Bildung und Ausbildung, schlechte Ernährung, usw. - in einer wechselseitigen Beziehung. Sie bauen aufeinander auf, verstärken und bedingen sich gegenseitig. Wie der Regierungsbericht selbst zeigt, bewegen sich die Armen in einem Teufelskreis, aus dem sie sich schwer befreien können. Wenn junge Menschen und Familien am meisten von Armut betroffen sind, wie dies der Regierungsbericht bezeugt ("Vor allem junge Familien mit kleinen Kindern tragen ein erhöhtes Armutsrisiko, weil hier verschiedene auslösende Faktoren für Armut kumulieren können."), ist dies ein Armutszeugnis für die bestehende Gesellschaft.
Eine Gesellschaft aber, die insbesondere ihre Kinder und Jugendlichen in einen Kreislauf von Armut, Ausgrenzung, Verrohung und Gewalt drängt, hat keine Zukunft.