80. Die deutsche Katastrophe veranlasste Trotzki, seine Haltung gegenüber der KPD zu verändern. Er trat nicht mehr für ihre Reform, sondern für den Aufbau einer neuen Partei ein. Vor 1933 hatte sich der Schlüssel zur Lage in Händen der KPD befunden. „Hätte man sich unter diesen Umständen gegen die KPD gestellt und sie von vornherein für tot erklärt, so hätte man damit die Unvermeidlichkeit des Sieges des Faschismus proklamiert“, erklärte Trotzki. „Dazu konnten wir uns nicht verstehen. Man musste die Möglichkeiten der damaligen Situation gründlich ausschöpfen.“ Doch mit dem Sieg des Faschismus habe sich die Lage von Grund auf verändert. „Es handelt sich schon nicht mehr um eine Prognose oder um theoretische Kritik, sondern um ein bedeutendes historisches Ereignis, das sich immer tiefer dem Bewusstsein der Massen und damit der Kommunisten einprägen wird. Auf den unvermeidlichen Folgen dieses Ereignisses müssen wir die Gesamtperspektive und -strategie aufbauen, nicht auf irgendwelchen zweitrangigen Erwägungen.“ [43] Auf den Einwand, die KPD sei nach wie vor weitaus stärker als die Linke Opposition, antwortete Trotzki, die Herausbildung eines Kaders sei „nicht eine bloße organisatorische, sondern eine politische Aufgabe: Kader formieren sich auf Grund einer bestimmten Perspektive. Die Losung der Reform der Partei aufzuwärmen heißt: bewusst ein utopisches Ziel zu stecken und dadurch unsere eigenen Kader neuen und immer schärferen Enttäuschungen entgegenzustoßen. Bei einem solchen Kurs würde sich die Linke Opposition nur als ein Anhängsel der sich zersetzenden Partei erweisen und gemeinsam mit ihr von der Szene abtreten.“ [44]
81. Trotzki übertrug diese Schlussfolgerung nicht sofort auf die Kommunistische Internationale und die KPdSU. Er wartete ab, ob sie auf die deutsche Katastrophe reagieren und Lehren daraus ziehen würden. Das war nicht der Fall. Die Moskauer Führung verteidigte die Politik der KPD und verbot jede Diskussion darüber. In keiner einzigen Kommunistischen Partei erhob sich Widerspruch. „Eine Organisation, die der Donner des Faschismus nicht geweckt hat und die demütig derartige Entgleisungen von Seiten der Bürokratie unterstützt, zeigt dadurch, dass sie tot ist und nichts sie wieder beleben wird“, schloss Trotzki. „In unserer gesamten zukünftigen Arbeit müssen wir von dem historischen Zusammenbruch der offiziellen Kommunistischen Internationale ausgehen.“ Auch die Verteidigung der Sowjetunion sei jetzt vom Aufbau einer neuen Internationale abhängig, betonte er: „Allein die Schaffung einer marxistischen Internationale, die völlig unabhängig von der stalinistischen Bürokratie und ihr politisch entgegengesetzt ist, kann die UdSSR vor dem Zusammenbruch retten, indem sie ihr weiteres Schicksal mit dem Schicksal der proletarischen Weltrevolution verbindet.“ [45]
82. Zwei Jahre nach Hitlers Machtübernahme vollzog die Kommunistische Internationale einen scharfen Schwenk nach rechts. Ohne ihre Fehler in Deutschland jemals einzugestehen, ging sie von der Ablehnung der Einheitsfront zur Unterstützung der Volksfront über. Hatte sie bisher jede Zusammenarbeit mit reformistischen Arbeiterparteien abgelehnt, so befürwortete sie nun Bündnisse mit rein bürgerlichen Parteien im Namen des Kampfs gegen den Faschismus. Die stalinistische Bürokratie trennte damit das Schicksal der Sowjetunion vollständig vom internationalen Klassenkampf. Sie setzte jetzt auf die Unterstützung verbündeter bürgerlicher Regierungen und wies die jeweiligen Kommunistischen Parteien an, revolutionäre Kämpfe gegen ihre neuen Bündnispartner zu unterdrücken. Sie fürchtete, erfolgreiche Erhebungen der europäischen Arbeiterklasse könnten den sowjetischen Arbeitern neuen Mut geben und ihre eigene Herrschaft gefährden. 1943 löste sie die Kommunistische Internationale auf.
83. Mit dem Übergang zur Volksfront nahm die Politik der Kommunistischen Parteien einen offen konterrevolutionären Charakter an. Um die bürgerlichen Volksfrontpartner nicht abzuschrecken, unterdrückte sie alle revolutionären Bestrebungen der Arbeiterklasse. In Frankreich erstickte die Volksfront zwischen 1936 und 1938 eine mächtige revolutionäre Offensive und sicherte das politische Überleben der Bourgeoisie, die bald danach zu offenen Repressionsmaßnahmen und – unter dem Vichy-Regime – zur Kollaboration mit den Nazis überging. In Spanien erstickte die Volksfront jede selbständige politische Initiative der Arbeiter und Bauern. Während Francos Truppen die Republik bedrohten, jagte der stalinistische Geheimdienst GPU hinter den Fronten revolutionäre Arbeiter, nahm Tausende gefangen, folterte und ermordete sie. Zu seinen zahlreichen Opfern gehörten auch der Führer der zentristischen POUM, Andres Nin, Trotzkis Sekretär Erwin Wolf und der österreichische Sozialist Kurt Landau. Die konterrevolutionäre Politik Stalins verhalf Franco schließlich zum Sieg.
84. Stalins konterrevolutionärer Kurs gipfelte im Großen Terror der Jahre 1937 und 1938. In einem präventiven Bürgerkrieg ließ er alle liquidieren, die zum Kristallisierungspunkt für die Opposition der Arbeiterklasse hätten werden können. Praktisch die gesamte Führung der Oktoberrevolution, die Mitglieder der Linken Opposition, herausragende Intellektuelle und Künstler, fähige Ingenieure sowie die Führung der Roten Armee wurden in öffentlichen Schauprozessen oder in Geheimverfahren zum Tode verurteilt und durch Genickschuss hingerichtet. Es gibt keinen anderen vergleichbaren politischen Völkermord in der Geschichte. Fast eine Million Menschen verloren im Großen Terror das Leben. Stalins Regime hat mehr Kommunisten auf dem Gewissen, als das Hitlers und das Mussolinis zusammengenommen. Die sowjetische Arbeiterklasse hat sich von diesem Schlag politisch bis heute nicht erholt.
Leo Trotzki, KPD oder neue Partei?, in: Schriften über Deutschland, S. 514
Leo Trotzki, Der Zusammenbruch der deutschen Kommunistischen Partei und die Aufgaben der Opposition, in: ebd., S. 526
Leo Trotzki, Man muss von neuem kommunistische Parteien und eine Internationale aufbauen, in: Porträt des Nationalsozialismus, S. 312, 317