Essener Parteitag der CDU

Ein kollektiver Verdrängungsakt

Um den Parteitag der CDU zu beschreiben, der am 10. und 11. April in Essen tagte, greift man besser zu den Begriffen der Gruppenpsychologie als zu jenen der Politik. Angst und Verzweiflung müssen ein unerträgliches Ausmaß annehmen, damit über tausend Delegierte - allesamt erwachsen und abgebrühte Politiker - in eine kollektive Euphorie einstimmen, die streckenweise an das Verhalten von Teenies gegenüber ihrem Pop-Idol erinnert.

Die Begeisterung für Angela Merkel, die mit einem Traumergebnis von 96 Prozent zur neuen Vorsitzenden gekürt wurde, nahm teilweise groteske Züge an. Diese hätte, wie ein boshafter Kommentator meinte, "in diesen Essener Tagen auch das Essener Telefonbuch vorlesen können und wäre bejubelt worden von ihrer ausgehungerten Partei".

Dabei gibt es vordergründig wenig, was die 45jährige zur Führung der Partei qualifiziert. Sie hat zwar eine steile Karriere durchlaufen, seit sie sich nach der Wende in Ostdeutschland der CDU anschloss. Doch das verdankt sie weniger eigenen Leistungen, als der schützenden Hand von Helmut Kohl, der aus Gründen der Imagepflege eine ostdeutsche Frau im Kabinett haben wollte und sie deshalb zur Familien- und später zur Umweltministerin ernannte. In beiden Ämtern stand sie ganz im Schatten ihres Mentors und tat sich durch keinerlei besonderen Taten hervor.

Auch als Merkel nach der verlorenen Bundestagswahl 1998 Generalsekretärin der CDU wurde, führte sie ein Schattendasein. Sie war mehr Sekretärin als General. Im Rampenlicht standen andere - der neue Vorsitzende Wolfgang Schäuble, altgediente Parteigrößen wie Volker Rühe, Lokalmatadoren wie Roland Koch, Peter Müller und Christian Wulff.

Erst als die CDU immer tiefer im Strudel des Finanzskandals versank, wurde Merkel zur neuen "Hoffnungsträgerin" der Partei. Je mehr sich die zu tiefst verunsicherte Mitgliedschaft nach Ruhe sehnte, desto populärer wurde sie. Ihre offensichtlichen Schwächen wurden plötzlich als Tugenden wahrgenommen - das Fehlen einer eigenen Hausmacht und die damit verbundene Distanz zu den parteiinternen Klüngeln und Intrigen; die demonstrativ zur Schau getragene Naivität; und die Fähigkeit, mit wohlgesetzten Worten nichtssagende Sätze zu formulieren. Die aus DDR-Zeiten ererbte Aura hausbackener Konservativität, die sie so unnachahmlich verbreitet, begeisterte zudem die älteren CDU-Mitglieder, die im gesellschaftspolitischen Mief der Adenauer-Ära aufgewachsen sind.

Die um die Kohl- und Schäuble-Nachfolge kämpfenden Parteimatadoren mussten bald feststellen, dass sie gegen diese Stimmung nicht ankamen. Wer in die Offensive gegangen wäre, hätte unweigerlich verloren. Volker Rühe, der die Landtagswahl in Schleswig-Holstein unvorsichtigerweise zum Plebiszit über den CDU-Vorsitz hochstilisierte, musste dies feststellen. Er verlor nicht nur die Wahl, sondern hätte auf dem Essener Parteitag auch beinahe noch seinen Sitz im Parteipräsidium eingebüßt. Er wurde nur wieder gewählt, weil es keinen Gegenkandidaten gab. Mit 58 Prozent erzielte er das mit Abstand schlechteste Ergebnis.

Als der Parteitag näher rückte, zog sich ein Kandidat um den Vorsitz nach dem andern zurück. In Bayern, wo die CSU Merkel anfangs heftig angefeindet hatte, wurde die weiße Flagge gehisst. Merkel blieb schließlich als einzige und unumstrittene Kandidatin im Rennen.

Der Rückzug fiel den Konkurrenten umso leichter, als Merkel zu schwach ist, um ihnen ernsthaft im Weg zu stehen. Als Parteivorsitzende ohne politisches Amt ist sie gegenüber den machtbewussten Ministerpräsidenten eindeutig im Nachteil. Die wirkliche Entscheidung um die Nachfolge Kohls und Schäubles wird erst in zwei Jahren fallen, wenn der Kanzlerkandidat für die nächste Bundestagswahl bestimmt wird. Bis dahin - so die Vereinbarung zwischen Merkel, Stoiber und anderen Rivalen - bleibt diese Frage tabu.

Spätestens zu diesem Zeitpunkt werden die heftigen Macht- und Richtungskämpfe innerhalb der CDU wieder aufbrechen. Merkel ist, so weit es ihre Konkurrenten betrifft, lediglich eine Übergangsfigur. Sie soll die erregten Gemüter der Mitglieder beruhigen und die Chancen für die nächste Runde der Auseinandersetzung offen halten.

