Die Bewegung von Globalisierungsgegnern, die ihren jüngsten Höhepunkt in der Demonstration gegen den G-8-Gipfel in Genua fand, wird von vielen Kommentatoren als Vorbote einer breiteren sozialen Bewegung betrachtet.
So fragt Der Spiegel(Nr. 31 vom 30. Juli 01): "Entsteht gar eine neue, anti-kapitalistische Massenbewegung, diesmal wirklich weltweit?" Einer solchen Bewegung, fährt das Nachrichtenmagazin fort, fehle zwar bisher die Orientierung: "Dem Furor fehlt das Futter, der revolutionäre Optimismus, der historische Fundus." Doch angesichts des bestehenden politischen Vakuums werde das Bedürfnis nach einer neuen Perspektive aufkommen: "Im Vakuum der entideologisierten, vollends säkularisierten Wirklichkeit, in der allein die Ökonomie zu zählen scheint, wachsen neue alte Bedürfnisse nach Sinn, radikaler Kritik und Gruppenzugehörigkeit."
Inzwischen haben sich alle möglichen bekannten und weniger bekannten Kandidaten zu Wort gemeldet, um dieses Vakuum zu füllen.
Einer der ersten war der französische Premierminister Lionel Jospin. Frankreich sehe mit Begeisterung das Entstehen einer weltweiten Bürgerbewegung, die für eine gerechtere Verteilung des Nutzens der Globalisierung eintrete, erklärte er unmittelbar nach Genua vor einer Konferenz für Entwicklungshilfe und Zusammenarbeit, und bot sich der Bewegung als Galionsfigur an: "Wir wollen ein dauerhaftes Regelsystem einführen, das den Planeten zum Allgemeingut macht, der zum gleichen Vorteil aller genutzt wird; wir wollen eine internationale Gemeinschaft schaffen, die die Umwelt ebenso respektiert wie die verschiedenen Kulturen und Zivilisationen," versprach Jospin.
Bereits vor dem Genua-Gipfel hatten sich hochrangige Mitarbeiter Jospins mit Vertretern der Vereinigung Attac getroffen, die maßgeblich an der Vorbereitung der Demonstrationen in Genua beteiligt war. Attac ist in Frankreich gegründet worden, existiert inzwischen in über 25 Ländern und zählt nach eigenen Angaben 50.000 Mitglieder. Ähnlich wie Jospin selbst redet Attac einer sozialen, demokratischen und ökologischen Reform des Globalisierungsprozesses das Wort.
Jospins Versuch, mit Attac zusammenzuarbeiten, dürfte allerdings eher dazu beitragen, diese Vereinigung zu diskreditieren, als ihr einen neuen politischen Impuls zu verleihen. Die Bilanz seiner vierjährigen Regierungszeit hat deutlich vor Augen geführt, dass sich Ungleichheit, Armut, Umweltzerstörung und andere gesellschaftliche Missstände, gegen die sich die Bewegung richtet, nicht durch einige kosmetische Reformen überwinden lassen. Jospins Politik unterscheidet sich zwar in ihrer äußerlichen Darstellung, nicht aber in ihrer inhaltlichen Substanz von der Politik der anderen G-8-Staaten. In Frankreich selbst verliert er zusehends an Unterstützung und seine Regierungskoalition leidet an Zerfallserscheinungen, weil sie nicht in der Lage war, die in sie gesetzten Hoffnungen zu erfüllen.
In Deutschland hat sich indessen ein weiterer prominenter Sozialdemokrat zu den Zielen bekannt, die von den Organisatoren der Anti-Globalisierungsproteste vertreten werden. Der frühere SPD-Vorsitzende Oskar Lafontaine erklärte in einem Interview mit der Frankfurter Rundschau(7. August 2001): "Ich unterstütze Attac selbstverständlich, weil ich die Ziele von Attac für richtig halte." Lafontaine nannte vier Punkte, in denen er mit Attac übereinstimmt: "Die Besteuerung von spekulativem Kapitalverkehr, die Austrocknung von Steueroasen, die Bekämpfung von Steuerflucht, mehr Gerechtigkeit in der Einkommensverteilung."
