Am Montag, den 17. Juli 2000, war es soweit. Das seit 1990 aufgebrochene und insbesondere seit 1998 in aller Öffentlichkeit ausgetragene Kräftezerren um die Zwangsarbeiterentschädigungen ist juristisch abgeschlossen. Otto Graf Lambsdorff und Stuart Eizenstat, die Chef-Unterhändler der deutschen und der US-amerikanischen Regierung, Manfred Gentz, der Unterhändler der deutschen Wirtschaft, sowie Vertreter aus Israel, Polen, der Ukraine, Tschechien, Belarus und die an den Verhandlungen beteiligten Anwälte unterzeichneten das Abkommen über die Entschädigung der ehemaligen NS-Zwangsarbeiter.
Grundlage dieses Abkommens ist das am 6. Juli 2000 vom Bundestag verabschiedete Gesetz zur Errichtung einer Stiftung "Erinnerung, Verantwortung und Zukunft", die mit insgesamt 10 Milliarden DM ausgestattet werden soll. Darüber hinaus wurde ein deutsch-amerikanisches Regierungsabkommen besiegelt, welches das "lang andauernde, hohe Interesse der Vereinigten Staaten" festschreibt, "alle Anstrengungen zu unterstützen, die Fälle aus dem Zweiten Weltkrieg abzuschließen".
Mit diesem "Statement of Interest" der amerikanischen Regierung haben die deutschen Unternehmen die weitgehendste Absicherung vor künftigen Klagen erreicht, die juristisch möglich war. Kernpunkt ist die Empfehlung an amerikanische Gerichte, künftige Kläger abzuweisen. Ausschließliche Anlaufstelle für Entschädigungsforderungen soll der deutsche Fonds sein. "Es sind alle Elemente drin, die wir wollten", hieß es dazu von Seiten der Stiftungsinitiative der deutschen Wirtschaft.
Bis zur letzten Sekunde treibt diese ihren Poker voran. Nach wie vor feilscht sie um die einzuzahlenden Gelder. Gegenwärtig versucht sie, ihren Pflichtanteil in Höhe von rd. 2,5 Milliarden DM (die nach Abzug der Steuerbegünstigung real verbleiben) durch Hinzuziehung der ehemals staatlichen Firmen wie der Deutschen Bahn und Post zu senken.
Nach Angaben des Jüdischen Weltkongresses will die US-Regierung mit der Einzahlung von 10 Millionen Dollar (20 Millionen DM) in den Stiftungsfonds die deutschen Unternehmen "ermutigen", sich an dem Fonds zu beteiligen. Das Geld sei ein Teil der von den USA zugesagten 25 Millionen Dollar, die ursprünglich einem amerikanischen Fonds für Nazi-Verfolgte zufließen sollten. Dieser Fonds speiste sich aus dem Gold, welches die Nazis europäischen Staatsbanken und Holocaust-Opfern geraubt hatten. Die USA und Großbritannien hatten es zum Kriegsende beschlagnahmt.
Nun, da die Rechtssicherheit vor künftigen Klagen gegeben ist, werden wohl die noch fehlenden 1,8 Milliarden DM von Seiten der deutschen Unternehmen kleckerweise eintrudeln. Doch der Auszahlungsbeginn an die Opfer ist dann immer noch nicht garantiert. Erst wenn sämtliche anhängigen Sammelklagen vor US-Gerichten (laut Eizenstat 60 an der Zahl) zurückgezogen werden, können die NS-Opfer auf den Entschädigungsbeginn hoffen.
Nach Unterschriftsleistung begeisterte sich US-Unterhändler Eizenstat für den ausgehandelten Deal. Noch nie zuvor habe ein Land solche Anstrengungen unternommen, seiner historischen Verantwortung gerecht zu werden. Euphorisch würdigte er den Anteil aller Beteiligten, insbesondere Otto Graf Lambsdorffs, als "großen deutschen Patrioten", und Gerhard Schröders: "Wenn dieser Kanzler nicht im Amt wäre, hätten wir diese Vereinbarung nicht erzielt."
Das nun unterzeichnete, laut Eizenstat "wahrhaft historische" Abkommen ist tatsächlich in seiner Unverfrorenheit einzigartig. Lambsdorff charakterisierte dieses mit nicht zu überbietender Klarheit, als er am 6. Juli 2000 in seiner Rede vor dem Deutschen Bundestag sagte: "... möchte ich mit aller Deutlichkeit zu verstehen geben, dass Moral und Geschäft selten so nahe beieinander lagen wie bei diesen Verhandlungen. Die Stiftung schützt unmittelbar deutsche Interessen in den USA, nämlich unsere Exporte und Investitionen."
