Am 3. September eröffnete das Kieler Landgericht einen neuen Prozess um den Brandanschlag auf ein Lübecker Asylbewerberheim vor fast vier Jahren.
Wieder wird der Libanese Safwan Eid, der sich in jener Nacht zum 18. Januar 1996 selbst nur knapp aus dem brennenden Haus retten konnte, der Brandstiftung angeklagt. Ende Juni 1997 war er "mangels Beweise" freigesprochen worden, doch ein Jahr später, am 24. Juni 1998 gab der Bundesgerichtshof (BGH) einem Revisionsantrag eines Nebenklägers statt und hob den Freispruch wieder auf.
Diese Entscheidung war direkt verbunden mit dem kurz zuvor verabschiedeten "Großen Lauschangriff", mit dem die Verwendung von abgehörten Gesprächen vor Gericht legalisiert wurde. Der BGH begründete die Aufhebung des Freispruchs daher damit, das Lübecker Landgericht habe fälschlicherweise Abhörprotokolle von Gesprächen nicht verwertet, die Safwan Eid im Gefängnis mit seinen Verwandten führte. Diese hätten Anhaltspunkte für seine Schuld ergeben können.
Zwei Dinge sind an dem neuen Lübeck-Prozess bemerkenswert:
Erstens konzentriert sich das Gericht auf die Auswertung von Protokollen einer Abhöraktion, die 1996, lange vor Verabschiedung des "Lauschangriffs" stattgefunden hat. Dies ist ein Präzedenzfall in der deutschen Justiz.
Zweitens wurden vor Beginn der Verhandlungen die Ermittlungen gegen vier Jugendliche der rechtsradikalen Szene in Grevesmühlen eingestellt, gegen die es handfeste Verdachtsmomente bis hin zum Geständnis der Tat durch ein Mitglied der Gruppe gibt.
Ein Rückblick: Zehn Menschen, darunter sieben Kinder und Jugendliche fanden in der Nacht vom 17. zum 18. Januar 1996 einen schrecklichen Tod, als das Asylbewerberheim in der Lübecker Hafenstraße Nr. 52 in Flammen aufging.
Vieles deutete damals darauf hin, dass dies das Werk von Rechtsradikalen war. Vier junge Männer aus Grevesmühlen hielten sich in jener Nacht in unmittelbarer Nähe zum Tatort auf. Drei von ihnen wurden kontrolliert und festgenommen und eine Haarprobe ergab frische Versengungen an Wimpern und Augenbrauen, die auf Brandbeschleuniger rückschließen lassen und deshalb als wesentliches Verdachtsmoment für Brandstifter gelten. Die Verdächtigten konnte für diesen Fakt nur haarsträubende und völlig unglaubwürdige Begründungen liefern. Dennoch ließ die Polizei sie wieder frei, aufgrund eines angeblichen Alibis, das sich später als haltlos erwies.
Schließlich gestand Anfang 1998 einer von ihnen, der zu dieser Zeit wegen eines anderen Delikts im Gefängnis saß, die Tatbeteiligung. Erst zu diesem Zeitpunkt, zwei Jahre nach dem Anschlag, nahm die Staatsanwaltschaft wieder Ermittlungen gegen die Gruppe auf.
Seit der Verhaftung von Safwan Eid zwei Tage nach dem Brand hatten Justiz und Polizei systematisch Spuren in Richtung der rechtsradikalen Szene vernachlässigt. Die versengten Haarproben der Grevesmühlener wurden monatelang vor der Öffentlichkeit verschwiegen und waren schließlich auf unerklärliche Weise verschwunden. Eine Gutachterin, die im ersten Prozess unter Eid aussagte, sie habe die Proben an die Polizei weitergeleitet, wurde von der Staatsanwaltschaft mit einem Meineidverfahren belegt.
Die Staatsanwälte zimmerten eine absurde Theorie zurecht, Safwan Eid hätte wegen eines Familienzwists im ersten Stock unmittelbar neben den Zimmern, in denen ein Teil seiner eigenen Familie schlief, Brand gelegt und sich selbst im Dachgeschoss schlafen gelegt. Die Widerlegung dieser Theorie durch den unabhängigen Brandexperten Prof. Ernst Achilles, der annahm, der Brand sei im hölzernen Vorbau des Hauses gelegt worden, wurde mit abenteuerlichen Behauptungen zurückgewiesen. Die entsprechende Bodendielen, die die Theorie der Staatsanwaltschaft bzw. die Vermutungen von Achilles hätten beweisen können, verschwanden auf geheimnisvolle Weise.