An den in Genua versammelten Regierungschefs (Frankreich war durch den gaullistischen Präsidenten Jacques Chirac vertreten) übte Lafontaine harsche Kritik: "Unter den sieben Staats- und Regierungschefs der reichsten Länder der Welt ist niemand, der sich ernsthaft mit den sozialen Verwerfungen, die das weltweite Spielcasino anrichtet, beschäftigt. Zwar wird das Thema auf dem ein oder anderen Treffen abgehandelt. Aber die Konsequenzen sind null."
Lafontaines Kritik an den Folgen der Globalisierung ist nicht neu. Bereits 1998 hatte er zusammen mit seiner Frau das Buch "Keine Angst vor der Globalisierung - Wohlstand und Arbeit für alle" veröffentlicht, in dem er für eine stärkere Kontrolle der internationalen Finanzmärkte und eine nachfrageorientierte Politik nach keynesianischem Vorbild eintrat. Das hinderte ihn damals allerdings nicht daran, bei der Wahl des SPD-Kanzlerkandidaten dem Favoriten der Wirtschaft, Gerhard Schröder, den Vortritt zu lassen und als SPD-Vorsitzender dessen Wahlkampf zu organisieren.
Lafontaines Kritik am globalen Kapitalismus diente so dazu, die wachsende Unzufriedenheit mit der Regierung Kohl ins Fahrwasser der SPD zu lenken und mit Gerhard Schröder einem Mann an die Macht zu verhelfen, von dem sich die Wirtschaft nicht zu Unrecht eine wesentlich energischere Durchsetzung ihrer Forderungen versprach als von der paralysierten Kohl-Regierung.
Von Schröder zum Finanzminister ernannt, zog Lafontaine trotzdem den geballten Zorn nationaler und internationaler Wirtschaftskreise auf sich. Als er vorschlug, Zielzonen für die Wechselkurse der wichtigsten Währungen einzurichten, und einen zaghaften Vorstoß zur Beschneidung einiger Steuerprivilegien der Energiekonzerne unternahm, setzte ein regelrechtes Kesseltreiben gegen ihn ein. Als sich Schröder der Kritik an Lafontaine anschloss, legte dieser im März 1999 seine Ämter als SPD-Vorsitzender und Finanzminister kommentarlos nieder.
Lafontaines kampflose Kapitulation machte zweierlei deutlich: Es ist nicht länger möglich, soziale Reformen im Stile der sechziger und siebziger Jahre mit der Vorherrschaft des Weltmarkts über die nationale Wirtschaft versöhnen, ohne die Grundlagen der kapitalistischen Gesellschaft anzutasten. Eben dazu ist Lafontaine aber nicht bereit. Zweitens folgte Lafontaines Kapitulation aus seiner Angst davor, gesellschaftliche Kräfte auf den Plan zu rufen, deren Mobilisierung die bestehende Gesellschaftsordnung hätte in Frage stellen können. Denn hätte er der Wirtschaftslobby die Stirn geboten, hätte er ohne Zweifel breite Unterstützung bekommen und die Regierung Schröder in eine Krise gestürzt. Gerade das wollte er unter allen Umständen vermeiden.
Seit seinem Rücktritt ist Lafontaine gelegentlich in Talkshows und als Kolumnist für die Bild -Zeitung aufgetreten. Parallel zu dem Anwachsen der Protestbewegung wurde seine Kritik am Kurs der Regierung Schröder immer ausgeprägter. Hatte er anfangs einen Bruch mit der SPD noch kategorisch ausgeschlossen, brachte er in jüngster Zeit die Gründung einer "großen linken Volkspartei" unter Einbeziehung der PDS zur Sprache. So im März dieses Jahres auf der Leipziger Buchmesse, als er der Öffentlichkeit das neue Buch des PDS-Politikers Gregor Gysi, "Ein Blick zurück, ein Schritt nach vorn", vorstellte. Schon als SPD-Vorsitzender habe er langfristig einen Zusammenschluss von SPD und PDS angestrebt, behauptete er bei diesem Anlass.
