Die Rede zur Zukunft Europas, die der französische Präsident Jacques Chirac am 27. Juni vor dem deutschen Bundestag hielt, ist in Frankreich zum Gegenstand heftiger Spannungen zwischen dem gaullistischen Präsidenten und der sozialistisch geführten Regierung geworden.
Chirac war in Berlin für die Bildung einer "Avantgarde-Gruppe" eingetreten, die unter deutsch-französischer Führung den Wegbereiter bei der weiteren Integration Europas spielen soll. Außerdem hatte er die Ausarbeitung einer europäischen Verfassung zur Sprache gebracht. Er knüpfte damit an eine Rede des deutschen Außenministers Joschka Fischer vom Mai dieses Jahres an. Fischer hatte sich an der Berliner Humboldt-Universität für eine europäische Föderation ausgesprochen, eine Forderung, die Chirac in dieser Reichweite allerdings nicht teilt.
Europaminister Pierre Moscovici warf dem Präsidenten nach der Rede öffentlich vor, er habe nicht die Auffassung der französischen Autoritäten vertreten. Auch Premierminister Lionel Jospin zeigte sich wenig begeistert über Chiracs Äußerungen: Sie seien zwar interessant, aber in sich widersprüchlich und wenig realistisch. Außenminister Hubert Védrine warnte vor einer verfrühten intellektuellen Diskussion über die Zukunft Europas.
Das Präsidentenamt, dem laut Verfassung die Federführung bei der Außenpolitik zusteht, wies diese Kritik umgehend mit einer Erklärung zurück, in der es heißt, der Präsident habe in seiner amtlichen Eigenschaft gesprochen. Frankreich spreche mit einer Stimme.
Die für die Gepflogenheiten der "Kohabitation" ungewohnte öffentliche Auseinandersetzung zwischen Präsident und Regierung wird von den meisten Kommentatoren als Vorgriff auf die im Jahr 2002 anstehenden Präsidentschaftswahlen interpretiert, bei denen Jospin voraussichtlich als Herausforderer Chiracs antreten wird. Andere deuten sie als Ausdruck rein taktischer Differenzen: Während der Präsident eine Diskussion über die zukünftige Gestalt Europas für nützlich halte, um die angestrebte Strukturreform der EU voranzutreiben, fürchte die Regierung, dass eine offene Diskussion andere EU-Partner abschrecken und die Reform erschweren könnte.
Tatsächlich unterscheiden sich die europapolitischen Vorstellungen des gaullistischen Präsidenten inhaltlich kaum von jenen der sozialistisch geführten Regierung. Beide sind sich einig, dass die europäischen Institutionen während der französischen EU-Präsidentschaft, die am 1. Juli begonnen hat, gründlich reformiert werden müssen, was im Endeffekt auf eine Stärkung der deutsch-französischen Führungsposition hinausläuft, wie sie Chirac in seiner Berliner Rede angesprochen hat.
Chiracs Einsatz für eine verstärkte europäische Integration ist zudem erst jüngeren Datums. Noch in den siebziger Jahren hatte er dem damaligen Präsidenten (und Bündnispartner der Gaullisten) Valéry Giscard D'Estaing "Verrat" vorgeworfen und ihn der "Unterwerfung Frankreichs" bezichtigt, weil er sich für die europäische Einheit einsetzte. Die Sozialisten gelten dagegen spätestens seit der Präsidentschaft François Mitterrands als proeuropäische Partei.
Man könnte den Streit über Chiracs Rede daher leicht als unbedeutendes politisches Gezänk abtun, das an einem Tag die Schlagzeilen füllt und am nächsten vergessen wird. Das wäre aber zu oberflächlich. In Wirklichkeit widerspiegeln sich darin die scharfen gesellschaftlichen Konflikte, die mit der weiteren Entwicklung der Europäischen Union aufbrechen und überall traditionelle Institutionen und Parteien auseinanderreißen.
Sowohl das Regierungs- wie das Präsidentenlager sind in der Europafrage gespalten. In der Regierungskoalition haben die Kommunistische Partei und die Bürgerbewegung von Innenminister Jean-Pierre Chevènement starke Vorbehalte gegen eine verstärkte europäische Integration. Auch unter den Sozialisten gibt es einen euroskeptischen Flügel, während die Grünen mit ihrem Europaabgeordneten Daniel Cohn-Bendit, einem engen Weggefährten des deutschen Außenminister Fischer, Chiracs Rede emphatisch begrüßten.
Die Gaullisten sind in der Europafrage völlig zerrissen. An Chiracs Seite stehen der letzte gaullistische Premier Alain Juppé und Jacques Toubon, der sich als Autor eines Gesetzes zum Schutz der französischen Sprache einen Namen gemacht hat. Juppé beschäftigt sich in Chiracs Auftrag seit Monaten mit dem Entwurf einer europäischen Verfassung und geht dabei noch wesentlich weiter, als Chirac in seiner Berliner Rede. So hat er vorgeschlagen, in der Europäischen Union das Amt eines Präsidenten einzurichten, der ihr "ein Gesicht und eine Stimme" verleihen soll.