Doch auch die These von Prof. Achilles, die Täter seien durch ein eingeschlagenes Fenster in den hölzernen Vorbau eingedrungen und hätten dort das Feuer gelegt, konnte nicht nachgewiesen werden, weil unmittelbar nach dem Brand der Schutt und die Glasscherben in diesem Gebäudeteil ohne vorherige Spurensicherung zusammengekehrt worden waren.
Schließlich haben die Ermittler nie den Tod eines jungen Mannes aus Togo, Sylvio Amoussou, aufgeklärt, dessen verbrannte Leiche mit einem Draht umwickelt im Vorbau des Wohnheims lag. Die Obduktion hatte ergeben, dass er nicht durch Brand- oder Raucheinwirkung gestorben war. Stattdessen hatte er Halswirbelverletzungen, wie sie durch Würgen entstehen können. Dieser Leichenfund verstärkte die Zweifel an der Theorie der Ermittlungsbehörde, Safwan Eid habe den Brand im ersten Stock gelegt.
Eid war zwei Tage nach dem Brand als "dringend tatverdächtig" verhaftet worden, nachdem ein Rettungssanitäter behauptet hatte, Eid hätte ihm gegenüber auf der Fahrt ins Krankenhaus ein "Geständnis" abgelegt. Er habe gesagt: "Wir warn's." Eid hat dies immer bestritten und erklärt, er habe höchstens "Die warn's" gesagt und damit die Neonazis gemeint. Die Aussage des Sanitäters, der, wie sich später herausstellte, selbst Verbindungen zu rechtsradikalen Kreisen hatte, blieb die einzige Zeugenaussage der Staatsanwaltschaft.
In Beweisnot geraten, ordnete darauf das Lübecker Landgericht eine fragwürdige Abhöraktion an und zeichnete mehrere Gespräche Safwan Eids mit seinen Familienangehörigen während seiner siebenmonatigen Untersuchungshaft auf. Ein von der Lübecker Staatsanwaltschaft beauftragter Übersetzer präsentierte einige Stellen, in denen Safwan Eid angeblich seine Schuld eingestanden habe. Doch letztlich ließ das Lübecker Gericht eine Verwertung der Mitschnitte im Prozess nicht zu und argumentierte, ein Untersuchungshäftling habe nach dem Gesetz als unschuldig zu gelten und daher sei die Besucherzelle wie eine Wohnung durch Grundgesetz Artikel 13 geschützt. Selbst die Staatsanwaltschaft hielt eine Verurteilung Safwan Eids aufgrund der Aussagen der Abhörprotokolle für nicht möglich und legte keine Revision ein.
Im Zentrum des neu aufgerollten Prozesses in Kiel steht nun die Auswertung genau dieser Protokolle. Streckenweise nehmen die Verhandlungen bizarre Formen an. So lässt der Vorsitzende Richter Jürgen Strobos manche Stellen der Tonbänder immer wieder vorspielen, und zwei Übersetzer, der vom Bundeskriminalamt bestellte Azez Yachoua aus Syrien sowie der ebenfalls syrische Muhammad Wannous, Berliner Lektor für arabische Sprachen an der Freien Universität, streiten sich über unterschiedliche Interpretationen.
Wenn irgendetwas bisher aus dieser Art Beweisaufnahme ersichtlich wird, so eins: wie insbesondere aus einer anderen Sprache übersetzte Tonbandaufnahmen der juristischen Willkür Tür und Tor öffnen können.
