In den schweizerischen Nationalrats- und Ständeratswahlen vom vergangenen Sonntag legte die rechts-populistische SVP (Schweizerische Volkspartei) 7,7 Prozent zu und wurde mit 22,6 Prozent der abgegebenen Stimmen zur stärksten Partei. Dicht hinter ihr folgte die SPS (Sozialdemokratische Partei der Schweiz), die 22,5 Prozent (Zugewinn: 0,7%) erhielt und mit 51 Abgeordneten wieder die stärkste Fraktion im Nationalrat stellen wird. Die SVP erhält 44 Mandate, das sind 15 mehr als 1995. Die Freisinnigen (FDP) büßten 0,3 Prozent ein und kamen mit 19,9 Prozent und 43 Sitzen auf Rang drei. Die vierte Regierungspartei, die Christdemokraten (CVP), verlor einen Punkt und standen mit 15,8 Prozent an vierter Stelle. Die Grünen, größte nicht-Regierungs-Partei, haben mit ihren fünf Prozent nach wie vor wenig Einfluss. Die Stimmbeteiligung lag bei 43,3 Prozent.
Die Zunahme der Partei Christoph Blochers um fast acht Prozent ist für helvetische Verhältnisse außergewöhnlich; noch nie seit der Einführung des Verhältniswahlrechts (Proporz) 1919 konnte eine Partei eine derart massive Verschiebung der Wählergunst erreichen. Die SVP fasste erstmals auch in Teilen der französischen Westschweiz Fuß, die in ihrem Wahlverhalten im allgemeinen als eher liberal und weltoffen gilt. Innerhalb des deutschschweizerischen bürgerlichen Lagers verdrängte sie die FDP, die älteste bürgerliche Partei der Schweiz, von der Führungsposition.
Trotz seiner Brisanz hat dieses Wahlergebnis aller Voraussicht nach keinen Einfluss auf die Regierung, die in der Schweiz seit 1959 in Form einer großen Koalition besteht. Diese ungewöhnliche Regierungsform, die sogenannte "Konkordanzdemokratie", legt von vorneherein fest, welche Parteien in welchem Verhältnis in der Regierung vertreten sind. Die FDP, die CVP, die SPD und die SVP stellen gemeinsam sieben Bundesräte (Minister) im Verhältnis 2:2:2:1 (sogenannte "Zauberformel"), die im jährlichen Wechsel das Amt des Bundespräsidenten ausüben.
Die Wahlbeteiligung von 43,3 Prozent ist nicht ungewöhnlich niedrig, tatsächlich liegt sie um ein Prozent höher als vor vier Jahren. Hatten sich in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts noch durchwegs siebzig bis achtzig Prozent der Bevölkerung an den schweizerischen Parlamentswahlen beteiligt, so ist die Wahlbeteiligung mit der Einführung der permanenten großen Koalition rapide und stetig auf ihr heutiges niedriges Niveau abgesunken. Das ist kein Wunder, haben die Wähler durch ihre Stimmabgabe doch keinerlei Einfluss auf die Zusammensetzung der Regierung.
In vielen großen und städtischen Kantonen sowie in der Westschweiz zeigte sich auch diesmal eine sehr niedrige Beteiligung: So gingen im Waadtland 31,6 Prozent, in Neuenburg 34 Prozent und in Genf 36,3 Prozent zur Urne, wobei in Neuenburg und Genf die SPS prozentual die stärkste Partei blieb. Als Gegenbeispiel, das die Mobilisierung der SVP demonstriert, kann dagegen Appenzell Innerrhoden in der Zentralschweiz gelten, ein kleiner, traditionell christdemokratischer Kanton, der nur einen Nationalratssitz zu vergeben hat. Vor vier Jahren nahmen dort gerade mal 17,4 Prozent an der Wahl teil, während dieses Jahr 51,5 Prozent zur Urne gingen und 25,7 Prozent von ihnen die Partei Blochers wählten.
Auch innerhalb des Kantons Zürich, wo die Spitzenpolitiker sowohl der SVP (Christoph Blocher) als auch der Sozialdemokratie (SP-Präsidentin Ursula Koch) zur Wahl standen, zeigte sich unterschiedliches Wählerverhalten: Während die SPS in der Stadt Zürich in größerem Umfang als die SVP zulegen konnte, war es auf dem Land umgekehrt. Im Ergebnis konnte die SVP im Kanton Zürich mit 32,5 Prozent ein knappes Drittel der Stimmen einheimsen, ein Resultat, das bisher nur die Sozialdemokraten im Jahr 1943 mit 35 Prozent erzielt hatten.