Diese Worte, gerichtet an jene Bundestagsabgeordnete, die "aus verständlichen Gründen den einen oder den anderen Einwand gegen das Stiftungsgesetz haben", bringen die Ursache der Verhandlungen auf den Punkt: Nicht die Anerkennung der "...politischen und moralischen Verantwortung für die Opfer des Nationalsozialismus" (wie in der Präambel zum Gesetz vorangestellt) führten zu einer Aufnahme der Entschädigungsdebatte. Sondern der stark auf dem amerikanischen Markt vertretenen deutschen Wirtschaftselite ist es außerordentlich lästig, wenn ihre Geschäfte durch die Erinnerung an vergangene Verbrechen beeinträchtigt werden können.
Wie war es zu den Verhandlungen gekommen?
Mit dem Zusammenbruch der stalinistischen osteuropäischen Staaten und der Wiedervereinigung von DDR und BRD wurde der juristische Sperrriegel gesprengt, der ehemalige Zwangsarbeiter gehindert hatte, Entschädigungsforderungen geltend zu machen.
Laut dem "Londoner Schuldenabkommen", das die Westalliierten 1953 besiegelt hatten, waren jegliche Reparationsansprüche an die Bundesrepublik Deutschland vorbehaltlich eines Friedensvertrages zurückgestellt worden. Die bundesdeutschen Gerichte hatten daraufhin mögliche Entschädigungs-Ansprüche von Zwangsarbeitern kurzerhand als Reparationsleistungen eingestuft und generell abgeschmettert. Dies ergab sich nicht aus der Sache, sondern war rein politisch motiviert.
Ansprüche aus Zwangsarbeit waren somit aus dem Bundes-Entschädigungsgesetz herausgehalten worden, nach dem bestimmte Opfergruppen - im Inland oder in Ländern, mit denen die Bundesrepublik diplomatische Beziehungen unterhielt - Ansprüche geltend machen konnten. Allerdings sorgten die westlichen Länder dafür, dass im Rahmen von Globalabkommen einige, bei weitem nicht alle, ehemalige Zwangsarbeiter in ihren Ländern gewisse Zahlungen erhielten.
Doch die Arbeitssklaven aus Osteuropa und der Sowjetunion gingen völlig leer aus, obwohl gerade aus diesen Ländern Millionen, zumeist ganz junge Frauen und Mädchen, von den Nazis verschleppt worden waren. Allein aus der Sowjetunion hatten die Einsatzstäbe der Wehrmacht und der Arbeitsämter von 1942 bis 1944 mehr als 2,5 Millionen Menschen zur Zwangsarbeit deportiert - 20.000 pro Woche.
Mit der Ausklammerung der Zwangsarbeit aus den Entschädigungs- und Wiedergutmachungsbestimmungen der Nachkriegszeit war ein zentrales Kapitel der nationalsozialistischen Verbrechen stillschweigend aus der Verantwortung der deutschen Unternehmen gestrichen worden, obwohl Hitlers Kriegswirtschaft ohne sie undenkbar gewesen wäre. Mehr als ein Viertel aller Beschäftigten im Deutschen Reich waren Zwangsarbeiter gewesen. "Der nationalsozialistische Ausländereinsatz‘ zwischen 1939 und 1945", heißt es in einer neueren Studie zum Thema, "stellt den größten Fall der massenhaften, zwangsweisen Verwendung von ausländischen Arbeitskräften in der Geschichte seit dem Ende der Sklaverei im 19. Jahrhundert dar. Im Spätsommer 1944 waren auf dem Gebiet des Großdeutschen Reiches‘ 7,6 Millionen ausländische Zivilarbeiter und Kriegsgefangene offiziell als beschäftigt gemeldet, die man größtenteils zwangsweise zum Arbeitseinsatz ins Reich verbracht hatte." (1)
Mit der deutschen Wiedervereinigung stellte sich die Frage einer neuen Rechtslage. Der damalige Kanzler Helmut Kohl hatte versucht, der ansteigenden Flut von Forderungen und Klagen entgegenzuwirken, indem er darauf bestand, dass der 1990 geschlossene Zwei-plus-Vier-Vertrag ausdrücklich nicht als Friedensvertrag deklariert wurde. Damit wollte er Reparationsforderungen vorbeugen. Es folgten Musterklagen ehemaliger Zwangsarbeiter aus Osteuropa.