So heißt es in der schriftlichen Übersetzung, die Yachoua, der hauptsächlich für Polizei und BKA arbeitet, 1996 angefertigt hatte, an einer Stelle: "Ich habe alle zum Schweigen gebracht". Der Berliner Lektor Wannous dazu: "Diesen Satz gibt es da nicht". Der Vorsitzende Richter Jürgen Strobos fragt: "Auch keinen ähnlichen Satz?" "Nein". Auch Yachoua findet den Satz auf einmal nicht mehr. Erst auf dem zweiten Tonband vermeint er, ihn zu finden. Aber Wannous versteht etwas völlig anderes: "Das ist niemals nachgewiesen worden". Schließlich gibt Yachoua zu, seine Übersetzung sei nur eine Variante von möglichen Bedeutungen: Eid könne auch gesagt haben: "Ich habe sie alle beruhigt" oder "zufrieden gestellt".
An anderer Stelle der Übersetzung von Yachoua, auf die sich die Staatsanwaltschaft bisher gestützt hat, soll Eid zu seinem Bruder gesagt haben: "Wenn ich gestehen würde, weißt du, was das bedeuten würde?" Muhammad Wannous versteht wieder völlig anders: "Ich habe ihnen gesagt, zu dem Zeitpunkt habe ich geschlafen. Ich habe gesagt, selbst wenn ich tot wäre, würdet ihr so mit mir umgehen?" An diesem Punkt der Verhandlung hat Yachoua plötzlich eine Erklärung abzugeben: In seiner Übersetzung sei hier ein Fehler entstanden, der auf einen Konvertierungsfehler des BKA-Computers zurückgehe. Es müsse statt "gestehen würde" richtig heißen "gestorben wäre". Er habe die Polizei in Lübeck auf den Fehler hingewiesen, sobald er ihn bemerkt habe.
Allerdings blieb der Fehler weiterhin im Manuskript der Staatsanwaltschaft stehen. Die Verteidigerinnen von Safwan Eid fordern daraufhin erneut, Yachoua von seinen Sachverständigenpflichten zu entbinden, weil er dazu neige, bei mehreren Interpretationsmöglichkeiten die zu wählen, die den Interessen der Auftraggeber am nächsten käme. Das Gericht lehnt den Antrag ab.
Der Kieler Prozess gegen Safwan Eid wird sicherlich nichts zur Aufklärung der katastrophalen Brandnacht in Lübeck im Januar 1996 beitragen. Er reiht sich ein in die Serie von Prozessen der vergangenen Jahre, wie in Solingen, Mölln oder Hattingen, wo rechtsradikale Tatverdächtige ungeschoren davongekommen und ausländische Flüchtlinge, d.h. die Opfer zu Tätern gestempelt worden waren.
Darüber hinaus zeigt der Prozess aber auch eine neue Entwicklung: die deutsche Justiz beginnt, vom Prinzip "im Zweifel für den Angeklagten" merklich abzurücken. Die Verwertung von zweifelhaft übersetzten Abhöraufnahmen als Beweismittel setzen fundamentale Rechte wie das Aussageverweigerungsrecht von Beschuldigten und ihren Verwandten außer Kraft und bereiten den Weg zu gefälschten Anschuldigungen.
Hinzu kommen zwei Entscheidungen des Kieler Gerichts, die die Situation des Angeklagten zusätzlich erschweren: zum einen lehnte es die Zulassung der rechtlichen Vertreter anderer Nebenkläger zum Prozess ab, die im ersten Prozess für einen Freispruch Safwan Eids plädiert hatten. Die erstaunliche Begründung lautet, jene Nebenkläger [weitere Opfer der Brandkatastrophe, die Safwan Eid für unschuldig halten] seien "bereits von Anfang an ausschließlich an einem Freispruch des Angeklagten und vor allem an einer weiteren Strafverfolgung gegen Dritte interessiert."
Zum anderen verfügte das Gericht, zunächst nur "belastende Zeugen" gegen Safwan Eid zu hören, und erst in einer zweiten Etappe der Verhandlung entlastende Zeugenaussagen zu behandeln. Die Verteidigung erklärt dazu in ihrem Widerspruch: "Eine solche Umverteilung der Beweislast in der Beweisaufnahme und Hauptverhandlung widerspricht der Amtsaufklärungspflicht und beeinträchtigt den Angeklagten grundlegend in seinem Recht auf Verteidigung." Selbst der Anwalt der Nebenklägerfamilie El Omari, die den Revisionsantrag beim BGH gestellt hatte, hält dieses Verfahren für rechtswidrig.