Die SVP (Schweizerische Volkspartei) hat sich bisher vorwiegend auf Bauern und Kleinunternehmer gestützt und blickt auf eine nationalistische und anti-sozialistische Tradition zurück. Sie ist 1971 aus der Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei (BGB) entstanden, über deren Gründung im Kanton Bern, im Jahr des Generalstreiks 1918, die SVP in ihrem heutigen Wahldossier schreibt: "Der Vormarsch der Sozialisten sowie die Überzeugung jüngerer Bauernpolitiker, der Freisinn trete zu wenig energisch gegen sozialistische, antimilitaristische und internationalistische Tendenzen ein, spielte eine nicht zu unterschätzende Rolle bei der Gründung der Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei."
Die BGB und ihre Nachfolgepartei, die SVP, spielten in der ganzen Nachkriegszeit keine besondere Rolle, solange der Staat die Spannungen zwischen den unterschiedlichen sozialen Interessen durch einen sorgfältig austarierten sozialpartnerschaftlichen Konsens unter dem Deckel halten konnte. Erst seitdem ein Teil der Bourgeoisie aus diesem Konsens ausbricht, erhält eine Partei wie Blochers SVP - ähnlich wie in Österreich Jörg Haiders FPÖ - plötzlich ihre Bedeutung.
Von den politischen Forderungen der SVP - "weniger Staat", "weniger Steuern", "weniger Ausländer", "Nein zum EU-Beitritt" - ist wohl die Ablehnung des EU-Beitritts am ehesten diejenige, durch welche sie populär wurde. Blocher, der selbst als Milliardär, Großaktionär der Alusuisse und Chemiefabrikant der Ems-Werke global agiert, polemisiert mit Vorliebe "gegen den Ausverkauf der Heimat" und stellt die EU-Kommission als "Brüsseler Vögte" hin, gegen welche die Nachkommen von Tell und Winkelried angeblich ihre Freiheit verteidigen müssten. Die Aufrechterhaltung der schweizerischen Isolation wird als Garantie gegen die Unerbittlichkeit der neoliberalen Globalisierung hingestellt, obwohl gerade die Schweiz ihren Wohlstand seit Jahrhunderten aus ihrem wirtschaftlichem Engagement in der ganzen Welt schöpft.
Während die SVP in gesellschaftlichen Fragen stockkonservativ und autoritär daherkommt, argumentiert sie in der Wirtschaftspolitik ultra-liberal. Sie richtet ihr Feuer gegen jede soziale Errungenschaft und jede staatliche Einmischung in die Leitung privater Unternehmen und fordert eine Senkung der Steuerbelastung um zehn Prozent. Während Blocher in der Öffentlichkeit gegen einen EU-Beitritt polemisiert, beteiligt sich Adolf Ogi, der SVP-Vertreter in der Regierung, selbstverständlich an der Ratifizierung der Verträge mit der EU, die den Personen- und Warenverkehr in Europa regeln und ohne die die Schweiz gar nicht weiter existieren könnte.
Die jüngste und krasseste historische Verfälschung Blochers richtet sich erneut gegen die Rückgabeforderungen jüdischer Opfer des Nationalsozialismus an die Schweizer Banken: Zwei Tage nach seinem Wahlerfolg verglich er in einem Interview mit der israelischen Tageszeitung Jediot Aharonot die Boykottdrohungen jüdischer Organisationen gegen Schweizer Banken in den Jahren 1997 und 1998 mit dem Boykott jüdischer Geschäfte durch deutsche Nationalsozialisten in den dreißiger Jahren.
Wie ist es zu erklären, dass eine derart primitive und reaktionäre Politik plötzlich politisch hoffähig geworden ist und so viele Stimmen erhält?
Zunächst einmal bedeutet ein Anteil von 22,6 Prozent bei einer Wahlbeteiligung von 43,3 Prozent rein zahlenmäßig, dass weniger als zehn Prozent der wahlberechtigten Bevölkerung diesmal Blocher gewählt haben. Die große Zahl der Nichtwähler hat es möglich gemacht, dass eine Partei, die nicht einmal jeden zehnten Wahlberechtigten mobilisieren kann, zur stärksten Fraktion geworden ist.