In der PDS selbst hat allerdings die Neigung zu einem Zusammengehen mit Lafontaine merklich nachgelassen, seit die SED-Nachfolgerin von der SPD in den neuen Bundesländern als Koalitionspartnerin akzeptiert und auch von Kanzler Schröder regelmäßig zu Gesprächen eingeladen wird. Lafontaine steht so weitgehend isoliert da. Sein Bemühen, aufs Trittbrett der Antiglobalisierungsbewegung aufzuspringen, ist ein Versuch, wieder ins politische Geschäft zu kommen.
Anders als Schröder und der britische Premier Blair gehört Lafontaine zu der Sorte sozialdemokratischer Politiker, die sehr empfindlich auf Bewegungen von unten reagieren. Das verbindet ihn mit Lionel Jospin. Lafontaine und Jospin - das beweist ihre gesamte politische Karriere - sind der Verteidigung der bürgerlichen Gesellschaftsordnung nicht weniger verpflichtet als Schröder und Blair. Aber im Unterschied zu letzteren sehen sie in der Bewegung gegen die Globalisierung nicht einfach nur den Protest einer isolierten Minderheit, sondern den Vorboten einer Bewegung, die weit tiefere gesellschaftliche Wurzeln hat und sich gegen die Grundlagen der kapitalistischen Gesellschaft zu wenden droht. Daher ihr Bemühen, der Bewegung entgegenzukommen und politische Mechanismen zu entwickeln, mit denen sie unter Kontrolle gehalten und in eine Sackgasse geführt werden kann.
Lafontaine besteht in dem Rundschau -Interview darauf, dass eine Lösung nur von oben kommen kann. Auf die Frage: "Und was müsste sich ändern?", antwortet er: "Die Einstellung wichtiger Politiker. Solange die Finanzminister der G-7-Staaten ehrfürchtig und unterwürfig sagen, wenn wir dies oder das tun, dann bestrafen uns die Märkte, wird die Globalisierung die negative Seite der Münze zeigen, die wir kennen: höhere Arbeitslosigkeit in den Industriestaaten und soziale Verwerfungen in den schwächeren Staaten der Welt."
"Das Wichtigste ist es," sagt er an einer anderen Stelle, "die internationalen Finanzmärkte zu regulieren. Der soziale Schaden, den das Spekulationschaos anrichtet, ist unermesslich. Das in Zukunft zu verhindern ist die Hauptaufgabe der Weltpolitik." Dabei stellt er nie die Frage, warum in den siebziger Jahren die Regulationsmechanismen der Nachkriegszeit gescheitert sind. Er betrachtet die seitherige Entwicklung rein subjektiv als Ergebnis einer verfehlten Politik, und nicht als Ausdruck objektiver Gesetzmäßigkeiten der kapitalistischen Produktionsweise selbst.
Auffallend ist auch sein Bemühen, die Globalisierung als ein vorwiegend angelsächsisches Phänomen darzustellen, dem sich Frankreich erfolgreich wiedersetze. Er führt die Wall Street und die Londoner City als Inbegriff der "chaotischen Finanzmärkte" an, während er die Frankfurter oder die Pariser Börse mit keinem Wort erwähnt. "In Deutschland wird oft vergessen," sagt er, "dass Attac in anderen Ländern, in Frankreich beispielsweise, eine beachtliche Bewegung ist. Dort gibt es einen breiten Widerstand gegen die Weltwirtschaftspolitik, wie sie die Amerikaner und die Engländer vorantreiben."
Implizit wird hier gefordert, Deutschland müsse sich mit Frankreich gegen "die Amerikaner und die Engländer" zusammenschließen. Unter Bedingungen, wo sich die Gegensätze zwischen den USA und Deutschland als führender Wirtschaftsmacht Europas ständig verschärfen, formuliert Lafontaine damit unter einem linken Deckmantel die langfristigen Bedürfnisse der deutschen Wirtschaftselite: der Zusammenschluss Europas - und hier insbesondere Deutschlands und Frankreichs - als Bollwerk gegen die USA. Der Protest gegen die sozialen Auswirkungen des globalen Kapitalismus wird so in chauvinistische Kanäle gelenkt.