Andere führende Gaullisten haben dagegen mit Chirac gebrochen, weil sie seinen Europakurs als Angriff auf die französische Souveränität und die Traditionen des Gaullismus betrachten. Charles Pasqua, Innenminister unter der letzten konservativen Regierung, hat eine eigene rechte Partei gegründet. Philippe Séguin legte 1999 aus Protest den Vorsitz der gaullistischen RPR nieder und ist inzwischen gegen Chiracs Widerstand als offizieller RPR-Kandidat für das Amt des Pariser Bürgermeisters auf die politische Bühne zurückgekehrt.
Chirac begründet sein Eintreten für stärkere europäische Institutionen und die Bildung einer "Avantgarde-Gruppe" mit der bevorstehenden Osterweiterung der Europäischen Union. Diese wiederum hält er für unverzichtbar, um die Stellung Europas gegenüber den USA zu stärken - ein traditionelles Ziel der Gaullisten.
Die Ausweitung der Union auf nahezu 30 Mitglieder, so sein Argument, würde die Union lähmen, wenn an der bisherigen Stimmengewichtung und am Veto-Recht einzelner Mitglieder festgehalten werde. Daher müssten die großen Länder stärkeren Einfluss erhalten und eine Minderheit von Ländern durch Mehrheitsentscheidungen überstimmen können. Länder, die weiter und rascher vorankommen wollen, müssten außerdem in der Lage sein, verstärkt zusammenzuarbeiten und erforderlichenfalls auch Kooperationen außerhalb des EU-Vertrags einzugehen. In deutschen Regierungskreisen wird diese Auffassung weitgehend geteilt.
Hinter diesen verfahrenstechnischen Argumenten verstecken sich explosive soziale Fragen. Das Lebensniveau in Osteuropa liegt weit unter jenem in der bisherigen EU. Allein Polen würde bei hohen jährlichen Wachstumsraten zehn Jahre brauchen, um das Niveau des ärmsten bisherigen EU-Mitglieds zu erreichen. In weiter östlich liegenden Ländern wie Rumänien ist die Lage noch katastrophaler. Inzwischen gibt es zahlreiche Studien, die nachweisen, dass sich die Lage mit der Aufnahme in die EU anfangs nicht verbessern, sondern verschlimmern wird. Zahlreiche Wirtschaftszweige und vor allem die Landwirtschaft brechen zusammen, wenn sie schutzlos dem europäischen Wettbewerb ausgesetzt werden.
Ein sozialer Ausgleich, wie er bei der Integration der ärmeren südeuropäischen Staaten noch durchgeführt wurde, ist nicht vorgesehen. Er stände auch im Widerspruch zu den Sparprogrammen, die heute überall in Europa die offizielle Regierungspolitik bilden. Um mit den unvermeidlichen sozialen Explosionen fertig zu werden, muss die EU ihren Charakter ändern. Aus einem Wirtschaftsbündnis verwandelt sie sich immer mehr in ein politisches, militärisches und Polizeibündnis, das notfalls auch mit Gewalt für Ordnung sorgt.
Das Drängen nach einer Reform der europäischen Institutionen entspringt nicht zuletzt der Angst, dass schwache Regierungen in neuen Mitgliedsländern dem sozialen Druck von unten nicht standhalten können und aus der strikten Finanzdisziplin der EU ausbrechen. Deshalb wollen die mächtigsten EU-Mitglieder stärkere Vollmachten, um ihnen ihre Politik diktieren zu können.
In der Fachliteratur wird auch immer offener diskutiert, dass die Mehrparteiendemokratie für diese Länder nicht geeignet sei. In einem Beitrag der Zeitschrift Berliner Debatte(11/2000) heißt es dazu, sie müssten "über stabile Strukturen der Interessenvermittlung verfügen, da diese soziale Konflikte kanalisieren und auffangen können. Demzufolge erscheint der liberale Korporatismus als beste Form der außerparteilichen Interessenvermittlungsstruktur, weil er eine höhere Stabilität nach sich zieht als der Pluralismus." In eine verständliche politische Sprache übersetzt bedeutet dieser soziologische Jargon, dass das Modell Pinochet (der "liberale Korporatismus") zur Beherrschung der sozialen Konflikte besser geeignet ist, als die parlamentarische Demokratie ("Pluralismus").
Die Veränderung des Charakters der EU zieht aber auch unter den alten Mitgliedern scharfe Spannungen nach sich.
In Großbritannien wird die Herausbildung einer deutsch-französischen Achse vor allem als Bedrohung der eigenen Position empfunden. Entsprechend hysterisch waren die Pressereaktionen auf Fischers und Chiracs Rede. Kleinere EU-Mitglieder - vor allem in Skandinavien - fühlen sich durch die deutsch-französische Initiative an den Rand gedrängt. Und schließlich erheben - vor allem in den wohlhabenderen Gebieten Europas - regionalistische Bewegungen ihr Haupt, die entschlossen sind, die Privilegien der regionalen Eliten gegen die Ansprüche aus ärmeren Regionen zu verteidigen.
Hinter all dem erhebt sich die soziale Frage, die scharfen Spannungen zwischen der Masse der Bevölkerung, die die Lasten der EU durch sinkende Einkommen und Sozialabbau zu tragen hat, und den wirtschaftlichen und finanziellen Eliten, die davon profitieren.