Außerdem wird die SVP zunehmend von Teilen der Unternehmerschaft finanziell unterstützt, was ihr erlaubt, über einen großen Apparat zu verfügen und landesweit demagogische Dauerkampagnen zu führen, wobei sie auf ihre Hilfstruppe AUNS ("Aktion für eine unabhängige und neutrale Schweiz") zählen kann. "Die siegestrunkene SVP walzte und walzt mit einer wahren Lawine von Inseraten, Flugblättern und Broschüren uns und ihre Konkurrenz nieder. Was von den anderen Parteien kam und kommt, nimmt sich dagegen aus, als sei es bloß eine Anwesenheitsbekundung," schrieb der Zürcher Tagesanzeiger am 18. Oktober 1999, eine Woche vor der Wahl.
Die SVP spricht bewusst die alte Generation, besonders die Aktivdienstteilnehmer an (das sind die Soldaten, die mit dem Schutz der Schweizer Grenzen während des zweiten Weltkriegs beauftragt waren), bei denen sie Ressentiments schürt, indem sie die Enthüllungen über die Kollaboration der Schweizer Banken mit dem Nazi-Regime als Nestbeschmutzung denunziert.
Die SVP monopolisiert das rechte Lager und profitiert vom Verschwinden mehrerer kleiner Parteien: So hat die Freiheitspartei, die frühere Autopartei, sämtliche sieben Sitze verloren. Auch die Wähler der ehemaligen Vigilance, der rechtsextremen Partei, die in den achtziger Jahren kurzfristig stärkste Partei in Genf wurde, sind von der SVP absorbiert worden. Der Landesring der Unabhängigen, die Partei Gottlieb Duttweilers, des Gründers der Migros-Supermärkte, hat sich diese Woche aufgelöst, nachdem sie nicht einmal mehr ein Prozent der Wählerstimmen erhielt und zwei ihrer drei Sitze einbüßte.
Alle diese Umstände haben zum Wahlsieg der SVP beigetragen, erklären aber nicht alles. Der entscheidende Grund dafür, dass sie soviel Unterstützung aus den unteren Mittelschichten der Gesellschaft holen konnte, liegt woanders: Es gab in diesem Wahlkampf buchstäblich keine Partei, die aufrichtig und glaubhaft für die Interessen der Arbeiterschichten und sozial Benachteiligten eingetreten wäre und auch nur die Spur einer überzeugenden Alternative zu den vorherrschenden rechten Konzepten vorgebracht hätte.
Den Kommentatoren einiger Zeitungen fiel auf, dass es kaum wirklich kontroverse Debatten gab. "Wenn Wahlkampf bedeutet, dass unterschiedliche politische Köpfe und Konzepte miteinander im Wettstreit liegen und uns spüren lassen, dass unsere und nur unsere Sache auf dem Spiele steht - dann hat kein Wahlkampf stattgefunden," schrieb der Tagesanzeiger am 18. Oktober 1999.
Gegen die Vorschläge der SVP, egal wie reaktionär oder verbohrt sie auch waren, erhob sich keine einzige ernst zu nehmende Stimme, im Gegenteil: Fast alle traditionellen Parteien versuchten, ihre Klientel dadurch bei der Stange zu halten, dass sie sich den rechten demagogischen Forderungen der SVP anpassten.
Wie wenig die Positionen der führenden Parteien inhaltlich auseinander liegen, zeigt zum Beispiel die Frage des Ausländerrechts. Hier verfolgt die SVP eine besonders reaktionäre Politik, sie polemisiert permanent gegen den "Asylmissbrauch", den ihr zufolge ca. neunzig Prozent aller Flüchtlinge betreiben, und verschärft die nationalistischen Spannungen, indem sie z.B. getrennte Schulklassen für Ausländerkinder fordert. Außerdem strebt sie an, dass das Volk über jede Einbürgerung einzeln abstimmen könne. Sie unterstützt eine "Volksinitiative für eine Regelung der Zuwanderung", die eine Begrenzung des Ausländeranteils auf 18 Prozent ins Auge fasst. Gleichzeitig besteht sie aber nachdrücklich darauf, dass in der Frage der ausländischen Arbeitskräfte, insbesondere der Saisonarbeiter (die sich immer nur für neun Monate in der Schweiz aufhalten dürfen) "den Bedürfnissen einzelner Branchen und Regionen Rechnung getragen wird".