Ein bahnbrechender Spruch des Bundesverfassungsgerichts von 1996 entschied schließlich, dass zwar keine staatsrechtliche Haftung seitens der Bundesregierung bestehe, privatrechtliche Klagen jedoch möglich seien. Und diese avancierten zum ernsthaften Ärgernis, als zu den vor allem in den USA eingereichten Sammelklagen auch Boykottaufrufe gegen deutsche Wirtschaftsunternehmen und Geschäfte auf dem amerikanischen Markt immer lauter wurden. Auch das Kräftemessen zwischen ehemaligen NS-Opfern und den Schweizer Banken ließ stures Weghören nicht mehr sinnvoll erscheinen. Erst jetzt entdeckte die deutsche Wirtschaft ihre "moralische Verantwortung". Die Stiftung wurde auf den Weg gebracht.
Was beinhaltet nun das Entschädigungs-Abkommen, das Außenminister Joschka Fischer als einen "tragfähigen, für alle akzeptablen Kompromiss" betitelt? Ein Blick auf die Einzelheiten ist durchaus aufschlussreich.
Zahlungen und bürokratische Hürden
Die noch lebenden ehemaligen Zwangsarbeiter - nach verschiedenen Schätzungen zwischen 1,5 und 2,3 Millionen Menschen - werden in verschiedene Kategorien eingeteilt. Die beiden Hauptkategorien unterscheiden sogenannte "Sklavenarbeiter", die in Konzentrationslagern oder Ghettos arbeiteten, und zumeist jüdischer Abstammung sind, sowie die "Arbeitssklaven", denen überwiegend die osteuropäischen Zwangsarbeiter zugerechnet werden. Aus dem mit 10 Milliarden DM dotierten Stiftungsfonds stehen 8,25 Milliarden DM (inkl. der zu erwartenden 50 Millionen DM aus Zinseinnahmen) für direkte Entschädigungszahlungen zur Verfügung. "Sklavenarbeiter" sollen daraus mit einem einmaligen Höchstbetrag bis zu 15.000 DM entschädigt werden, alle anderen Zwangsarbeiter mit bis zu 5.000 DM.
Insgesamt rund 5,5 Milliarden der 8,25 Milliarden DM gehen an Anspruchsteller aus den osteuropäischen Staaten. Das heißt: Für die Republik Polen stehen rund 1,8 Milliarden DM, für die Ukraine und die Republik Moldau 1,7 Milliarden DM, für die Russische Förderation, die Republiken Lettland und Litauen insgesamt 835 Millionen DM, für Belarus und für Estland 695 Millionen DM und für die Tschechische Republik 423 Millionen DM bereit. Rund 1,8 Milliarden DM sind für die jüdischen, 800 Millionen DM für die nichtjüdischen Opfer außerhalb der osteuropäischen Staaten vorgesehen.
Zu den Gruppen, für die im Gesetz keine ausdrückliche Entschädigung vorgesehen ist, gehören landwirtschaftliche Zwangsarbeiter, Opfer von Menschenversuchen und die Opfer, die in Zwangsarbeiterkinderheimen unter entsetzlichen Bedingungen leben mussten.
Die verbleibenden 1,75 Milliarden DM aus dem Stiftungsfonds sind für Vermögensschäden (1 Milliarde DM), Zukunftsprojekte (700 Millionen DM) und Verwaltungskosten vorgesehen.
Die Auszahlung und Aufteilung dieser Beträge ist eine aufwendige bürokratische Prozedur, die keinen geringen Raum für Schikanen, Verzögerungen und Missbräuche bietet.
Die an den Verhandlungen beteiligten Länder, müssen - sofern nicht schon vorhanden - Stiftungsgesellschaften einrichten, die sich (in enger Zusammenarbeit mit der deutschen Stiftung) mit dem Sammeln der Anträge ehemaliger Zwangsarbeiter, dem Überprüfen der Entschädigungsberechtigung und der Auszahlung der Gelder befassen. Für die Antragstellung sind 8 Monate ab Inkrafttreten des Gesetzes vorgesehen, in gesondert zu beantragenden Ausnahmen ist die Verlängerung der Antragsfrist bis zu einem Jahr möglich. Die Auszahlungen erfolgen an die zumeist weit über 70 Jahre alten ehemaligen Zwangsarbeiter in Raten, da bis zum heutigen Tage nicht absehbar ist, wie viele Antragsberechtigte noch leben und welcher konkrete Schlüssel zur Aufteilung des Geldes vonnöten ist.