Hinzu kommt, dass sie politisch kaum festgelegt ist. Auf dem Essener Parteitag brachte sie das Kunststück zustande, einerseits die sogenannte Green-Card-Initiative von Bundeskanzler Schröder zu befürworten, durch die vorübergehend ausländische Computerspezialisten ins Land geholt werden sollen, und gleichzeitig die Wahlkampagne von Jürgen Rüttgers in Nordrhein-Westfalen zu unterstützen, die sich mit der Parole "Inder statt Kinder" explizit gegen diese Initiative richtet.

Merkel vertritt aber eindeutig nicht den "linken" oder "liberalen" Flügel der Union, wie ihr das von Seiten der CSU vorgeworfen wurde. Als protestantische, geschiedene Frau, die in der DDR aufgewachsen ist und viele Jahre ohne Trauschein mit ihrem Partner zusammenlebte, sieht sie vielleicht einige Fragen der Familienmoral nicht so eng wie die katholische Klientel der CSU. Ansonsten sind aber ihre gesellschaftspolitischen Ansichten konservativ bis reaktionär.

So hat sie als eine ihrer ersten selbständigen Initiativen die Wiedereinführung von Kopfnoten für Fleiß und Betragen an den Schulen gefordert. Sie hat sich nie von den ausländerfeindlich motivierten Kampagnen ihrer Kollegen Koch und Rüttgers distanziert. Und es ist bezeichnend, dass der Parteitag in einem seiner wenigen konkreten Beschlüsse vehement die Sanktionen gegen Österreich wegen der Regierungsbeteiligung der rechtsextremen FPÖ verurteilte.

Insgesamt war der Essener Parteitag darauf ausgerichtet, die verstörte Mitgliedschaft zu beruhigen. Über die Krise, die die CDU fünf Monate lang bis in die Grundfesten erschüttert hatte, wurde dementsprechend kaum mehr ein Wort verloren - ein groß angelegter, kollektiver Verdrängungsakt! Nicht ein Delegierter unterzog sich der Mühe, die gesellschaftlichen Hintergründe und Ursachen der Parteikrise zu untersuchen.

Mit der Auseinandersetzung über die Krise der Partei blieb auch die gesellschaftliche Wirklichkeit vor der Tür. Von den Sorgen breiter Bevölkerungsschichten, den wachsenden sozialen Spannungen und der Zunahme von Unzufriedenheit und Hass gerade im Osten Deutschlands war in der Essener Gruga-Halle nichts zu spüren - trotz der ostdeutschen Parteivorsitzenden.

Stattdessen herrschte eine Stimmung künstlicher Euphorie vor, wie sie auf billigen Werbeveranstaltungen erzeugt wird. "Zur Sache!" stand groß über dem Podium, und die Reden strotzten von Kampfansagen an die rot-grüne Regierung und Sprüchen wie "Wir sind wieder da!", mit denen sich die Delegierten gegenseitig Mut einflößten.

Dabei bewegt sich die Union insgesamt weiter nach rechts.

Das zeigte sich zum einen an der Unterstützung für Roland Koch und Jürgen Rüttgers, die in Hessen und Nordrhein-Westfalen erstmals in der Geschichte der CDU in einem Landtagswahlkampf offen auf die ausländerfeindliche Karte gesetzt haben. Rüttgers wurde mit 75 Prozent zum stellvertretenden Parteivorsitzenden gewählt - das zweitbeste Ergebnis - und Koch, der auch tief in den Finanzskandal verwickelt ist, erhielt bei der Vorstandswahl immerhin noch 66 Prozent.

Zum andern wurde anhand der Wahl des Bankers Ulrich Cartellieri zum neuen Schatzmeister das Verhältnis der Partei zur Wirtschaft deutlich. Cartellieri, der jahrelang im Vorstand der Deutschen Bank saß und daher über exzellente Beziehungen zu führenden Wirtschaftskreisen verfügt, wurde mit dem Rekordergebnis von 99,3 Prozent ins Präsidium gewählt.

Der Banker, der erst am Vorabend des Parteitags in die CDU eintrat, ließ keine Zweifel aufkommen, worin er seine Aufgabe sieht. Er wolle "mit der gebotenen und von mir für nötig gehaltenen Deutlichkeit" die Vorstellungen der Wirtschaft ins CDU-Präsidium tragen, erklärte er auf einer Pressekonferenz. Die CDU ihrerseits erwartet von Cartellieri - auch daraus wurde kein Hehl gemacht -, dass er ihr Gelder aus der Wirtschaft besorgt, um die desolate Finanzkrise zu überwinden.

Hatte sich Kohl hinter den Kulissen von der Wirtschaft aushalten lassen, so geschieht nun unter Merkel dasselbe auf offener Bühne. Soweit zur moralischen Aufarbeitung der Parteispendenaffäre.

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