Was nun die FDP angeht, so hat sich im Wahlkampf ihr Präsident Franz Steinegger beeilt zu erklären, in der Asylpolitik stimme seine Partei zu neunzig Prozent mit der SVP überein. Die 18-Prozent-Initiative, die ursprünglich sogar von einem freisinnigen Politiker im Aargauer Großrat stammt, wird heute nur deshalb von der FDP-Mehrheit nicht unterstützt, weil sie den Interessen der Wirtschaft zuwiderlaufe. Sogar die Forderung nach getrennten Schulklassen ist von einzelnen FDP-Politikern im Zürcher Gemeinderat unterstützt worden.
Nicht nur die FDP und die CVP, welche eine ähnlich restriktive Zulassungspolitik befürwortet, stimmen im Grunde ideologisch mit der Ausländerfeindschaft der SVP überein. Auch die Sozialdemokratie stellt ihr keine wesentlich andere Politik entgegen.
Im Thesenpapier der SPS ("Für eine menschliche Migrations- und Flüchtlingspolitik") geht auch die SPS davon aus, dass sich eine unterschiedliche Behandlung der vor Verfolgungen fliehenden politischen Flüchtlinge und der übrigen Migrantinnen und Migranten aufdränge. Die Schweiz könne sich nicht allen öffnen, die hier Geld verdienen oder sich eine neue Existenz aufbauen wollten. Sie befürwortet ein besonderes Kontingent für Arbeitskräfte aus Schwellen- und Entwicklungsländern und tritt für die Abschiebung ("Ausschaffung") straffällig gewordener Ausländer ein: Wer "dauernd mit dem Gesetz in Konflikt gerät, riskiert sein Anwesenheitsrecht" (zitiert nach Tagesanzeiger).
Erst im vergangenen Juni legte die von der Sozialdemokratin Ruth Dreifuss präsidierte Regierung der Bevölkerung ein neues, verschärftes Asylgesetz zur Abstimmung vor, das die Abschiebung von Flüchtlingen an der Grenze erleichtert. Es wurde angenommen; die Stimmbeteiligung lag bei 45 Prozent.
Auch bei Themen, für welche die Sozialdemokratie schon vor Jahrzehnten eintrat und die unmittelbar mit ihrem Namen verbunden sind, ist sie heute nicht mehr in der Lage, ihr Wählerpotential zu mobilisieren. Sogar die Einführung der längst fälligen Mutterschaftsversicherung fiel im Juni 1999 außer in der Romandie überall durch, weil niemand da war, der offensiv dafür eintrat, und infolgedessen weniger als die Hälfte der stimmberechtigten BürgerInnen an der Abstimmung teilnahmen.
Die Teilnahme der SPS an der Regierung der großen Koalition gerät auch in den eigenen Reihen zunehmend ins Kreuzfeuer der Kritik. Kurz vor der Wahl warf Pierre-Yves Maillard, ein SPS-Mitglied aus der Waadt, in seiner Partei die Frage auf: "Kann man bedingungslos an einer grossen Koalition mitmachen, die solche unsoziale Angriffe startet, die von Blocherschen Ideen initialisiert werden und von den Freisinnigen und einem Teil der CVP wiederaufgenommen werden?" (Zitiert nach Vorwärts)
Links von der SPS gibt es heute fast nur noch die stalinistische, ehemals moskauorientierte Partei der Arbeit (PDA). Die anfangs der siebziger Jahre entstandenen POCH (Progressive Organisationen der Schweiz) und PSU (Partito sozialista unitario) sind seit 1993, bzw. 1992 von der Bildfläche verschwunden.
Die PDA hat schon vor langen Jahren aufgehört, für eine sozialistische Alternative zu kämpfen. In ihrer Zeitung Vorwärts veröffentlichte sie zwei Tage vor den Wahlen folgende Sätze, die man nur als politische Bankrotterklärung werten kann.
Es geht darin um die "Demokratisierung der Wirtschaft", die die PDA, wie sie erklärt, im Prinzip als notwendig erachtet. Doch dann schreibt sie: "Wie eine solche [Demokratisierung der Wirtschaft] konkret aussehen könnte oder müsste, kann an dieser Stelle nicht besprochen werden. Der Zeitpunkt ist noch nicht reif. In einem ersten Schritt muss die Hegemonie des neoliberalen Diskurses bekämpft werden. Wir leben momentan in einer beinahe absolutistischen Gesellschaft, in der eine grundsätzliche Alternative zum existierenden Kapitalismus nicht mehr zur Debatte steht und ausser Rang und Traktanden gefallen ist." (Andreas Gschwend, Vorwärts 22. Oktober 1999) Deutlicher könnte man nicht ausdrücken, dass die PDA nicht die geringste Möglichkeit sieht, für eine Alternative zum heutigen Kurs einzutreten.