Einem osteuropäischen Zwangsarbeiter, der nicht in der Landwirtschaft eingesetzt wurde und nicht unter KZ- oder Ghetto-Bedingungen leben musste, steht somit der einmalige Höchstbetrag von 5.000 DM zu, wovon er in erster Auszahlung voraussichtlich 1.750 DM erhalten würde. Nach Abschluss der Bearbeitung aller anhängigen Anträge bei der jeweiligen Partnerorganisation kann dieser Zwangsarbeiter mit der Auszahlung des Restbetrages rechnen, also 3.250 DM. Jedoch erfolgt die Restzahlung nur unter der Voraussetzung, dass dies im Rahmen der verfügbaren Mittel noch möglich ist (§ 9 Abs. 9 des Stiftungsgesetzes). Sollte der Anspruchsberechtigte während seines Antragsverfahrens verscheiden (bzw. nach dem 15. Februar 1999 verschieden sein), sind der überlebende Ehegatte und die noch lebenden Kinder zu gleichen Teilen leistungsberechtigt (§ 13 Abs. 1).
Stammt dieser Zwangsarbeiter beispielsweise aus Polen, muss er sich die für die polnische Republik vorgesehenen rund 1,8 Milliarden DM mit voraussichtlich ca. 500.000 weiteren polnischen Zwangsarbeitern teilen. Dies bedeutet einen möglicherweise auszahlbaren Gesamtbetrag von 3.600 DM an jeden von ihnen. Wobei hier die voraussichtlichen Verwaltungskosten, etc. noch nicht berücksichtigt sind. Das Stiftungsgesetz gestattet die Entschädigung landwirtschaftlicher Zwangsarbeiter erst nach abgeschlossener Befriedigung aller anderen Anspruchsberechtigten. Doch die polnischen Frauen, Männer und Jugendlichen waren gemäß den Weisungen des hauptverantwortlichen NS-Reichskommissars für den Arbeitseinsatz, Fritz Sauckel, überwiegend in der Landwirtschaft eingesetzt.
Während der zwei Verhandlungsjahre zum Stiftungsgesetz wurde die Auseinandersetzung mit der Geschichte des deutschen Faschismus zum würdelosen Gezerre um einige hundert Millionen Mark.
Unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkrieges hatten sich die Alliierten angesichts der vorgefundenen Ungeheuerlichkeiten zumindest anfänglich für eine umfassende Aufdeckung der NS-Verbrechen eingesetzt. In den Nürnberger Prozessen von 1945-1949 war vielfach Anklage auf Verschwörung und Verbrechen gegen den Frieden, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit erhoben worden. Doch die Urteile fielen mit fortschreitenden Jahren immer milder aus. Mit Beginn des Kalten Krieges wurde die Verfolgung der deutschen Kriegsverbrecher praktisch eingestellt. Die zu Haftstrafen verurteilten Industriellen befanden sich Anfang der fünfziger Jahre bereits wieder auf freiem Fuß. Ihr Vermögen hatten sie zurückerhalten. NS-Angehörige aus der mittleren und höheren Ebene kehrten in Staatsämter und wirtschaftliche Führungspositionen zurück.
Die Regierungen der westlichen Welt fanden rasch wieder zur Zusammenarbeit mit den verantwortlichen deutschen Industriellen und ihren politischen Vertretern. Die Solidarität im Kalten Krieg gegen die Sowjetunion und das gemeinsame geschäftliche Interesse wogen weitaus schwerer, als demokratische Grundsätze.
Mit dem Abkommen zur Entschädigung der ehemaligen NS-Zwangsarbeiter wurde dieses Versäumnis nicht behoben. Es zeigt, dass auch 55 Jahre nach den schwersten Verbrechen, die die Menschheit bis dahin kannte, die Lehren nicht gezogen, die Ursachen nicht aufgearbeitet und die Verantwortlichen nicht zur Rechenschaft gezogen worden sind. Das Abkommen soll einen Schlussstrich unter die Geschichte ziehen und stellt eine Verhöhnung der Opfer dar.
"Dies ist nicht viel, wenn man bedenkt, wie viel wir gelitten haben, wie bestialisch wir behandelt wurden und dass die Wunden, die uns geschlagen wurden, unser ganzes Leben lang nicht verheilten", erklärte Marian Nawrocki, der Leiter des polnischen Opferverbandes. Markijan Demidow, der Vorsitzende des ukrainischen Opferverbandes, sagte, Deutschland und die USA hätten die Vertreter der ehemaligen Zwangsarbeiter aus den Ost-Ländern gezwungen, das Abkommen zu unterzeichnen. "In Washington sagten sie uns: Auch wenn es Euch nicht ausreicht, wir werden trotzdem unterzeichnen. Sie zwangen uns dazu. Die Beträge sind ein Witz, eine Beleidigung von Seiten Deutschlands."
***
(1) Barwig / Saathoff / Weyde: "Entschädigung für NS-Zwangsarbeit", Baden-Baden 1998, S. 18