Dabei verschärfen sich ohne Zweifel auch in der Schweiz in letzter Zeit die sozialen Spannungen stärker als in all den Jahren seit dem Zweiten Weltkrieg. Seit Jahren wird ein rigider Sparkurs verfolgt, dem fast alles untergeordnet wird. Das Frauenrentenalter ist von 62 auf 64 Jahre angehoben worden, die Arbeitslosen müssen mit gekürzten Taggeldern und Bezugszeiten rechnen, den staatlichen Beschäftigten werden Lohnopfer abverlangt. Wie in jedem Land sind Fusionen, Werkschließungen und Entlassungen an der Tagesordnung. Die Regierung hat bei den großen Staatsbetrieben PTT (Post) und SBB (Bahn) seit Beginn der neunziger Jahre bereits je an die 5.000 Arbeitsplätze abgebaut und Teilprivatisierungen durchgeführt - bekanntestes Beispiel ist die Swisscom.
Zwar ist die Arbeitslosigkeit etwas zurückgegangen. Vor zwei Jahren hatte zum Beispiel die Arbeitslosigkeit in Zürich mit fast neun Prozent eine neue Höchstgrenze erreicht in einem Land, das seit den dreißiger Jahren nur äußerst geringe Arbeitslosenquoten kannte. Während auf dem Land und in abgelegenen Gebieten die Arbeitslosigkeit weiter zunimmt, sind die Zahlen in Zürich in den letzten Monaten wieder auf knapp sechs Prozent zurückgegangen. Die neu entstandenen Arbeitsplätze haben jedoch oft einen völlig veränderten Charakter.
Zum Beispiel sind, wie der Chef des Zürcher Arbeitsamts dem Tagesanzeiger erklärte, Call Centers wie Pilze aus dem Boden geschossen - eine Art Telefonzentralen, über die neuerdings Banken, Kommunikationsfirmen und Anbieter aller Art ihre Kundschaft betreuen, und in denen zu jeder Tag- und Nachtzeit gearbeitet wird. Außerdem ist im Dienstleistungssektor ein neuartiger Berufszweig entstanden: die Freelancer, die sogenannte personennahe Dienstleistungen anbieten, allerdings ohne festen Vertrag oder abgesicherte Sozialleistungen und gegen wenig Geld. Auf viele von ihnen trifft eher der Begriff moderne Tagelöhner zu, die für Dienstleistungen jeder Art angeheuert werden können.
Sehr viele Arbeiter, Angestellte, Arbeitslose wie auch Berufsanfänger machen die Erfahrung, dass ihr Alltagsleben sich immer schwieriger gestaltet, während sie auf Seiten der Politik keine Möglichkeit sehen, daran irgend etwas zu verändern. Diese Entwicklung kommentierte z.B. der Beobachter mit folgenden Worten: "In der freien Wirtschaft wird munter weiter fusioniert. Den Takt geben längst nicht mehr Politiker, sondern Wirtschaftsbosse vor. Parlament und Regierung können auf die Veränderungen höchstens noch reagieren. Zum Agieren ist das politische System deutlich zu träge."
Die Kluft zwischen den Reichen und Superreichen einerseits und denen, die wirklich ums tagtägliche Leben kämpfen müssen, hat sich erheblich vertieft, während eine Schicht in der gesellschaftlichen Mitte zunehmend um ihren Besitzstand und ihre Zukunft fürchtet. So repräsentieren auch die Wahlen nicht bloß einen Rechtsruck, sondern eine gesellschaftliche Polarisierung, die sich nur verzerrt im Wahlergebnis widerspiegelt, weil die untere soziale Klasse keine politische Vertretung hat. Diese Situation kann sich nur ändern, wenn auf seiten der Arbeiter eine politische Alternative aufgebaut wird, die sich an der internationalen Arbeiterklasse und den historischen Lehren dieses Jahrhunderts orientiert und dies zur Grundlage der Politik macht.